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Raumfahrtgeschichte: Perestroika auf der Raumstation

Die russische Raumstation avancierte während ihrer letzten Betriebsjahre zum Inbegriff für unzuverlässige Technik. Dabei war sie bei ihrem Start vor 25 Jahren für westliche Staaten das Objekt der Begierde. Russische Ingenieure wussten genau, welche Tücken auf den langen Missionen im Erdorbit lauerten. Ihre reichen Erfahrungen begründeten die enge Zusammenarbeit auf der Mir, die auf der Internationalen Raumstation bis heute fortlebt.
Mir im Erdorbit
Die Chronik der Raumfahrt ist voll von großartigen Erstleistungen. Nahtlos reihen sich der Start von Sputnik-1, Juri Gagarins Flug in den Orbit oder Neill Armstrongs "kleiner Schritt" auf dem Mond aneinander. Danach wurde die Raumfahrt alltäglich und die Taten neuer Pioniere verloren an Glanz. Als am 19. Februar 1986 eine neue sowjetische Raumstation startete, war dies nur ein weiteres Zeichen für den menschlichen Aufbruch ins All und erst einmal kein Grund für große Worte. Da half es nichts, dass sie zum Parteitag der KPdSU in den Weltraum gelangte oder Wissenschaftler sowjetischer und westlicher Raumfahrtinstitute bereits verhandelten, dort enger zusammenzuarbeiten als je zuvor. Doch rückblickend sollte die Mir – bis dahin die größte eingesetzte Raumstation – durch die gemeinsame Forschung vieler Nationen eine neue produktive Phase der bemannten Raumfahrt einläuten.

Shuttle zu Besuch | Blick aus einem Fenster der Mir auf das Spaceshuttle Atlantis: Während der Mission STS-71 dockte 1995 erstmals eine amerikanische Raumfähre an die russische Raumstation.
Mit Alexander Wolkow und Sergej Krikaljow starteten im Jahr 1991 die beiden letzten noch sowjetischen Kosmonauten zur damals erst halb fertig gestellten Mir (russisch: Frieden, Welt oder Universum). Sie kehrten nach einigen Monaten und mit Verspätung als russische Raumfahrer in einen anderen, maroden Staat zurück, der kaum mehr über die nötigen Mittel für die Raumfahrt verfügte. Das Schicksal der Mir stand in den Sternen: Der wichtigste Startplatz für Kosmonauten und Weltraumfrachter – Baikonur – lag plötzlich im kasachischen Ausland, das für die Unterstützung entlohnt werden wollte.

"In dieser kritischen Phase trug Geld aus dem Westen sicher zum Überleben bei", sagt Uwe Rätsch, Autor eines der wenigen deutschsprachigen Fachbücher zur Mir. Denn alle ausländischen Partner kamen für die Kosten ihrer Raumfahrer selbst auf. Neben Astronauten aus Frankreich und Österreich flog 1992 der Pfälzer Klaus-Dietrich Flade nur sieben Monate nach dem Zerfall der Sowjetunion als erster Deutscher zur Mir. Die russische Raumfahrt ließ sich somit durch fiskalische Wirren kaum vom Kurs abbringen. Stattdessen öffnete sie sich nun umso mehr den alten Konkurrenten, die gerne an den jahrzehntelangen Erfahrungen russischer Ingenieure mit Raumstationen teilhaben wollten.

Schon seit dem Jahr 1971 trugen Raketen die einmoduligen und relativ kleinen Saljut-Stationen ins All, auf denen Kosmonauten erstmals längere Zeit im All verbrachten. Dauerhaft blieben diese Einwegstationen noch nicht im Orbit, denn die wenige Wochen dauernden Missionen verbrauchten die gesamten Vorräte an Bord. Bereits die nächste Saljut-Generation verfügte allerdings über zwei Kopplungsstutzen, an denen neben den Personentransportern unbemannte Progress-Frachter andockten, die von den bemannten Sojus-Raumkapseln abgeleitet waren. Sie versorgten die Kosmonauten mit Wasser, Sauerstoff und Verpflegung und verlängerten ihren Aufenthalt auf mehrere Monate. Erst jetzt lohnte sich die Errichtung eines noch größeren Forschungslabors in der Umlaufbahn: der Mir.

