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Entwicklungsbiologie: Patchwork in unserem Ohr

Zellen des Mittelohrepithels

Die Ohren von Säugetieren unterscheiden sich nicht nur äußerlich von denen anderer Landwirbeltiere. Im Gegensatz zu Vögeln, Reptilien und Amphibien haben Säuger zum Beispiel statt einem Gehörknöchelchen gleich drei davon. An Mäusen fanden Hannah Thompson und Abigail Tucker vom Londoner King's College nun eine weitere Eigenheit: Das Mittelohrgewebe entwickelt sich nicht wie bisher angenommen aus einem, sondern aus zwei Zelltypen. Dieses Merkmal macht Säugetierohren aber möglicherweise auch besonders anfällig für Infektionen und Hörverlust, denn einer der beiden Zellarten fehlen die schützenden Wimpern, die zum Beispiel Krankheitserreger aus dem Weg schaffen.

Das Mittelohr ist ein luftgefüllter Hohlraum, der das Trommelfell mit dem Innenohr verbindet. In ihm wird der Schall über die winzigen Gehörknöchelchen an die flüssigkeitsgefüllte Hörschnecke (Cochlea) im Innenohr weitergeleitet. Während der Embryonalentwicklung bildet sich das Mittelohr aus der Anlage der so genannten ersten Schlundtasche. Diese geht aus der inneren embryonalen Zellschicht, dem Entoderm, hervor (siehe Textbox). Um den Hohlraum herum gruppieren sich so genannte mesenchymale Stammzellen. Sie entstammen der Neuralleiste und können später verschiedene Gewebe bilden, wie in diesem Fall das Bindegewebe und die Gehörknöchelchen.

Anatomie des menschlichen Ohrs | Die Paukenhöhle im Mittelohr (rosa) beherbergt drei Gehörknöchelchen: Hammer, Amboss und Steigbügel (weiß). Diese übertragen den Schall vom Trommelfell ins Innenohr (blau), von wo ein Hörnerv das Signal ans Gehirn weitergibt. Das Mittelohr ist durch die Ohrtrompete (rosa Gang) mit dem Nasen-Rachen-Raum verbunden.
Die drei Zellschichten eines Embryos:

Ektoderm (Außenschicht):
bildet Haut, Nervensystem, Sinnesorgane
Mesoderm (Mittelschicht):
bildet Knochen, Muskeln, Blutkreislauf, Organe, Bindegewebe
Entoderm (Innenschicht):
bildet die Oberfläche vieler Organe

Bisher dachte man, die Wände des Mittelohrs würden vollständig von der entodermalen Schlundtasche geformt. Unklar war, wie in dem Fall die Vorläufer der Gehörknöchelchen aus dem Bindegewebe in die Paukenhöhle gelangen sollen. Die britischen Forscherinnen verfolgten deshalb während der Entwicklung von Mäusen verschiedene embryonale Zelltypen mit Hilfe einer genetischen Markierung – die Methode nennt sich "cell fate mapping". Sie entdeckten, dass die Auskleidung des Mittelohrs nicht nur aus einer, sondern aus zwei verschiedenen Linien hervorgeht. Während die untere Hälfte des Hohlraums und die Verbindung zum Rachen aus Entodermzellen bestehen, stammt der obere Teil von Neuralleistenzellen ab. Anscheinend reißt die obere Wand während der Entwicklung ein, so dass die Zellen in die Paukenhöhle einwandern können. Später werden daraus die Gehörknöchelchen und die Decke der Mittelohrhöhle. Gewebefärbungen zu verschiedenen Zeiten der Mäuseentwicklung bestätigten die Ruptur.

Die entodermalen Zellen in der Mittelohrwand besitzen fransenförmige Anhänge, Zilien oder Wimpern genannt. Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigten, dass die Neuralleistenzellen der oberen Paukenhöhle dagegen unbewimpert sind. Das könnte diesen Teil des Mittelohrs anfälliger für Krankheitserreger machen, denn die Wimpern erfüllen eine wichtige Reinigungsfunktion: Sie transportieren Schleim und Mikroorganismen aus der Paukenhöhle Richtung Rachen, wo sie verschluckt und abgebaut werden. "Der Prozess ist wahrscheinlich evolviert, um im Ohr Platz für die drei kleinen Knochen zu schaffen, die zum Hören unverzichtbar sind. Gleichzeitig wurden die Säugetiere aber infektionsanfälliger – sozusagen eine evolutionäre Panne", erklärt Tucker.

Ein solches Entwicklungsmodell war bereits 1959 postuliert worden, setzte sich aber nicht durch. Die Entstehungsweise scheint außerdem charakteristisch für Säugetiere zu sein: Bei Vögeln fand man keine Anzeichen dafür. Die Forscherinnen glauben, die Auskleidung könnte gleichzeitig mit den zusätzlichen Gehörknöchelchen entstanden sein. Unklar bleibt, ob die eingewanderten Neuralleistenzellen sich direkt an die entodermalen Zellen anheften oder ob sie zuerst Inseln bilden, die dann miteinander verbunden werden.

Mittelohroberfläche | Die Wände des Mittelohrs sind mit zwei verschiedenen Zelltypen ausgekleidet. Ob sie bewimpert sind, hängt von ihrer Herkunft ab.

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