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Pandemiefolgen: Werden andere Infektionen wirklich seltener?

Viele Infektionskrankheiten sind während der Pandemie zurückgegangen. Doch ausgerechnet die gefährlichsten Seuchen könnten wegen Covid-19 hunderttausende Menschen mehr töten.
Eine Frau mit den üblichen Erkältungsutensilien: Decke, Tee, Taschentücher, Fieberthermometer.

Während Covid-19 weltweit grassiert, haben es andere Infektionen schwer. Prominentester Fall ist die Influenza: Im Frühjahr 2020 kam die Grippewelle abrupt zum Erliegen, in diesem Winter kommt sie nicht einmal mehr in Schwung. Knapp 30 laborbestätigte Grippefälle pro Woche vermeldet das Robert Koch-Institut (RKI) Ende Dezember, um den Jahreswechsel 2019/2020 waren es noch mehr als 1000. Auch andere Infektionskrankheiten wie Scharlach und Masern schwächeln, wie die Daten des Instituts zeigen.

»Die meldepflichtigen Infektionskrankheiten sind seit Beginn der Pandemie eindeutig zurückgegangen«, sagt Sonia Boender vom Fachgebiet Surveillance am RKI. Die wahrscheinliche Ursache: Masken, Kontaktbeschränkungen und andere Maßnahmen gegen das Coronavirus wirken – nicht unerwartet – auch gegen andere Erreger.

Nicht nur in Deutschland, weltweit berichten Fachleute von einem Rückgang der Infektionskrankheiten. Doch der zeige sich nicht bei allen Krankheiten gleichermaßen, erklärt die Epidemiologin, es gebe auch Ausnahmen. »Woran das im Einzelnen liegt, kommt aber auf den jeweiligen Erreger an«, erklärt Boender.

Harte Zeiten für Infektionen

Vielerorts ist daher, wie zum Beispiel in Korea, ein Muster erkennbar: Am stärksten betroffen scheinen diejenigen Infektionen zu sein, die über Tröpfchen und Aerosole verbreitet werden. Weitgehend in der Versenkung verschwunden sind neben Influenza auch Pneumokokken, die schwere Lungenentzündungen verursachen, ebenso die meisten Erkältungsviren. Masern und Mumps kommen derzeit ebenso deutlich seltener vor, sei es in Deutschland oder dem Rest der Welt.

»Die meldepflichtigen Infektionskrankheiten sind seit Beginn der Pandemie eindeutig zurückgegangen«Sonia Boender

Andere Viren fahren dagegen besser. Zum Beispiel Rhinoviren, die ebenfalls Erkältungen verursachen. Während zum Beispiel die Grippe vom Sentinel-System des RKI, bei dem Arztpraxen stichprobenartig Patientinnen und Patienten mit grippeähnlichen Symptomen auf verschiedene Viren testen lassen, während der letzten fünf Wochen des Jahres 2020 kein einziges Mal erfasst wurde, steckten Rhinoviren in gut einem Viertel der Proben. Das ist ziemlich der gleiche Anteil wie jedes Jahr.

Der Grund ist mutmaßlich eine Besonderheit des Erregers: Anders als Coronaviren oder Influenza haben Rhinoviren keine empfindliche Membranhülle, sondern eine stabile Proteinschale. Das macht sie sehr widerstandsfähig und hochansteckend, so dass sie auch über Oberflächen effektiv übertragen werden. Dass diese Viren den Lockdown so gut überstehen, zeigt: Nicht alle Menschen waschen sich so regelmäßig die Hände, wie es sinnvoll wäre.

Allerdings warnen Fachleute davor, die Zahlen überzuinterpretieren. Die Meldedaten sind nur bedingt mit denen der letzten Jahre vergleichbar, denn die Pandemie zwingt dem Gesundheitssystem andere Prioritäten und Abläufe auf, und das betrifft auch die Überwachung von Infektionskrankheiten.

Verzerrte Meldezahlen durch die Pandemie

»Wir sehen, dass insgesamt weniger Menschen zum Arzt gehen«, sagt Boender. Warum, ist jedoch unklar. Vielleicht bleiben sie aus Angst vor Ansteckung mit Sars-CoV-2 zu Hause. Das würde bedeuten, dass auch mehr meldepflichtige Erkrankungen im Verborgenen bleiben – und der Rückgang bei den Infektionskrankheiten womöglich geringer ist, als er scheint. Vielleicht gingen aber auch schlicht deshalb weniger Leute zum Arzt, weil weniger Menschen krank sind, sagt die Forscherin.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Denn einiges spricht dafür, dass der Rückgang real ist. So bezogen Hong-Hsi Lee und Sheng-Hsuan Lin von der New York University in einer Veröffentlichung über gesunkene Fallzahlen bei fünf Infektionskrankheiten in Taiwan die selteneren Arztbesuche in ihre Analyse mit ein. Das Ergebnis: Auch mit der Korrektur zeichneten sich die Auswirkungen der Anti-Corona-Maßnahmen in den Fallzahlen von Grippe, Scharlach, Enteroviren und bakterieller Lungenentzündung ab.

