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Palliativmedizin: Wie wollen wir sterben?

Der Tod ist ein Tabuthema. Dabei kennt die moderne Medizin Mittel und Wege, ihn erträglich zu machen. Und die Bedürfnisse des Einzelnen am Lebensende zu erfüllen.
Mann mit Hund guckt nachdenklich aus dem Fenster

Fast eine Million Menschen starben im Jahr 2019 in Deutschland. Dennoch spielt die eigene Vergänglichkeit in unserem Alltag in der Regel kaum eine Rolle – es sei denn, wir werden unsanft damit konfrontiert, wie zuletzt zu Beginn der Coronakrise, als die Sterbefallzahlen vorübergehend ungewöhnlich erhöht waren. Das Lebensende bleibt ein Tabuthema, obwohl mehr als jeder Zweite findet, dass sich die Gesellschaft zu wenig mit Sterben und Tod befasst. Das ergab eine Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands aus dem Jahr 2017. Die Befragung offenbart zudem Wissenslücken: Rund ein Viertel kannte den Begriff »palliativ« nicht. Von den übrigen Befragten konnte ihn nur die Hälfte richtig zuordnen.

Die Palliativmedizin betreut Menschen mit einer fortschreitenden Erkrankung bis zu ihrem Tod und will ihre Lebensqualität bestmöglich erhalten. Was der Einzelne dafür benötigt, ist unterschiedlich. Um die persönlichen Bedürfnisse kennen zu lernen, führen Palliativmediziner mit ihren Patienten intensive Gespräche. Oft geht es dabei um Ängste – vor dem Tod, aber besonders vor dem Sterbeprozess, vor dem Verlust von Selbstbestimmung und Kontrolle, vor Hilflosigkeit und schambesetzten Situationen, vor unerträglichen Schmerzen.

»Viele Laien meinen, der Tod muss leidvoll sein. Das ist falsch«, sagt Sven Gottschling, Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Palliativmediziner haben sich darauf spezialisiert, Symptome wie Schmerzen, Luftnot und Übelkeit zu lindern, die häufig mit schweren Erkrankungen einhergehen. »Bei über 90 Prozent der Patienten gelingt es uns, Beschwerden, zum Beispiel Schmerzen, gut zu kontrollieren«, berichtet Sven Gottschling.

»Den Satz ›Wir können nichts mehr für Sie tun‹ gibt es in der Palliativmedizin nicht. Wenn andere Fachdisziplinen an ihre Grenzen stoßen, geht es bei uns erst richtig los«
Sven Gottschling, Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes

Auf diese Weise könnte auch das Gefühl von Würde gestärkt werden, ergab eine Übersichtsarbeit an der Internationalen Universität von Katalonien in Barcelona. Die Autoren fanden in mehreren Studien Hinweise darauf, dass vor allem eine fehlende Schmerzkontrolle sowie die schädlichen Nebenwirkungen bestimmter Therapien und eine kognitive Beeinträchtigung durch Medikamente mit einem »würdelosen Tod« gleichgesetzt werden.

»Den Satz ›Wir können nichts mehr für Sie tun‹ gibt es in der Palliativmedizin nicht«, sagt Sven Gottschling. »Wenn andere Fachdisziplinen an ihre Grenzen stoßen, geht es bei uns erst richtig los.« Neben der medizinischen Betreuung macht es ihm zufolge bereits einen großen Unterschied, den Sterbenden »Kleinigkeiten« zu ermöglichen: einen letzten Ausflug zu planen, ein Lieblingsgetränk zu genießen, ein Licht gegen die Angst anzulassen. Seiner Erfahrung nach gehört zu einem guten Sterben für die meisten Menschen zudem, in den letzten Stunden nicht allein zu sein. Und das Gefühl, wichtige Anliegen geregelt oder mit den Vertrauten geklärt zu haben, um beruhigt aus dem Leben scheiden zu können.

Themenwoche: Leben mit dem Tod

Mit der Corona-Pandemie ist der Tod näher an den Alltag herangerückt. Wie gehen wir damit um? Die folgenden Beiträge sollen Mut machen: sich auf das eigene Ende vorzubereiten, für Sterbende da zu sein und nach einem plötzlichen Verlust weiterzuleben.

