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Psychiatrische Patientenverfügung: Mehr Selbstbestimmung für psychisch Kranke

Psychiatrische Patientenverfügungen dokumentieren den eigenen Willen – falls man in einer psychischen Krise nicht mehr selbst über seine Behandlung entscheiden kann. Denn nicht selten besteht etwa bei akuter Psychose oder bei einer Manie eine mangelnde Einwilligungsfähigkeit. Was müssen Erkrankte, Ärzte und Ärztinnen beachten?
Eine Person in einem rosa Hemd sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Stuhl und hält einen Stift und ein Klemmbrett, während sie mit einer jüngeren Person spricht, die ihre Hände in den Ärmeln eines weiten hellen Pullovers verbirgt. Die Köpfe sind im Ausschnitt nicht gezeigt. Die Szene deutet auf ein Gespräch oder eine Beratungssituation hin.
Auch in der Psychiatrie gilt: Der Patient oder die Patientin muss vor der Behandlung aufgeklärt werden und ihr zustimmen. Aber was tun, wenn jemand in der akuten Situation nicht »einwilligungsfähig« ist?

Louisa B. war 21, als sie zum ersten Mal wegen akuter Suizidgefährdung in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Die Jahre danach waren geprägt von psychischen Krisen und dutzenden Klinikaufenthalten. »Ich war diese klassische Drehtür-Patientin«, erzählt die heute 35-Jährige. Kaum entlassen, ging es ihr bald wieder so schlecht, dass sie erneut in die Klinik musste. Dort habe sie sich oft nicht ernst genommen gefühlt, erinnert sich Louisa B., die in Wirklichkeit anders heißt. »Ich hatte den Eindruck, dass alles, was ich sagte, meiner Erkrankung zugeschrieben wird.« Aber auf die Idee, eine psychiatrische Patientenverfügung zu erstellen, kam sie damals nicht.

Nach dem schriftlich festgelegten Patientenwillen wird in Krankenhäusern meist nur bei schweren körperlichen (somatischen) Erkrankungen oder am Lebensende gefragt, wenn es um lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen geht. Dabei gelten Patientenverfügungen ebenso für psychische Erkrankungen. Auf das Stadium einer Erkrankung kommt es nicht an – so steht es seit 2009 im deutschen Patientenverfügungsgesetz.

»Ich hatte den Eindruck, dass alles, was ich sage, meiner Erkrankung zugeschrieben wird«Louisa B., Betroffene

Genau wie entsprechende Dokumente im somatischen Bereich bieten psychiatrische Patientenverfügungen die Möglichkeit, bereits lange im Voraus in medizinische Maßnahmen einzuwilligen – oder diese abzulehnen, beispielsweise wenn es um die Behandlung mit bestimmten Medikamenten, eine Nervenwasserpunktion oder eine Elektrokonvulsionstherapie geht. Daneben können Betroffene darin ihre Krankheitsgeschichte schildern und angeben, was ihnen in psychischen Krisensituationen konkret helfen könnte. Auch die Telefonnummern von Vertrauenspersonen und – sofern vorhanden – des Vorsorgebevollmächtigten oder eines rechtlichen Betreuers werden dort hinterlegt.

Ein Vorsorgebevollmächtigter darf anders als Angehörige stellvertretend viele Behandlungsentscheidungen (zusammen mit den Ärztinnen und Ärzten) treffen, falls man nicht selbst dazu in der Lage ist. Es ist daher wichtig, eine bevollmächtigte Person auszuwählen, der man vertraut. In den meisten Fällen erspart sie einen vom Gericht bestellten rechtlichen Betreuer. Der Bevollmächtigte ist an den festgelegten Patientenwillen gebunden. Ist die medizinische Frage von der Verfügung allerdings nicht abgedeckt, muss er mutmaßen, wie die von ihm vertretene Person entscheiden würde. Der Inhalt der Verfügung will daher gut überlegt sein. Dabei helfen kann eine Vorlage, wie sie die psychiatrische Fachgesellschaft DGPPN zum Download anbietet.