Sogar Kinder, die nur sehr selten schwer an Covid-19 erkranken, profitieren wohl gesundheitlich von dem Effekt, wie eine japanische Studie aus dem Frühjahr 2020 andeutet. Die Arbeitsgruppe untersuchte Kinder unter 15 Jahren, die wegen akuter Infektionen stationär ins Krankenhaus mussten – worauf man weniger bereitwillig verzichtet als auf Arztbesuche. Dabei zeigte sich, dass die Zahl der Atemwegs- und Magen-Darm-Infekte deutlich zurückgegangen war. Dass das auch ohne Schulschließungen geht, belegt eine Studie in Australien, in der Influenza bei Kindern dank anderer Maßnahmen um 98 Prozent zurückging.

Während manches darauf hindeutet, dass bestimmte Infektionskrankheiten durch die Corona-Maßnahmen deutlich seltener werden – und damit viel weniger Menschen schwer krank machen und töten –, ist das bei anderen Krankheiten noch unklar. So zum Beispiel bei HIV und Tuberkulose, bei denen die Krankheit erst Monate oder gar Jahre nach der Infektion ausbrechen kann.

Geschlechtskrankheiten: Eine unsichtbare Welle?

HIV ist außerdem das Beispiel einer Krankheit, deren Überwachung in Pandemiezeiten deutlich schwerer fällt. Bei sexuell übertragbaren Infektionen allgemein haben Menschen oft besondere Hemmungen oder schlicht zu wenig Problembewusstsein, um medizinische Hilfe zu suchen – so sehr, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) seit 2016 in einer eigenen Kampagne Tests bewirbt, mit denen man diese Infektionen erkennen kann.

»Es gibt nicht nur Covid-19«Sonia Boender

Deswegen sei der Effekt der Pandemie auf Tripper, Chlamydien und andere Geschlechtskrankheiten besonders ungewiss, erklärt Boender. Man sehe zwar auch hier einen Rückgang der Zahlen. Aber es seien eben genauso die Checkpoints und Arztpraxen geschlossen gewesen, in denen man sich testen lassen kann. Das Fazit der Forscherin: »Im Grunde ist es noch zu früh, um das einschätzen zu können.«

Dass während der Pandemie viel weniger auf Geschlechtskrankheiten getestet wird, hat womöglich gravierendere Konsequenzen als die Unsicherheit über die Infektionszahlen. Besonders zu Beginn der Coronavirus-Maßnahmen im Frühjahr hofften Fachleute noch, die geringeren Sozialkontakte könnten auch den globalen Aufwärtstrend bei den sexuell übertragbaren Krankheiten brechen. Doch inzwischen hat sich die Stimmung gedreht: Nun überwiegt die Sorge, dass sich infolge der Pandemie sogar mehr Menschen mit solchen Erregern infizieren, wenn ein größerer Anteil der Betroffenen von der eigenen Erkrankung nichts weiß.

Folgen, die Jahrzehnte anhalten

Am schwersten aber wiegen die Folgen wohl bei jenen Infektionskrankheiten, die vor allem in ärmeren Regionen sehr weit verbreitet sind. Besonders von der Pandemie profitieren könnte eine der tödlichsten Seuchen in der Geschichte der Menschheit: Malaria. Eine Arbeitsgruppe um Peter Gething vom Perth Children's Hospital in Australien berechnete in »Lancet«, die Einschränkungen durch die Pandemie könnten schlimmstenfalls die Zahl der Malariatoten in Afrika im Jahr 2020 verdoppelt haben – und sogar noch schlimmere Anstiege in den nächsten Jahren nach sich ziehen. Zu einem ähnlich düsteren Ergebnis kommt eine Arbeitsgruppe um Ellie Sherrard-Smith vom Imperial College in London.

Auch bei einer anderen globalen Seuche sehen Fachleute die Zukunft nach Covid-19 düster. Laut einem aktuellen Bericht des Programms der Vereinten Nationen gegen HIV und Aids drohen allein durch die Effekte der Pandemie bis zu 150 000 zusätzliche Tote durch die Immunschwächekrankheit – die allermeisten davon in Zentral- und Südafrika. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Besonders in Ländern mit schlechtem Gesundheitssystem haben die Pandemie selbst sowie die Maßnahmen dagegen den Zugang zu medizinischer Versorgung dramatisch verschlechtert.

Gleichzeitig behindert die Coronakrise auch Organisationen, die zum Beispiel mit Pestiziden imprägnierte Insektennetze gegen Malaria verteilen oder HIV-infizierte Menschen regelmäßig mit Medikamenten versorgen. Derartige Kampagnen hatten HIV und Malaria, aber auch viele andere Infektionskrankheiten, die vor allem die ärmsten Länder hart treffen, in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgedrängt.

»Langfristig müssen wir daran denken: Es gibt nicht nur Covid-19«, sagt die Epidemiologin Sonia Boender. Wenn die Pandemie die Erfolge gegen weit verbreitete Infektionskrankheiten zunichtemacht, erkranken und sterben im schlimmsten Fall hunderttausende Menschen durch die Coronakrise, noch Jahre nachdem Sars-CoV-2 selbst in den Hintergrund getreten ist.

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