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Pandemie-Verlauf: »Das Virus trifft weiterhin Jüngere ohne Vorerkrankungen«

Die sinkenden Corona-Fallzahlen seien ermutigend, sagt Divi-Präsident Gernot Marx im Interview. Doch die Lage bleibe angespannt. Was helfe, sei die Disziplin der Bevölkerung. »Sie ist auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie sehr hoch.«
Johanna Hinrichsen (l), Fachkrankenschwester für Intensivpflege am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Steffen Ochs, Teamleiter Pflege, stehen am Bett eines am Coronavirus erkrankten Patienten.

Noch im vergangenen Herbst galten 200 Tote pro Tag als Schreckensvorstellung. Heute gelten sie als bloßes Nachspiel der Pandemie, während sich viele Menschen schon über die Lockerungen freuen. Vom baldigen Ende der Pandemie kann global jedoch keine Rede sein – und auch in Deutschland ist die Gefahr nicht gebannt. Wir sprachen über die Lage und die anhaltend hohe Zahl von Toten in Deutschland mit Gernot Marx, dem Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (Divi).

»RiffReporter«: Viele Menschen freuen sich, dass sie zumindest im Außenbereich von Gaststätten wieder bedient werden. Die Inzidenzen sinken seit Ende April, die Zahl der Geimpften steigt. Die Zeichen stehen auf Lockerung, Öffnung. Und doch sterben seit März bis in die letzten Tage hinein jeden Tag in Deutschland um die 200 Menschen an Covid-19. Wie passt das zusammen?

Gernot Marx: Ja, diese hohe Zahl an Toten lässt einen erstmal still werden. Dahinter stecken schlimme Schicksale.

Gernot Marx | Gernot Marx ist Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen und Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (Divi).

Wie kommt es, dass die Zahl der Toten nicht schon stärker zurückgeht?

Die Erklärung dafür, dass weiter so viele Menschen sterben, ist relativ einfach: Es gibt eine Verzögerung von vier bis sechs Wochen zwischen einer sinkenden Inzidenz und einem Rückgang der Zahl der Toten. Die Inzidenz sinkt erst seit zwei, drei Wochen deutlich.

Wie ist aktuell der typische Verlauf von Erkrankung bis zum drohenden Tod?

Bei den meisten Menschen, die anschließend auf eine Intensivstation kommen, werden die Symptome sieben bis neun Tage nach Erkrankungsbeginn so schlimm, dass sie ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Drei bis vier Tage später steht dann die Verlegung auf die Intensivstation an. Von diesen Menschen müssen 50 bis 60 Prozent künstlich beatmet werden. Und von diesen Menschen stirbt leider nach wie vor jeder Zweite.

»Die Impfung hatte generell einen sehr positiven Effekt«

Es gab die Hoffnung, dass sich daran etwas ändern würde, wenn die ältesten Menschen in Deutschland geimpft sind.

Und die Impfung hatte generell auch einen sehr positiven Effekt. Die Zahl der Hochbetagten, die schwer erkranken, ist deutlich gesunken, auch die Zahl der Covid-Kranken auf Intensivstationen geht ja zurück. Doch es haben sich dann deutlich mehr jüngere Menschen angesteckt.

Woran liegt das?

Vor allem an der britischen Mutante B1.1.7. Wenn sich früher jemand aus einer Familie angesteckt hatte, erkrankte meist nur noch ein weiteres Familienmitglied. Weil die Mutante so viel ansteckender ist, sind jetzt aber in kürzester Zeit oftmals alle positiv. Es gab also zuletzt in den Familien mehr Infizierte.

Müssten diese jüngeren Erkrankten nicht eigentlich widerstandsfähiger sein?

Das sind sie auch. Aber wenn sich das Virus entsprechend im Körper ausgebreitet und Schäden verursacht hat und es dann in Richtung Lungenversagen geht, dann ist das einfach ein maximal schweres Krankheitsgeschehen. Es trifft weiterhin auch Jüngere ohne Vorerkrankungen. Und wir behandeln eben weiter hauptsächlich symptomatisch.

Es gibt dank der intensiven Forschung der letzten Monate zwar einen Impfstoff, aber immer noch keine effektiven Medikamente?

Leider, ja. Es kommt jetzt zwar neuerdings ein Antikörper gegen das Interleukin-6 zum Einsatz, um einer überschießenden Immunantwort entgegenzuwirken, aber über dessen Wirksamkeit wird noch diskutiert. Wenn Sie eine Lungenentzündung haben mit einem Staphylokokkus aureus, dann bekommen Sie spezifische Antibiotika, die genau diesen Keim abtöten. So ein Medikament haben wir bei Sars-CoV-2 weiterhin nicht. Dieses Virus ist einfach extrem gefährlich und im Vergleich besonders lebensbedrohlich.