In der Psychiatrie noch nicht weit verbreitet

Während Verfügungen in der somatischen Medizin zum klinischen Alltag gehören, sind sie in der Psychiatrie noch kaum verbreitet. Thomas Pollmächer, Vorstandsmitglied der DGPPN und Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit am Klinikum Ingolstadt, bedauert das. In seiner Klinik können sich Patientinnen und Patienten hinsichtlich des Erstellens eines solchen Vorsorgedokuments beraten lassen, aber bisher würden nicht einmal zehn pro Jahr die Möglichkeit nutzen. Dabei würden seiner Meinung nach weitaus mehr Menschen davon profitieren, vor allem, wenn eine bipolare, schizoaffektive oder schizophrene Störung vorliegt.

In einer manischen Phase neigen Menschen mit einer bipolaren Störung zum Beispiel zu riskanter Selbstüberschätzung. Während einer akuten Psychose hingegen, etwa bei einer Schizophrenie, nehmen sie die Realität stark verzerrt wahr. Nicht selten werden diese Patientinnen und Patienten gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Oder wie es in der Fachsprache heißt: untergebracht. »Die Unterbringung erfolgt zur akuten Gefahrenabwehr, zum Beispiel, um zu verhindern, dass sich jemand das Leben nimmt oder dass er andere im Rahmen seiner Erkrankung akut gefährdet«, erklärt Pollmächer. Das betreffe etwa 0,5 Prozent der Patienten und Patientinnen. Auf den ersten Blick scheint das vielleicht wenig. »Bei einem Durchlauf von 900 000 Patienten pro Jahr an deutschen Kliniken kommt man aber schon auf mehrere tausend pro Jahr, für die eine Verfügung sinnvoll sein könnte.«

»Bei einem Durchlauf von 900 000 Patienten pro Jahr an deutschen Kliniken kommt man auf mehrere Tausend pro Jahr, für die eine Verfügung sinnvoll sein könnte«Thomas Pollmächer, Psychiater

Mehrere Studien deuten darauf hin, dass sich das Risiko für eine notfallmäßige Unterbringung deutlich verringert, wenn Betroffene eine psychiatrische Patientenverfügung verfasst haben. Vermutlich entwickeln sie durch die Auseinandersetzung mit ihrer Verfügung ein besseres Verständnis ihrer Erkrankung und erkennen die Frühwarnzeichen einer sich anbahnende Krise schneller. Angehörige werden frühzeitig eingebunden, und die Erkrankten begeben sich dann eher freiwillig in stationäre Behandlung. An einer französischen Untersuchung von 2022 nahmen rund 400 Patientinnen und Patienten mit einer schizophrenen, schizoaffektiven oder bipolaren Störung teil. Die Hälfte füllte ein Vorsorgedokument aus, unterstützt von geschulten Personen mit eigener Psychiatrieerfahrung. Zwar kam es dadurch im folgenden Jahr nicht seltener zu stationären Aufenthalten. Die Zahl der Unterbringungen aber sank im Vergleich zur Kontrollgruppe um fast ein Drittel.

Louisa B. erzählt, dass sie nahezu immer auf sogenannten geschützten oder geschlossenen Stationen behandelt wurde, weil sie akut suizidal gewesen sei. Dort werden Patienten und Patientinnen engmaschig überwacht, damit sie sich oder andere nicht gefährden – man spricht dann von »akuter Eigen- oder Fremdgefährdung«. Im Zweifel kommen auch Zwangsmaßnahmen zum Einsatz. Dazu zählen die Fixierung, bei der eine Person mit Gurten festgeschnallt wird, eine Isolierung (beispielsweise in einem ausgepolsterten »Time-out-Raum«) oder die Verabreichung von Medikamenten gegen den eigenen Willen. Bei Letzterem spricht man auch von einer Zwangsbehandlung.

Die rechtlichen Bestimmungen dazu, wann und wie Zwangsmaßnahmen angewendet werden dürfen, sind kompliziert. Sie sind durch das Betreuungsrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sowie die jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKHG oder PsychKG) der Bundesländer geregelt. Eine Unterbringung nach PsychKG dient der Abwendung einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung. Eine Unterbringung nach BGB kommt hingegen nur bei akuter Selbstgefährdung infrage oder wenn der betroffenen Person »ein erheblicher gesundheitlicher Schaden« droht; sie setzt einen rechtlichen Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten voraus, der sie veranlasst.

