Lügen: Schwindeln am laufenden Band

Das Kleid steht dir ausgezeichnet. Es war wirklich nett bei deinen Eltern. Ob ich gewusst habe, dass das passives Abseits war? Aber natürlich! Sehr lecker, die Suppe. Ehrlich? Natürlich nicht. Alles gelogen. Die meisten Menschen machen das gelegentlich. Manche mehr, manche weniger, manche so gut wie gar nicht – und einige wenige ungewöhnlich oft.
Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Timothy Levine von der University of Alabama in Birmingham erforscht Lügen seit mehr als 30 Jahren. Im Jahr 2010 veröffentlichte er eine Studie, in der er 1000 Menschen aus den USA dazu befragte, wie häufig sie in den vergangenen 24 Stunden gelogen hatten. 60 Prozent gaben an, dass das gar nicht der Fall gewesen sei, weitere 30 Prozent hatten ein- bis fünfmal gelogen. Das passte zu Levines »Truth Default Theory«, der zufolge die meisten Menschen davon ausgehen, dass andere ihnen in der Regel die Wahrheit sagen. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für Zusammenleben und Kooperation.
Ungewöhnliche Sonderfälle
Doch Levine fielen einige Sonderfälle auf: Etwa fünf Prozent der Befragten logen sehr viel. Extrem viel. So viel, dass nahezu alle in der Studie berichteten Lügen durch sie zu Stande kamen. Ein knappes Prozent flunkerte sogar mehr als 20-mal am Tag. Ein paar Jahre später führte Levine eine ganz ähnliche Studie in Großbritannien durch, mit dem gleichen Ergebnis. Eine wirkliche Erklärung dafür fand er nicht.
Timothy Levine ist nicht der einzige Forscher, der diese Beobachtung gemacht hat. Die meisten haben sich aber nur am Rande mit solchen extrem häufig flunkernden »Ausreißern« beschäftigt: Sie kommen beispielsweise in Fallstudien vor oder in anekdotischen Berichten. In den letzten Jahren ist das exzessive Lügen – Fachleute sprechen auch vom pathologischen Lügen – stärker in den Forschungsfokus gerückt. So weiß man heute einiges mehr über die Psychopathologie des Lügens.
Zunächst braucht es allerdings eine Antwort auf die simpel erscheinende, aber gar nicht so leicht zu klärende Frage: Was genau ist eine Lüge? Fragt man verschiedene Personen, ob sie heute schon gelogen haben, können das zwar viele beantworten. Allerdings sagt die eine womöglich »kein einziges Mal«, wo eine andere klare Lügen erkennen würde. Matthias Gamer, Psychologe an der Universität Würzburg, kann bei einer Definition weiterhelfen.
»In der wissenschaftlichen Community gibt es eine ziemlich konsistente Auffassung davon, was eine Lüge ist«, so Gamer. »Erstens muss es sich um eine Unaufrichtigkeit handeln. Jemand berichtet also etwas, von dem er weiß oder vermutet, dass es eigentlich anders ist. Zweitens ist wichtig, dass mit der Aussage eine Absicht verbunden ist. Eine Lüge ist etwas, was man intentional einsetzt.« Dieser eher engen Definition sei geschuldet, dass die Anzahl täglicher Schwindeleien mit durchschnittlich ein bis zwei Lügen eher gering ausfällt: »Weil Forschende als Lüge nur das bezeichnen, was berechnend und überlegt passiert.«
Eine soziale Regel
Antwortet eine Person also mit »Gut, danke, und selbst?« auf die Frage, wie es ihr geht, obwohl es ihr eigentlich gar nicht gut geht, einfach weil sie nicht groß darüber nachgedacht hat, gilt das nicht als Lüge im wissenschaftlichen Sinn. Es ist eher eine Konvention, eine soziale Regel. Zur Lüge wird es, wenn man weiß, dass man gerade Corona hat, aber gern am Familientreffen oder Feiertagsausflug teilnehmen möchte und die Erkrankung deshalb verschweigt.
Matthias Gamer unterteilt Lügen nach den zu Grunde liegenden Beweggründen. »Es gibt zwei große Klassen von Motiven«, sagt er. »Die egoistische Lüge dient dazu, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Mit der prosozialen Lüge hingegen – manchmal wird sie auch altruistische Lüge genannt – will man einem anderen Menschen einen Vorteil verschaffen oder ihn schützen.« Ein Beispiel für die erste Version: »Klar kenne ich mich mit Excel aus«, wenn man einen Job bekommen will. Ein Beispiel für die zweite: »Deine neue Frisur sieht toll aus«, um das Gegenüber nicht zu verletzen.