Auch ein aktuelles Forschungsprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität München geht der Frage nach, was Menschen für ein »gutes Sterben« halten. Wissenschaftler der Lehrstühle für Soziologie und Moraltheologie haben dafür seit 2017 zahlreiche Interviews mit Sterbenden sowie Beschäftigten in Pflege, Medizin, psychosozialer Betreuung und Seelsorge durchgeführt. Der Soziologe und Koprojektleiter Armin Nassehi, der seit 35 Jahren zu Tod und Sterben forscht, berichtet: »Hinter einem ›guten Sterben‹ steckt die normative Idee, dass Menschen sich mit ihrem Leben auseinandersetzen, Bilanz ziehen und aktiv Abschied nehmen. Dass sie also bewusst sterben, das Lebensende möglichst sogar positiv annehmen und darüber kommunizieren können.« Doch das entspreche nicht immer dem Wunsch der Sterbenden; manche verweigerten sich diesem Modell.

Besonders für Pflegende und Ärzte, die in der Palliativmedizin oder Sterbebegleitung arbeiteten, könne das eine schwierige Situation sein. »Ist es nicht gelungen, mit einem Sterbenden eine Gesamtbilanz zu ziehen, wird das von ihnen teilweise sogar als ›gescheitertes Sterben‹ empfunden.« Dabei entwickle der Sterbeprozess oft eine Eigendynamik, die schwer zu steuern und zu gestalten sei. Menschen, die beruflich mit dem Tod zu tun haben, könnte es entlasten, die von der öffentlichen Diskussion stark vorgegebenen Vorstellungen von einem »guten« Lebensende zu hinterfragen.

Menschen scheinen gleich mehrfach von einer palliativmedizinischen Betreuung zu profitieren. Für eine Untersuchung teilten US-Wissenschaftler Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs per Zufall in zwei Gruppen ein. Die erste Gruppe erhielt eine Krebstherapie, die zweite Gruppe wurde zusätzlich palliativ betreut. Jene Teilnehmer mit Palliativversorgung berichteten zwölf Wochen später über eine höhere Lebensqualität und bessere Stimmung als die Vergleichsgruppe. Außerdem lebten sie durchschnittlich drei Monate länger (11,6 statt 8,9 Monate) – obwohl sie in den letzten zwei Wochen vor ihrem Tod seltener einer Chemotherapie zustimmten.

»Die allermeisten Ärzte haben nur ein rudimentäres Wissen über Schmerz- und Symptomkontrolle«
Sven Gottschling

Die Nebenwirkungen mancher Behandlungsformen können den Nutzen am Lebensende übersteigen. Nicht selten werden sie dennoch bis zuletzt durchgeführt, ergab bereits 2008 eine Befragung von Eltern krebskranker Kinder aus Nordrhein-Westfalen. Die Hälfte der Kinder, die an der fortschreitenden Erkrankung verstorben waren, hatten am Ende ihres Lebens noch eine Krebstherapie erhalten, was die Eltern im Nachhinein negativ beurteilten.

Auch ältere Patienten können unter überflüssigen Behandlungen leiden: In Deutschland stieg die Zahl derjenigen, die kurz vor ihrem Tod noch intensivmedizinisch behandelt wurden, zwischen 2007 und 2015 deutlich an, insbesondere bei den über 65-Jährigen. »Es ist unklar, ob diese Intensität der Versorgung angemessen und den Patientenwünschen entsprechend ist«, merken die Autoren der Studie an.

Vorsorge mit Vollmacht und Verfügungen

Ein Unfall, eine Krankheit oder auch das Alter können die Fähigkeit einschränken, selbst über das eigene Schicksal zu bestimmen. Wer volljährig ist, kann für solche Fälle schriftlich vorsorgen. Eine Patientenverfügung legt fest, welche medizinischen Maßnahmen man durchführen lassen möchte, wenn man darüber nicht mehr selbst entscheiden kann. Ärzte und Angehörige sind dann an diese Verfügung gebunden. Beim Verfassen sollte man sich von einer fachkundigen Person, etwa einem Arzt oder einer Ärztin, beraten lassen. Eine Vorsorgevollmacht ermächtigt jemanden dazu, in gesundheitlichen Fragen für die eigene Person zu entscheiden; und eine Betreuungsverfügung bestimmt, wer als betreuende Person bestellt werden soll. Beides gilt für den Fall, dass man selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Musterformulare gibt es zum kostenlosen Download unter anderem beim Bundesgesundheitsministerium und bei der Bundesärztekammer. Die Dokumente kann man bei der Bundesnotarkammer registrieren lassen und bekommt dann eine Scheckkarte, die auf die Verfügungen verweist und die man für den Notfall immer bei sich tragen kann.