Zwangsmaßnahmen nur als letztes Mittel erlaubt

Generell dürfen Zwangsmaßnahmen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Sie müssen sowohl ärztlich angeordnet als auch richterlich genehmigt werden – außer in Eilfällen. Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung in einer Notfallsituation kann die gerichtliche Genehmigung auch nachträglich eingeholt werden. Während das BGB bundesweit einheitlich ist, unterscheiden sich die Psychisch-Kranken-Gesetze von Bundesland zu Bundesland inhaltlich teilweise.

Pollmächer findet es wichtig, dass sich Patienten überlegen: »Wie könnte man die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in meinem Fall verhindern? Würde es helfen, erst einmal eine Zigarette mit mir zu rauchen oder einen Spaziergang zu machen? Solche Dinge können in einer Patientenverfügung festgehalten werden.« Für den Fall, dass die Anwendung von Zwang unvermeidlich ist, sollten Betroffene in ihrer Verfügung angeben, welche Maßnahmen sie bevorzugen. »Ich habe damals häufig Beruhigungsmittel verabreicht bekommen und bin dadurch in ein totales Loch gerutscht«, sagt Louisa B. »Wenn ich heute die Wahl hätte zwischen Zwangsmedikation oder Fixierung, dann würde ich mich fixieren lassen.«

Sie arbeitet mittlerweile als Genesungsbegleiterin in einer psychiatrischen Klinik und nutzt ihre Erfahrungen, um andere Betroffene zu unterstützen. Nicht selten entwickeln diese große Furcht vor stationären Behandlungen. »Ich begleite eine Patientin mit Psychoseerfahrung, die das geschützte Setting als extrem invasiv erlebt hat«, berichtet Louisa B. »Da drehen sich viele Gespräche darum, ob sie überhaupt nochmal in die Klinik gehen würde, wenn es ihr schlechter geht. Für sie war es total wichtig, eine Patientenverfügung zu erstellen, um einfach diesem Gefühl des Kontrollverlustes etwas entgegenzusetzen.«

Ein Ziel: Retraumatisierende Behandlungen ausschließen

Im besten Fall lassen sich so Behandlungssituationen vermeiden, die retraumatisierend wirken können. Das Dokument ermöglicht es, Wünsche im Hinblick auf die Therapie zu äußern und diese aktiv mitzugestalten. »Patientenverfügungen fördern das Kontrollgefühl und die Autonomie von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen«, bestätigt Matthé Scholten vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum: »Viele sagen: ›Endlich wurde mir mal zugehört, ich habe mich ernst genommen gefühlt.‹«

»Patientenverfügungen fördern das Kontrollgefühl und die Autonomie von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen«Matthé Scholten, Ethiker

Scholten arbeitete während seines Philosophiestudiums nebenher in der Pflege. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Ethik in der Psychiatrie und hat viele Studien zu psychiatrischen Patientenverfügungen und Zwang in der Psychiatrie durchgeführt. Eine Verfügung sei nicht frei von Risiken, räumt er ein: Legt man schon im Voraus fest, wie man behandelt werden möchte, könne es natürlich sein, dass man bestimmte Dinge nicht so gut vorhergesehen hat. Keine Krise gleicht exakt der anderen. »Kliniker haben dann weniger Spielraum in der Behandlung, weil sie an die Patientenverfügung gebunden sind. Aber in den allermeisten Fällen führt diese zu mehr Selbstbestimmung und zu einer Steigerung des gesundheitlichen Wohls.«

Vorausgesetzt, die Wünsche sind medizinisch sinnvoll. Professionelle Unterstützung ist laut Scholten und Pollmächer daher ein wesentlicher Punkt beim Verfassen einer Patientenverfügung. Dann verbessert sich gemäß zahlreicher Studien auch die therapeutische Beziehung zwischen Behandelnden und Erkrankten, und gemeinsam vereinbarte Therapieempfehlungen werden eher durchgehalten.

Für die Beratung fehlen im klinischen Alltag allerdings häufig Zeit und Personal, und Ärztinnen und Ärzte können sie nicht abrechnen. Auch wissen viele gar nicht über die Möglichkeit psychiatrischer Patientenverfügungen Bescheid, geschweige denn, worauf bei der Erstellung zu achten ist. Denn damit das Dokument im Krisenfall gültig ist, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein.