Ein Labor für jedermann

Nach dem Ende der Sowjetunion mussten die westlichen Staaten jedoch ebenfalls einen Strategiewechsel im All bewältigen. Die gemeinsam geplante Raumstation "Freedom" von USA, Westeuropa und Japan geriet in Finanzierungsnot. Noch dazu hatte keines der Partnerländer Erfahrungen mit Langzeitmissionen und der dauerhaften Versorgung einer Raumstation. Dagegen empfing die wenige Jahre alte Mir alle Besucher mit offenen Armen, die in russische Technik investierten. So wurde die Station für 400 Millionen US-Dollar auch zum Hafen für Spaceshuttles, die zwischen 1995 und 1998 neunmal andockten. Die Finanzspritze war zugleich Öl im Getriebe der klammen Raumfahrtbetriebe Russlands: Nach fünf Jahren der Stagnation startete 1995 wieder ein neues Modul zur Station, ausschließlich reserviert für die amerikanische Wissenschaft.

Medizinische Forschung | Astronaut Reinhold Ewald entnimmt sich auf der Mission Mir-97 selbst eine Blutprobe: Deutsche Forscher arbeiten im Weltraum bis heute eng mit ihren russischen Kollegen zusammen.
Wie ihre Besucher war die gesamte Forschung auf der Raumstation nun zunehmend westlich dominiert. Rund 16 000 Experimente liefen hier in 15 Jahren, die meisten aus den Bereichen Medizin und Biologie, Materialwissenschaften und Erdbeobachtung. Für Rupert Gerzer beispielsweise war das Labor in Schwerelosigkeit der ideale Ort, um überkommene Lehrmeinungen auf den Prüfstand zu stellen. Der heutige Leiter des Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln beschäftigt sich seit Langem mit dem menschlichen Salzhaushalt. Seine Kollegen entdeckten damals, dass Mir-Astronauten zu viel Salz zu sich nahmen, was ihren Knochenabbau beschleunigte. Diese Diagnose war fatal, immerhin bewirkt schon die fehlende Schwerkraft, dass sich das Skelett langsam zersetzt. "Wir dachten erst, wir hätten einen Fehler gemacht. Doch in Wahrheit haben wir eine Lawine losgetreten", erklärt Gerzer. Denn wie stark der körpereigene Salzhaushalt verbreitete Krankheiten wie Osteoporose und Bluthochdruck beeinflusst, interessiert seit dem Experiment auf der Mir immer mehr medizinische Arbeitsgruppen weltweit.

Pannen und der richtige Umgang damit

Trotz vieler wissenschaftlichen Erfolge: Ins kollektive Gedächtnis gelangte die Mir erst in den letzten vier Jahren ihres Bestehens. Am 24. Februar 1997 brach beim Wechsel einer Sauerstoffpatrone ein Brand aus und verteilte giftigen Rauch auf der Station. Nur vier Monate später kollidierte ein Progress-Frachter beim Andocken mit dem Spektr-Forschungsmodul, beschädigte Solarzellen und riss dabei ein Loch in die Außenhülle. Die Kosmonauten versuchten gegen alle Vorschriften, das Schott zum Modul zu schließen. Nach den Einsatzregeln hätten sie dagegen wegen knapper werdender Luft sofort das Rettungsschiff besteigen müssen. US-Astronaut Michael Foale vermerkte später, dass seine russischen Kollegen die Station "unter keinen Umständen" aufgegeben hätten: Die Dekompression der gesamten Mir hätte aber ihr Ende bedeutet. Trotz der glücklichen Wendung war der Betrieb der Station nun gefährdet. Die getroffenen Solarzellen waren die wichtigste Energiequelle gewesen, so dass deshalb in den kommenden Monaten mehrmals die Lageregelung der Mir ausfiel. Das mediale Bild der außer Kontrolle geratenen russischen Raumstation war geboren.

