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Populationsgenetik: Penetrante Altlast

Von nichts kommt zwar nichts, andererseits aber gibt es auch nichts umsonst. Das gilt insbesondere in der Evolution, meinten Populationsgenetiker bis zuletzt. Die jüngste Kosten-Nutzen-Bilanz erwischt Tropenseuchen-Bekämpfer nun allerdings auf dem falschen Fuß.
DDT
Gelegentlich passt eine Erklärung einfach zu gut zu allen Beobachtungen und theoretischen Konzepten, um sie immer wieder durch lästige Experimente zu hinterfragen. Warum auch Ressourcen aufwenden, um solides Grundlagenwissen mit in der Praxis als tragfähig erprobtem Nutzen durch nichts Besseres als neue Fragezeichen zu ersetzen? Ein Beispiel: das Prinzip der "Resistenzentwicklung" in der Biologie. Was Forscher darüber seit Jahrzehnten in Erfahrung gebracht und tatsächlich überprüft haben, stützt unsere gängige Vorstellung von Selektion und Mutation, Evolutionstheorie und Molekulargenetik – und darüber hinaus auch noch allerlei praktisch-epidemiologische und medizinische Beobachtungen.

Kammerjäger und Krankenschwester können also im Schlaf herbeten, was passiert, wenn ein zunächst hochwirksames Insektenbekämpfungsmittel oder Antibiotikum allzu hemmungslos gegen einen Schädling oder Keim eingesetzt wird: Die wirksame Substanz wird die allermeisten Lästlinge wunschgemäß vernichten – fast flächendeckend. Dummerweise aber dürfte nahezu immer auch eine kleine Randgruppe der bekämpften Schädlingspopulation auftauchen, die – aus einer zufälligen genetischen Laune heraus – gegen das eingesetzte Mittel immun ist. Erwischt man diese Außenseiter nicht mit anderen Waffen, dann werden sie, von ihrer lästigen Konkurrenz befreit, einsam übrig bleiben und bedrohlich gedeihen. Der Bekämpfer hätte also durch sein Bekämpfungsmittel unbesiegbare neue Gegner herangezogen und selektiert. Tatsächliche Resultate solcher Fehlkalkulation in der Medizin sind multiresistente Stämme des Krankenhauskeims Staphylococcus aureus oder die in einigen Endemiegebieten gegen mehrere Medikamente immunen Stämme des Malariaerregers.

Also lehrt die reine Lehre: Wechsele deine Waffen (oder greife immer mit gleich mehreren an), auf dass nicht eine davon stumpf werde. Der theoretische evolutionsbiologische Unterbau verbreitet indes langfristig Hoffnung. Denn warum eigentlich waren die bei einseitiger Bekämpfung übrig bleibenden resistenztragenden Keime, so eine einleuchtende Frage, vor dieser Bekämpfung Außenseiter? Weil sie, so die einleuchtende Antwort, von dieser Resistenz im Allgemeinen nicht viel haben außer Kosten – es sei denn, das resistenzgenetische Produkt rettet dem Außenseiter eben in einer seltenen, unnatürlichen, menschengemachten Extremsituation inmitten tödlicher Chemikalien das Leben. Sobald diese Situation aber beendet wird – das Medikament oder Schädlingsbekämpfungsmittel also abgesetzt –, bleiben wieder nur Kosten. In einer effizienzverliebten Welt ist das dann derart nachteilig, dass die mit hohen Kosten auf alles vorbereiteten Keime bald wieder im Konkurrenzkampf hoffnungslos untergehen und verschwinden dürften. Das alles regelt "der Markt", würde die FDP wohl sagen.

Caroline McCart und ihre Kollegen von der Universität Bath melden nun Zweifel an dieser Lesart der evolutionsbiologischen Kosten-Nutzen-Regel an, nachdem sie eines der ältesten wissenschaftlich untersuchten Resistenzmodelle erneut durchleuchtet haben: die Resistenz von Insekten gegen DDT [1]. Das berüchtigte Insektizid Dichlor-Diphenyl-Trichlorethan galt vermehrt nach dem zweiten Weltkrieg als Wunderwaffe gegen Malariamücke, Tsetsefliege und Typhus-Läuse, bis 1959 erste resistente Insekten in Indien auftauchten. Die am häufigsten Resistenz vermittelnde Mutation im Gen Cyp6g1 [2] ist mittlerweile derart verbreitet, dass sie nach einem DDT-Einsatz auch heute noch innerhalb weniger Monate wieder flächendeckend die lokale Mückenpopulation zu schützen beginnt. Seit den 1970er Jahren ist DDT in Industrieländern verboten.

Hier, in den Laboren Europas, sollte also die mit der Cyp6g1-Mutation einhergehende Resistenz mittlerweile doch eigentlich vom umkämpften Markt der Insekten verschwunden sein, meinte McCarts Team. Die Mutation, die auch in der Taufliege Drosophila melanogaster verbreitet ist, entsteht durch ein bewegliches genetischen Element, das Accord-Transposon, welches in das Cyp6g1-Gen hineingesprungen war – dieses wird seitdem in betroffenen Tieren deutlich vermehrt produziert und fungiert dann als Entgiftungsenzym, das nicht nur vor DDT schützt, sondern außerdem noch gegen Organochlor- und Organophosphorverbindungen, Carbamate oder Neonicotinoid-Insektizide wirkt. Aber: Ist dieser Schutzvorteil nun gleichzeitig ein schwerwiegender Nachteil der resistenten Tiere in Abwesenheit von DDT und anderen Giftstoffen?

Die Wissenschaftler züchteten mutierte Taufliegen-Stämme und untersuchten darin alles, was als Maß eines erfolgreichen Lebens einer Fliege heranzuziehen wäre: die mittlere Anzahl der Nachkommenschaft, die Dauer der Entwicklung vom Ei zur Larve bei verschiedenen Umwelttemperaturen und die Lebensfähigkeit von Puppe, Larve und Jungtier. Eindeutiges Ergebnis: Wird das Resistenzgen von Fliegenmüttern auf die Nachkommenschaft vererbt, bietet die Resistenzgen-Variante sogar einen Vorteil, auch ohne giftige Beihilfe durch DDT. Das Resistenzgen hat demnach alles andere als Kosten und wird sich auch in Abwesenheit der Chemikalie immer weiter verbreiten.

Zumindest bei Taufliegen. Dass die Transposon-Wanderung aber auch in anderen Kerbtieren Resistenzen auslöst, dürfte bedeuten, dass der insekteneigene DDT-Schutz auch mit dem Verschwinden von DDT keineswegs Geschichte sein wird. Beunruhigend scheint nun insbesondere die Tatsache, dass DDT-resistente Stämme mit tatsächlich höherer Fruchtbarkeit auch gegen alternative angewandte Schädlingsbekämpfungsmittel Koresistenzen ausbilden – diese Stämme dürften sich schnell durchsetzten, meinen die Forscher. DDT würde auf diesem Weg nicht nur zur Verbreitung der Resistenz gegen sich, sondern auch jener gegen seine Alternativen beigetragen haben. Beunruhigende Neuigkeiten in einer Zeit, in der steigende Malariaopferzahlen die Seuchenbekämpfer in Süd-Afrika wieder vermehrt zur chemischen DDT-Keule greifen lassen.

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