»In den allermeisten Fällen führt eine psychiatrische Patientenverfügung zu mehr Selbstbestimmung und zu einer Steigerung des gesundheitlichen Wohls«Matthé Scholten, Ethiker

Zum einen muss die verfügende Person volljährig sein, die Verfügung in schriftlicher Form vorliegen und eigenhändig unterschrieben sein. Es ist hingegen nicht nötig, sie notariell beglaubigen zu lassen. Zudem sollten Betroffene die Umstände, für die der Wunsch oder die Ablehnung einer Behandlung gelten soll, möglichst konkret beschreiben. Sonst kommen im Krisenfall womöglich Zweifel auf, ob die Patientenverfügung auf die aktuelle Situation übertragbar ist. Zum anderen müssen sie zum Zeitpunkt der Unterschrift einwilligungsfähig oder selbstbestimmungsfähig sein – also in der Lage, ihren Gesundheitszustand zu reflektieren und verschiedene Behandlungsmaßnahmen gegeneinander abzuwägen, um eine informierte Entscheidung zu treffen.

Die Frage nach der Selbstbestimmungsfähigkeit

Gerade bei Patientinnen und Patienten, die akut suizidal sind, sei die Selbstbestimmungsfähigkeit nicht leicht zu beurteilen, sagt Pollmächer: »Unsere Rechtsordnung macht einerseits sehr deutlich, dass die Selbstbestimmung des Einzelnen sehr weit geht – sogar so weit, dass man es auch akzeptieren muss, wenn sich jemand selbstbestimmt das Leben nehmen will. Andererseits haben wir für Kranke und gefährdete Menschen aber eine Schutzpflicht. Sie beginnt dort, wo ein Mensch nicht mehr selbstbestimmungsfähig ist. Je subtiler die Veränderungen der Selbstbestimmungsfähigkeit sind, desto schwieriger wird es, das festzustellen.« Wer auf der sicheren Seite sein möchte, kann sich auf seiner Patientenverfügung ärztlich bestätigen lassen, dass er zum Zeitpunkt der Erstellung einwilligungsfähig war – vorausgesetzt wird es aber nicht.

Zwar ist die Einwilligungsfähigkeit auch bei einer somatischen Patientenverfügung eine Vorbedingung. Sie hat im Bereich der Psychiatrie jedoch eine andere Relevanz: »Einer der großen Unterschiede zu körperlich Erkrankten ist, dass sich psychiatrische Patienten in der Krisensituation meist noch äußern können. Aber sie äußern sich eben oft nicht selbstbestimmt, sondern krankheitsmodifiziert«, erklärt Pollmächer. »Wenn jemand eine manische Erkrankung hat und sich massiv überschätzt, wird er natürlich sagen: ›Ich brauche keine Behandlung.‹« Genau in solchen Fällen könne eine zuvor erstellte Patientenverfügung dann dabei helfen, den »tatsächlichen Willen« der Person festzustellen.

Bei Anzeichen von Manie oder Psychose

Zunächst sollten Behandelnde jedoch immer von der Einwilligungsfähigkeit eines Erkrankten ausgehen und diese nur dann infrage stellen, wenn es konkrete Anhaltspunkte für das Gegenteil gibt – wie eben Anzeichen einer Manie oder Psychose. Menschen mit einer psychischen Erkrankung werde oft die Fähigkeit abgesprochen, reflektierte Entscheidungen zu ihrer Behandlung treffen. »Da gibt es in Deutschland ein Stigma in der Haltung von Bürgern und auch Klinikern«, sagt Scholten. Dabei wüssten Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr gut, was es zum Beispiel heißt, eine Psychose oder eine manische Phase zu erleben, und sie hätten bereits erfahren, was ihnen dann am besten geholfen hat.