Wie bei der Diskussion darum, ob es echten Altruismus überhaupt gibt (oder ob letztlich doch alles eigennützig ist), stellt sich hier die Frage, ob die prosoziale Lüge vielleicht auch dem Lügenden hilft. Schließlich bewirkt sie, dass er sich nicht mit den unangenehmen Folgen einer ehrlichen Antwort wie »Dein Haarschnitt gefällt mir nicht« auseinandersetzen muss. »Ich bin da selbst etwas hin- und hergerissen«, meint Gamer, »weil solch eine Lüge eben auch sehr egoistisch sein kann, wenn man einfach keine Lust hat, auszudiskutieren, warum einem etwas nicht gefällt oder schmeckt.«
Mal war sie eine reiche Freundin eines Bischofs, mal eine verarmte Medizinstudentin
So oder so – die meisten Menschen lügen eher selten. Allerdings gibt es eben einen kleinen Prozentsatz, der aus dem Rahmen fällt. Der Erste, der sich genauer mit diesen Personen beschäftigte, war im 19. Jahrhundert der deutsche Psychiater Anton Delbrück. Er nannte das Phänomen Pseudologia phantastica. In seiner Veröffentlichung von 1891 beschreibt er damit jenes Ausmaß des Lügens, das so weit vom gewöhnlichen Flunkern entfernt ist, dass man von einem pathologischen Zustand sprechen könnte.
Delbrücks Erkenntnisse beruhen auf seiner Arbeit mit fünf Patienten, die er mehrere Jahre behandelte. Darunter war etwa eine österreichische Dienstmagd, die durch die Schweiz und Österreich reiste und währenddessen zahlreiche Leute bezüglich ihrer Identität belog. Mal war sie eine reiche Freundin eines Bischofs, mal eine verarmte Medizinstudentin, dann wieder eine rumänische Prinzessin oder eine adlige Spanierin. Ein anderes Mal verkleidete sie sich als Mann und besuchte eine Bildungseinrichtung. Als ihre Tarnung aufflog, musste sie fliehen. Die anderen Patienten Delbrücks erfanden ähnlich abstruse Geschichten, in die sie sich immer mehr verstrickten – bis andere ihnen auf die Schliche kamen.
Zwanghaftes Lügen
Ein paar Jahre später, im Jahr 1905, prägte der französische Psychiater Ernest Dupré den Begriff Mythomanie. Anders als Delbrück, der in seinen Fallberichten beschrieb, dass seine Patientinnen und Patienten ihre Lügen zumindest teilweise selbst glaubten und aus einer Art Zwang logen, ging Dupré davon aus, dass den Lügenden sehr wohl bewusst war, was sie taten, und sie sich willentlich zum Lügen entschlossen.
Der britisch-amerikanische Psychiater William Healy und seine Frau Mary Healy versuchten knapp zehn Jahre später Ordnung in die verschiedenen Ansätze zu bringen, indem sie eine Definition des Phänomens formulierten: Es handle sich um »eine Verfälschung, die in keinem Verhältnis zu einem erkennbaren Zweck steht und die von einer Person begangen wird, die zum Zeitpunkt der Beobachtung nicht eindeutig als geisteskrank, schwachsinnig oder epileptisch eingestuft werden kann«. Lange war diese Definition zwar verbreitet – doch einig darüber war man sich deshalb noch lange nicht. In einer Studie von 2005 erklärte ein Team um den Psychiater Charles Dike von der Yale University School of Medicine in New Haven (Connecticut), es gebe »keine einheitliche Definition für pathologisches Lügen«. Vor allem Drew Curtis von der Angelo State University in Texas und Christian Hart von der Texas Woman's University haben in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, dass sich das ändert. 2022 veröffentlichten sie ein Sachbuch, in dem sie den Forschungsstand zusammentrugen. Die bereits vorhandenen Arbeiten ergänzten die beiden Psychologen mit ihren eigenen Untersuchungen.