»Je früher die Palliativversorgung zugeschaltet wird, desto eher können wir belastende Therapien reduzieren, die vielleicht nichts mehr bringen«, sagt auch Sven Gottschling. Er vertritt ein junges Fach: 1983 wurde die erste Palliativstation in Deutschland eröffnet. »Die allermeisten Ärzte haben nur ein rudimentäres Wissen über Schmerz- und Symptomkontrolle«, meint er. Doch seit 2014 wird Palliativmedizin im Medizinstudium gelehrt, seit 2016 auch Schmerzmedizin. Heute gibt es deutschlandweit bereits etwa 330 Palliativstationen in Krankenhäusern. Daneben bestehen rund 230 stationäre Hospize für Erwachsene und 17 Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, in denen Schwerkranke und Sterbende außerhalb des Krankenhauses gepflegt werden und oft gemeinsam mit ihren Angehörigen wohnen können.

Der Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands zufolge wollen nur vier Prozent ihre letzten Stunden im Krankenhaus verbringen. 58 Prozent möchten dagegen zu Hause sterben. Laut einem Faktencheck der Bertelsmann Stiftung befürworten dies sogar mehr als drei Viertel. Wunsch und Realität klaffen jedoch weit auseinander: Nur jeder Fünfte stirbt in den eigenen vier Wänden, fast die Hälfte dagegen im Krankenhaus.


Damit mehr Menschen bis zuletzt zu Hause leben können, steht Sterbenskranken seit 2007 eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) zu. Dafür macht ein Ärzte- und Pflegeteam regelmäßig Hausbesuche und ist im Notfall rund um die Uhr erreichbar. Allerdings ist diese Art der Betreuung zu Hause vor allem für Kinder noch nicht in allen Regionen gewährleistet.

Die Universität Augsburg hat zwischen 2010 und 2013 zwei Studien zur Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung in Bayern durchgeführt. Sie ergaben, dass dabei nur selten ein Notarzteinsatz oder eine Einweisung der Sterbenden in ein Krankenhaus nötig wurde. 84 Prozent der betreuten Patienten, die mit Angehörigen lebten, starben tatsächlich daheim. Bei den Alleinlebenden waren es 62 Prozent. Daneben unterstützen rund 1500 ambulante Hospizdienste mit ehrenamtlichen Helfern Sterbende und ihre Familien im häuslichen Umfeld.

In den vergangenen 20 Jahren habe sich sehr viel in Deutschland getan, sagt Sven Gottschling. Es gebe aber noch viel zu wenig Palliativ- und Hospizplätze. Obwohl nach Aussage der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin bis zu 90 Prozent aller Menschen am Lebensende eine palliativmedizinische Versorgung benötigen, erhielten sie 2014 nur knapp 30 Prozent, ergab der Faktencheck der Bertelsmann Stiftung. Außerdem bestanden 2014 erhebliche regionale Unterschiede: In einigen Landkreisen starb nur ein Drittel der Bewohner im Krankenhaus, in anderen fast 60 Prozent. Während in Berlin pro einer Million Einwohner 56 Betten in Hospizen zur Verfügung standen, waren es in Bayern bloß zwölf. In gut einem Viertel aller Land- und Stadtkreise waren weder stationäre Hospize oder Palliativstationen noch besondere Einrichtungen für die ambulante Palliativversorgung vorhanden.

»Zu viele Menschen sterben nicht so, wie sie es sich wünschen«, resümiert Sven Gottschling. Er hat mehrere Bücher verfasst, um über sein Fachgebiet aufzuklären. In »Leben bis zuletzt« schreibt er: »Der Tod ist nichts Schreckliches. Die fürchterliche Vorstellung vom Tod macht ihn erst furchtbar.« Er versuche »jeden Tag aufs Neue zu vermitteln, dass der Tod etwas Natürliches ist und dass man lernen kann, ihn zu akzeptieren«.

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333.

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