Das Vorurteil, Patientenverfügungen könnten bei Betroffenen zur Ablehnung medizinisch sinnvoller Maßnahmen – oder einer Behandlung generell – führen, hat sich laut dem Bochumer Ethiker in Studien nicht bestätigt. »Analysen von Patientenverfügungen haben gezeigt, dass die Inhalte des Großteils der Patientenverfügungen mit medizinischen Standards übereinstimmen und nur sehr wenige Betroffene eine psychiatrische Behandlung generell ablehnen

Für den Rückfall vorsorgen

Viele wollten sich allerdings gar nicht erst mit einer Patientenverfügung befassen, erklärt Pollmächer: »Auch diejenigen, die eine schwere Krankheitsphase überstanden haben, sind nur zu einem kleinen Teil willens und bereit, für eine mögliche nächste Phase entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Die meisten sagen: ›Ich bin jetzt gesund und ich werde nicht mehr krank, damit will ich nichts mehr zu tun haben.‹«

»Manche vertrauen den Ärzten und denken: ›Die werden schon wissen, was gut für mich ist.‹ Die brauchen so eine Verfügung dann für sich nicht«Nadja Stehlin, Betroffenenvertreterin

Laut Nadja Stehlin, Betroffenenvertreterin der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS), sind die Gründe hierfür vielschichtig: »Manche vertrauen den Ärzten und denken: ›Die werden schon wissen, was gut für mich ist.‹ Die brauchen so eine Verfügung dann für sich nicht.« Andere glaubten dagegen, dass sich die Klinik im Notfall sowieso nicht an die Patientenverfügung halten wird. Diese Befürchtung spiegelt sich auch in den Ergebnissen von Studien zu den Herausforderungen und Hürden in der Umsetzung psychiatrischer Patientenverfügungen wider. Und manchen Menschen falle es einfach schwer, sich in stabilen Phasen so intensiv mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, wie es für eine Patientenverfügung nötig sei, sagt Stehlin, »weil man Schmerzhaftes nicht wieder hervorholen möchte«.

Ähnlich geht es auch Louisa B. – auch sie hat bisher keine Patientenverfügung: »Das würde für mich bedeuten, dass ich mir vorstellen könnte, nochmal so krank zu werden. Natürlich kann ich das nicht ausschließen, es gibt immer Krisen im Leben, die einen vielleicht aus der Bahn werfen«, überlegt sie. Aber sie habe im Lauf der Jahre viele Strategien entwickelt, mit Krisen umzugehen, und sei in der Vergangenheit immer in der Lage gewesen, ihren Willen selbstbestimmt zu äußern.

»Haben die Menschen mir zugehört? Sind sie mir mit Respekt begegnet? Haben sie versucht, meine Situation zu verstehen oder nachzuvollziehen? Haben sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt?«Louisa B., Betroffene

Allerdings wird das vonseiten der Behandelnden möglicherweise anders interpretiert, gerade wenn jemand akut suizidal ist – diese Erfahrung hat auch Louisa B. gemacht. Es seien aber weniger einzelne Maßnahmen gewesen, die sie richtig oder falsch fand, sondern vielmehr die Art und Weise, wie ihr generell begegnet wurde: »Haben die Menschen mir zugehört? Sind sie mir mit Respekt begegnet? Haben sie versucht, meine Situation zu verstehen oder nachzuvollziehen?«

Verfügungsvorlage mit Beispielen erleichtert die Erstellung

Für Betroffene sei wichtig, dass Patientenverfügungen einfach auszufüllen, aber gleichzeitig individuell anpassbar seien, erklärt Stehlin, die an der Erarbeitung einer Patientenverfügung der Bochumer SALUS-Forschungsgruppe beteiligt war, zu der auch der Psychiatrie-Ethiker Matthé Scholten gehört. Die DGPPN hat in ihrer Vorlage zu diesem Zweck an diversen Stellen Freitextfelder eingebaut. Die Verfügung der SALUS-Gruppe enthält darüber hinaus Beispiele, um bestimmte Punkte besser zu verstehen und im zweiten Schritt auf sich anwenden zu können.

»Angegebene Wünsche sollten rechtlich wirksam und verbindlich sein, sodass man sicher sein kann, dass ihnen entsprochen werden muss«, findet Stehlin. Um hier sowohl Betroffenen als auch Behandelnden entgegenzukommen, kennzeichnet die SALUS-Patientenverfügung, welche Angaben rechtlich bindend sind und welche nicht. Dem Wunsch zum Beispiel, nur von weiblichem Personal betreut zu werden, muss nicht entsprochen werden. Betroffene können in der Verfügung außerdem schildern, welche Anzeichen es bei ihnen dafür gibt, dass sie nicht mehr selbstbestimmungsfähig sind – und wie man sie in diesem Fall bei medizinischen Entscheidungen gut unterstützen kann. 