Gefährlich blockierte Luken | Am Ende des Basismoduls der Mir dockten vier Module: Kvant-2 und Kristall sowie die erst nach der intensiven Zusammenarbeit mit dem Westen gestarteten Spektr und Priroda. Als 1997 ein Versorgungsraumschiff mit Spektr kollidierte, versuchten die Raumfahrer, die Verbindungsluke zu dem Modul zu schließen. Dafür mussten sie erst zeitaufwändig die behindernden Leitungen durchtrennen. Nach dieser Erfahrung wird auf der Nachfolgestation ISS tunlichst jede Verbindungsluke frei gehalten.
Neben Foale erhoben später weitere seiner Kollegen schwere Vorwürfe gegenüber den russischen Hausherren. Sicherheitsbedenken würden in den Wind geschlagen und viele wollen "nichts mehr mit der Mir zu tun haben", fasst Mir-Buchautor Bryan Burrough die Haltung der US-Raumfahrer zusammen. Für Astronaut Andrew Thomas war das Leben auf der Station 1998 "ungewöhnlich, wenn nicht bizarr" oder entzog sich "jeder Beschreibung".

Die Amerikaner befremdete die russische Art Probleme zu lösen, ohne zuvor ausgiebig die Bodenstation zu konsultieren. Die viel exakteren NASA-Prozeduren waren auf maximal zweiwöchige Missionen des Spaceshuttle ausgelegt. Russische Kosmonauten waren es dagegen gewohnt, sich monatelang im All aufzuhalten. Sie hatten gelernt, dass von der Bodenstation unabhängig getroffene Entscheidungen das Leben erleichterten und sich bei Unfällen gar nicht vermeiden ließen. Der Ukrainer Pawel Romanowitsch Popowitsch erfuhr das schon auf den Vorgängerstationen der Mir: "Wenn wir früher auf der Erde 100 Notfälle trainiert hatten, passierte im All der 101. Heute werden 1000 Notfälle trainiert. Aber dann tritt der 1001. ein."

Popowitsch flog zu einer Zeit ins All, als russische Raumstationen noch klar das Attribut "pannengeschüttelt" verdienten. Zwischen 1971 und 1973 gingen gleich vier von ihnen verloren, weil sie keine stabile Umlaufbahn erreichten, im Orbit undicht wurden oder die Trägerrakete beim Start explodierte. Die Besatzung der ersten Station Saljut-1 kam bei der Rückkehr zur Erde wegen defekter Ventile der Sojus-11-Raumkapsel ums Leben. Die Mir steht am Ende dieser langen Lernkurve. Nur deshalb meisterten ihre Insassen selbst kritische Situationen an Bord der überalterten Station ohne den Verlust von Menschenleben.

Am 23. März 2001 stürzte die Mir nahe der Fiji-Insel Nadi kontrolliert in den Pazifik. Statt der ursprünglich fünf geplanten Missionsjahre blieb sie mehr als drei Mal so lang im All und hinterlässt einen reichen Erfahrungsschatz und diverse Rekorde in der Raumfahrtchronik. Der Arzt Waleri Poljakow verbrachte mit 437 Tagen mehr Zeit als jeder Mensch vor ihm im All. Die US-Astronautin Shannon Lucid forschte mit 188 Tagen länger als jede Frau vor ihr auf einer Raumstation. Jerry Linenger verließ als erster Amerikaner eine ausländische Raumstation – in einem russischen Raumanzug. Einige dieser Rekorde sind heute überholt: Seit Oktober 2010 ist die Internationale Raumstation der am längsten durchgängig bemannte Posten im All. Ohne die lange Zusammenarbeit auf der Mir wäre sie wohl nie gestartet.

Karl Urban

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