In einer Studie von 2020 rekrutierten sie einige hundert Probanden und fragten zunächst ab, ob diese in pathologischem Ausmaß logen, ob andere Menschen sie schon als pathologische Lügner bezeichnet hatten und ob womöglich eine psychische Störung diagnostiziert worden war, die krankhaftes Lügen beinhaltete. So kamen sie auf 83 pathologische Lügner und Lügnerinnen. Ihnen legten Curtis und Hart den Survey of Pathological Lying behaviors (SPL) vor, einen Fragebogen, mit dem sie die Folgen des Verhaltens ermittelten. Auf einer siebenstufigen Skala gaben die Befragten an, wie sehr sie Sätzen wie »Meine Lügen verursachen signifikanten Stress für mich«, »Meine Lügen haben mich selbst oder andere in Gefahr gebracht« oder »Die meisten meiner Lügen erzähle ich ohne Grund« zustimmten. Wie sich zeigte, beeinflussten die Unaufrichtigkeiten die Befragten in deren Alltag so sehr, dass sie starken Stress empfanden und Probleme bekamen. Dennoch konnten sie nicht aufhören zu schwindeln, obwohl sie das gern wollten und sich durch ihr Verhalten teilweise sogar in gefährliche Situationen manövrierten.
Seit dem Jugendalter
In einer weiteren Studie holten Curtis und Hart die Perspektive von Psychotherapeuten ein, um herauszufinden, ob deren Wahrnehmung mit der der pathologischen Lügner übereinstimmte. Die meisten der 295 Befragten hatten schon Patienten betreut, die auffällig oft logen – obgleich es vergleichsweise wenige waren. Da pathologisches Lügen bislang nicht als eigenständige Krankheit gilt, hatten die Therapeuten meist eine andere Diagnose gestellt, etwa eine Persönlichkeitsstörung. Die Beschreibungen der Behandelnden waren denen der Betroffenen sehr ähnlich: Das Lügen hatte häufig im Jugendalter begonnen und führte zu Stress sowie Problemen im privaten und beruflichen Umfeld.
In ihrem Sachbuch zeichnen Curtis und Hart ein stimmiges Gesamtbild, aus dem eine eigene Definition hervorgeht. Demnach ist pathologisches Lügen »ein anhaltendes, durchdringendes und oft zwanghaftes Muster exzessiven Lügenverhaltens, das zu einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit in sozialen, beruflichen oder anderen Bereichen führt, erheblichen Stress verursacht, eine Gefahr für den Lügenden oder andere darstellt und länger als sechs Monate andauert«.
Manche lügen darüber, was sie zum Frühstück gegessen haben
Ob sich diese Definition als sinnvoll erweist, wird sich wohl erst mit der Zeit und durch weitere Studien zeigen. Auf andere Fragen kann Drew Curtis schon heute einige Antworten geben: Wer sind die pathologischen Lügnerinnen und Lügner? Warum lügen sie? Was sind ihre Motive? Und kann man ihnen helfen?
»Unsere Forschung hat gezeigt, dass es nicht bestimmte Menschen sind, die zu pathologischen Lügnern und Lügnerinnen werden können«, sagt Curtis. »Wir haben keine Geschlechterunterschiede oder Abweichungen in demografischen Variablen gefunden.« Weshalb die Betroffenen lügen, ist nicht so einfach zu klären. Das Verhalten einiger käme der von Anton Delbrück postulierten Pseudologia phantastica recht nahe. »Sie machen völlig übertriebene und teils unrealistische Behauptungen, um von anderen Menschen Aufmerksamkeit zu bekommen«, so Curtis. Bei vielen anderen sei das aber nicht der Fall. Manche lügen darüber, was sie zum Frühstück gegessen haben. Fragt Curtis in solchen Fällen nach dem Warum, käme häufig die Antwort: Ich habe keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wieso ich mir so etwas ausdenken sollte.
Schuld, Scham und Gewissensbisse
Das kollidiert auf den ersten Blick mit der Definition einer Lüge, der zufolge diese aus einem bestimmten Grund erzählt wird. Doch bei genauerem Betrachten löst sich der scheinbare Widerspruch auf: »Einige geben zwar an, dass sie ohne Grund lügen«, so Curtis. »Mein Kollege Christian Hart und ich vermuten aber, dass pathologische Lügner mit ihren Lügen durchaus etwas bezwecken.« Wenn sie nachhaken, bekommen die Psychologen von ihren Patienten oft zu hören, dass sich das Lügen wie ein Zwang anfühle und aus einem Impuls heraus geschehe. Die Lüge würde eine innere Anspannung auflösen.