Im Idealfall ist eine Patientenverfügung – wie im somatischen Bereich – mit einer Vorsorgevollmacht verknüpft. Betroffene sollten sowohl Vertrauenspersonen als auch ihren rechtlichen Betreuenden oder Vorsorgebevollmächtigten eine Kopie der Patientenverfügung geben, damit sie sich darauf verlassen können, dass sie die Behandelnden erreicht und in der Behandlung berücksichtigt wird. Ein Punkt, an den auch Stehlin ihre Unterschrift auf der Patientenverfügung knüpfen will: »Ich hatte bisher keine Person, der ich für den psychiatrischen Notfall das nötige Vertrauen schenken konnte und wollte.«

Ein Krisenpass für alle Fälle

Besser wäre es, wenn psychiatrische Patientenverfügungen standardmäßig so hinterlegt würden, dass Behandelnde im Krisenfall schnell und routinemäßig darauf zugreifen können – am besten digital. Auch ein sogenannter Krisenpass könnte dabei helfen, auf eine vorhandene Patientenverfügung aufmerksam zu machen. Ähnlich wie einen Organspendeausweis sollten Patienten und Patientinnen diesen immer bei sich tragen. Darin können zum Beispiel Notfallmedikamente, aber auch Kontaktdaten von Bezugspersonen festgehalten werden, die im Krisenfall kontaktiert werden sollten. Betroffene könnten darin aber auch vermerken, dass sie eine Patientenverfügung besitzen – und wo diese hinterlegt ist. Das käme letztlich auch Ärztinnen und Ärzten zugute, denn sie geraten schnell in ein ethisches Dilemma, wenn sich der Wille von Betroffenen nicht eindeutig bestimmen lässt. »Im klinischen Alltag führen wir in meiner Klinik vor jeder Zwangsbehandlung eine ethische Fallbesprechung durch«, sagt Pollmächer. »Das ist aufwändig, aber sinnvoll – nur leider noch nicht sehr weit verbreitet.«

»Im klinischen Alltag führen wir in meiner Klinik vor jeder Zwangsbehandlung eine ethische Fallbesprechung durch. Das ist aufwändig, aber sinnvoll – nur leider noch nicht sehr weit verbreitet«Thomas Pollmächer, Psychiater

Auch aus diesem Grund muss noch mehr über das Spannungsfeld zwischen Zwang und Selbstbestimmung in der Psychiatrie debattiert und dazu geforscht werden. Und darüber, was sich strukturell ändern muss. So sollten Patientinnen und Patienten mehr auf die Möglichkeit einer psychiatrischen Patientenverfügung aufmerksam gemacht werden. Außerdem sollte gewährleistet sein, dass Verfügungen im Krisenfall schnell verfügbar sind und ihre Umsetzung nicht an zu wenig Personal scheitert. Es brauche aber auch generell einen anderen Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, fordert Louisa B. Betroffene würden gesellschaftlich immer noch stigmatisiert.

Am Ende sind psychiatrische Patientenverfügungen nicht nur ein Werkzeug, das die Selbstbestimmung von Patienten und Patientinnen fördert, sondern das auch die Gleichstellung von Menschen mit psychischen und körperlichen Erkrankungen vorantreiben kann. Schließlich sind Patientenverfügungen bei letzteren schon lange im klinischen Alltag angekommen. »Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen der Verantwortung, die Menschen mit psychischen Erkrankungen zugestanden wird, und der staatlichen Verantwortung«, sagt Louisa B. »Ich glaube, dass psychiatrische Patientenverfügungen ein Baustein sein können, um hier ein besseres Gleichgewicht herzustellen und so zur Entstigmatisierung beizutragen.«

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per E-Mail von einem Peer beraten lassen.

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  • Quellen

Barbui, C. et al., The British Journal of Psychiatry 10.1192/bjp.2020.144, 2020

Braun, E. et al., Psychiatric Services 10.1176/appi.ps.202200003, 2023

Gaillard, A.S. et al., Psychiatric Services 10.1176/appi.ps.202200002, 2023

Scholten, M. et al., Frontiers in Psychiatry 10.3389/fpsyt.2019.00631, 2019

Tinland, A. et al., JAMA Psychiatry 10.1001/jamapsychiatry.2022.1627, 2022

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