»Über die vielen Toten wird kaum noch gesprochen, die Vorfreude auf Öffnungen und Lockerungen steht im Vordergrund«

Sie sind als Intensivmediziner also immer noch an der Grenze dessen, was Sie tun können?

Ja, und weil das Virus trotz Impfung unter uns bleiben wird, braucht es jetzt intensive Forschung, um auch Medikamente einsetzen zu können.

In Politik, Medien und Gesellschaft wird über die vielen Toten, die es bis jetzt täglich gibt, kaum noch gesprochen, die Vorfreude auf Öffnungen und Lockerungen steht im Vordergrund, es wird Wahlkampf mit dem Sommerurlaub gemacht. Wie nehmen Sie diesen Kontrast wahr?

Der Wunsch nach einer neuen Normalität ist bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Intensivmedizin genauso vorhanden wie bei allen Bürgerinnen und Bürgern. Aber wir erleben eben auch den anderen Teil der Wirklichkeit. Bei uns auf den Intensivstationen ist die Situation nach wie vor sehr angespannt, wir behandeln sehr viele sehr stark leidende Covid-19-Erkrankte.

Und die Anspannung wird anhalten. Wenn jetzt die Zahl der Covid-Patientinnen und -Patienten sinkt, werden die Operationen nachgeholt, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten aufschieben mussten. Bei uns ist der Druck nach wie vor sehr hoch, wir arbeiten weiterhin am Limit – und das auch noch in den nächsten Wochen und Monaten.

Wie viel Hoffnung machen Ihnen die sinkenden Inzidenzen?

Die Richtung stimmt, das Impfen wirkt und ganz offenbar ist die Disziplin der Menschen im Umgang mit den Regeln auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie sehr hoch. Das ist schon sehr ermutigend.

Die positive Stimmung mag verständlich sein. Aber wenn man die rund 200 Toten, die es bei uns seit März täglich gab, auf die Bevölkerungsgröße Indiens hochrechnet, kommt man zu ähnlichen Zahlen, wie sie dort offiziell registriert werden. Dort herrscht Katastrophenstimmung, bei uns entspannte Vorfreude. Wie passt das zusammen?

Die Menschen schauen auf die sinkenden Zahlen und darauf, dass alles in die richtige Richtung geht. Wichtig ist aber, dass wir diese Entwicklung nicht leichtfertig verspielen, dass wir nach wie vor Maske tragen, Abstand halten, Hygieneregeln einhalten, vorsichtig bleiben. Entscheidend ist, dass es mit dem Impfen weitergeht.

»Die Disziplin der Menschen ist auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie sehr hoch«

In den USA gingen die Impfzahlen zuletzt zurück, beunruhigt sie das?

Ich hoffe, das bleibt uns erspart und ich nehme bei uns zum Glück keinen solchen Trend wahr. Die übergroße Mehrheit will sich impfen lassen, die Nachfrage ist groß. Und die Menschen wägen ganz richtig ab, dass das Risiko einer Nebenwirkung viel kleiner ist als das Risiko einer Erkrankung. Es gibt ja inzwischen wahrscheinlich kaum noch jemanden, der nicht jemanden kennt, der schwer an Covid erkrankt oder daran verstorben ist. Mehr als 87 000 Tote allein in Deutschland, das ist eine riesige Zahl.

Es ist jetzt immer öfter die Formulierung zu hören, die Pandemie sei bald vorbei. Wie nehmen Sie das wahr?

Das müssen eher Epidemiologen beantworten als ich als Intensivmediziner. Es kommt jetzt wirklich bei uns und weltweit darauf an, dass sich die Menschen möglichst diszipliniert verhalten und dass bei uns die Feierlaune nicht mit uns durchgeht. Wenn wir es schaffen, dass bis Ende des Sommers alle, die es wollen, geimpft sind, dann sind zumindest wir in Deutschland schon einen riesigen Schritt aus der Pandemie herausgegangen. Auch bei uns wird es dann das Virus und Covid noch geben, aber nicht mehr im Sinn einer Pandemie, sondern eher als Erkrankung.

Wenn im Sommer die große Reiselust ausbricht, könnten dann nicht auch gefährliche Mutationen munter mitreisen?

Nicht umsonst gibt es die Aufforderung, auch beim Reisen weiter vorsichtig zu sein. Konsequentes Maskentragen und alles, was dazugehört, bleibt auch im Sommer wichtig.

Wann rechnen Sie mit einem merklichen Rückgang der Zahl der Toten bei uns?

Es wird noch eine gewisse Zeit dauern. Der starke Rückgang der Inzidenz begann Ende April, da muss man sechs Wochen hinzurechnen. Aber im Lauf der ersten Junihälfte sollte das spürbar werden.

Herr Marx, herzlichen Dank für das Gespräch.

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