»Lügen verringert bei diesen Menschen Angst«, sagt Curtis. Die Erleichterung hält allerdings nur kurz an. »Danach empfinden sie Schuld, Scham und Gewissensbisse.« Pathologische Lügner würden etwa zehnmal am Tag lügen, einige sogar bis zu 20-mal. Angehörige oder Freunde sind aber oft davon überzeugt, dass die zwanghaften Lügnerinnen und Lügner immer und über alles lügen. »Das stimmt zwar nicht. Doch die Lügen führen trotzdem häufig dazu, dass andere Menschen – Freunde, Familie, Partner – das Vertrauen verlieren und sich abwenden.«
Pathologische Lügner und Lügnerinnen haben einen Leidensdruck
Pathologische Lügner und Lügnerinnen haben einen Leidensdruck. Das widerspricht der Vorstellung, die bei vielen Menschen aufkommen mag, wenn sie hören, dass jemand bis zu 20-mal am Tag lügt. Da denkt man womöglich an einen kühl berechnenden Psychopathen, der eiskalt und reuelos schwindelnd durchs Land zieht, um einen Job zu ergattern, Menschen um den Finger zu wickeln oder einfach nur den Eintritt im Kino zu sparen. Pathologisches Lügen hat damit allerdings wenig gemein. Die Betroffenen haben einen Leidensdruck, weshalb professionelle therapeutische Hilfe und Unterstützung durch Angehörige und Freunde wichtig sind.
Drew Curtis zufolge ist die kognitive Verhaltenstherapie die Behandlung der Wahl. »Pathologische Lügner – und insbesondere jene, die übertriebene Lügen erzählen – wollen Aufmerksamkeit«, so Curtis. »Um ihnen zu helfen, müssen wir ihnen zuhören, wenn sie die Wahrheit sagen, und die Lügen ignorieren.« Das sei eine schwierige Aufgabe. Aber nur durch derartige »Verstärkung« und »Bestrafung« könnten sie ihr Verhalten ändern.
Keine eigene Diagnose
Curtis und Hart werben dafür, dass das pathologische Lügen eine eigene Diagnose wird und einen entsprechenden Eintrag in Klassifikationssystemen für psychische Störungen wie dem »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) oder der »International Classification of Diseases« (ICD) erhält. Ihre Ergebnisse legten nahe, dass es sich um eine eigenständige Erkrankung handle, nicht nur um ein Symptom anderer Störungen. Ein solcher Eintrag würde Psychotherapeuten und Psychiatern dabei helfen, pathologische Lügner besser zu erkennen und ihnen auch besser helfen zu können.
Curtis zufolge führt »das Versäumnis, pathologisches Lügen als Diagnose anzuerkennen, dazu, dass keine Behandlung erfolgt oder Behandlungsmaßnahmen eingesetzt werden, die unwirksam oder sogar schädlich sein können. Eine formale Anerkennung des pathologischen Lügens würde die Erforschung der Ätiologie und wirksamer Behandlungsmethoden fördern.«
»Lügen verringert bei diesen Menschen Angst«Drew Curtis, Psychologe
Ob das jedoch bald geschieht, ist fraglich. Eine neue Version der ICD ist erst 2022 in Kraft getreten, und auch die letzte Überarbeitung des DSM liegt noch nicht allzu lange zurück. Curtis und Hart haben zwar viele Arbeiten zusammengetragen und selbst mehrere Studien beigesteuert. Die Forschung zum pathologischen Lügen steht allerdings erst am Anfang. Der Würzburger Psychologe Matthias Gamer spricht gar von einer »ersten Beobachtung«. Aus diesem Grund hält er die Forderung nach einem eigenen DSM- und ICD-Eintrag aktuell für schwierig: »Man muss nicht jeder Beobachtung eine eigene Diagnose zuordnen«, sagt er. »Nicht alles, was man so sieht und was nicht in die gängigen Kategorien passt, braucht gleich eine eigene Diagnose.«
Dennoch sieht auch Gamer den Punkt, dass eine solche Diagnose den Betroffenen helfen könnte. »Der primäre Fokus der Diagnosesysteme sollte darauf liegen, dass sie die Behandlung erleichtern«, erklärt er. »Deswegen wäre das für mich ein wichtiges Kriterium: Würde die Diagnose Betroffenen helfen? Und da bin ich, angesichts des dünnen Forschungsstandes, noch skeptisch.«
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