PFAS in Mittelbaden: Belastet für die Ewigkeit

»Als wir die Befunde vorliegen hatten, konnte es zunächst niemand glauben«, erinnert sich Frank Sacher vom Technologiezentrum Wasser (TZW) in Karlsruhe. Bei einer Routineuntersuchung hatten die Fachleute per- und polyfluorierte Chemikalien (PFAS) im Trinkwasser von Rastatt in Mittelbaden gefunden. Die Zufallsentdeckung im Jahr 2012 – in einem der wenigen Labore, die solche PFAS-Analysen überhaupt schon durchführen konnten – wurde danach nicht nur einer der größten Umweltskandale Deutschlands, sondern Sinnbild einer globalen Krise. Heute findet man PFAS, die fast unzerstörbar sind und deshalb Ewigkeitschemikalien genannt werden, überall: im ewigen Eis, in der Luft, im Blut und in Muttermilch.
Nach Tausenden von Boden- und Wasseruntersuchungen haben die Fachleute in Mittelbaden eine Mischung diverser PFAS in 1105 Hektar Böden nachgewiesen, das entspricht fast 1600 Fußballfeldern. Schätzungen zufolge könnten sich bis zu fünf Tonnen PFAS im Boden befinden und sich von dort aus in Grund- und Oberflächenwasser verbreiten. Eine vollständige Sanierung gilt als nahezu unmöglich – und wäre finanziell kaum zu stemmen. »Ich gehe mal von einem Minimum von zwei Milliarden Euro aus«, sagt Reiner Söhlmann, Leiter der PFAS-Geschäftsstelle im Landratsamt Rastatt. Seit über zehn Jahren koordiniert er die Maßnahmen rund um die PFAS-Belastung und kennt die Komplexität wie kaum ein anderer.
Die Ursache der Belastung waren, wie man heute weiß, PFAS-haltige Papierschlämme aus der Papierindustrie. Ein ortsansässiger Komposthändler mischte sie mit seinem Kompost und verschenkte diesen an Landwirte. Der Händler muss sich bis heute vor den Gerichten verantworten, im Gegensatz zu den 14 liefernden Firmen, deren Namen nicht veröffentlicht wurden.
Davon allerdings habe man am Anfang gar nichts gewusst, sagt Söhlmann. »Es erschließt sich ja auch nicht spontan, dass eine Industriechemikalie auf Ackerflächen zu finden ist.« Zuerst habe man an Industriebetriebe und mögliche Unfälle als Ursache gedacht. Nach Hinweisen auf die Aufbringung von Papierschlämmen begannen die Fachleute gezielt mit Probenahmen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Böden eine Mischung aus lang- und kurzkettigen PFAS sowie so genannten PFAS-Vorläufersubstanzen enthielten. Diese Stoffe reichern sich in der Umwelt an. Daraus ergaben sich für die stark belastete Region dringende Fragen: Wie verhalten sich die PFAS und ihre Vorläufersubstanzen in der Umwelt? Welche Risiken entstehen daraus?
Landwirtschaft auf belasteten Böden
Da es erst seit Januar 2022 einen bundesweiten Handlungsleitfaden zum Umgang mit PFAS-Belastungen gibt, musste die Region Mittelbaden nach den ersten Untersuchungen zunächst eigene Lösungen finden und Zuständigkeiten für den Umgang mit dem PFAS-Problem koordinieren. »Wir brauchten ein Managementkonzept, um den Verbraucherschutz zu sichern – also um sicherzustellen, dass bei der Nutzung von Boden, Grund- und Oberflächenwasser keine Gefahr für Menschen entsteht«, erklärt Söhlmann. Dies erfordere eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und Abstimmung von zuständigen Ämtern und übergeordneten Behörden, die das Ganze dann rechtsverbindlich umsetzen müssten. Zusätzlich zur PFAS-Geschäftsstelle am Landratsamt wurde 2017 eine Stabsstelle PFAS am Regierungspräsidium in Karlsruhe eingerichtet. Deren Aufgaben umfassen vor allem die organisatorische Beratung und die Informationsverarbeitung.
Was sind PFAS?
Hinter der Abkürzung PFAS versteckt sich eine riesige Gruppe von Substanzen – inzwischen sind mehrere Tausend dieser »Ewigkeitschemikalien« bekannt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie Kohlenstoff-Fluor-Bindungen enthalten, die schwer zu trennen sind. Zahlreiche PFAS enthalten lange Kohlenwasserstoffketten, an denen viele, oft alle Wasserstoff- durch Fluoratome ersetzt wurden. Das verleiht ihnen jede Menge für die Industrie äußerst nützliche Eigenschaften. Sie weisen sowohl Wasser als auch ölige Stoffe ab, weshalb sie für Beschichtungen eine wichtige Rolle spielen. Außerdem sind sie sehr hitzestabil, ein Beispiel für die sich ergebenden Anwendungen sind teflonbeschichtete Pfannen.
Diese Stabilität und Vielseitigkeit ist allerdings auch das Problem. Wegen der günstigen Eigenschaften nutzten Unternehmen PFAS in unzähligen Prozessen und entwickelten immer mehr spezialisierte Varianten dieser Stoffe. Doch da die Substanzen in der Umwelt praktisch nicht zerstört werden, reicherten sie sich an und tauchten nach und nach fast überall auf: im Eis der Polargebiete, im Grundwasser und in der Nahrung und schließlich in Blut sowie Muttermilch. Die Substanzen wieder loszuwerden, ist angesichts ihrer enormen Verbreitung nahezu unmöglich. Über die Umweltfolgen und die gesundheitlichen Auswirkungen dieser allumfassenden Kontamination ist bisher nur sehr wenig bekannt.
Die zentrale Frage des Verbraucherschutzes will Jörn Breuer vom Landwirtschaftlichen Technologiezentrum (LTZ) Augustenberg beantworten. Er untersucht, wie stark Pflanzen in der Landwirtschaft solche Stoffe aufnehmen. »Vor zehn Jahren gab es nur eine einstellige Zahl an Publikationen zu der Frage des PFAS-Übergangs vom Boden und Wasser in die Pflanzen«, erinnert er sich. Heute hingegen komme er mit dem Lesen der Veröffentlichungen nicht mehr hinterher.
Für das LTZ habe zunächst die Chemikalienbelastung des Spargels im Vordergrund gestanden – Mittelbaden ist eine Spargelregion. Anschließend wurden weitere Pflanzen untersucht, allerdings fehlte es zunächst an gesetzlichen Vorgaben zur Bewertung der PFAS-Mengen. Im Jahr 2015 habe das baden-württembergische Landwirtschaftsministerium dann Beurteilungswerte (BUW) für eine Regelung der Verwertung der Ernten erstellt, so Breuer.
Die Behörden entwickelten aus den Erkenntnissen ein achtseitiges Merkblatt für die Landwirtschaft, das auch heute noch festlegt, welche Pflanzen auf welchen PFAS-Flächen angebaut werden dürfen. »In Körnermais lassen sich die Chemikalien beispielsweise nur in Spuren finden, obwohl er auf PFAS-Flächen wächst. Tomaten, Weizen oder Soja ziehen die PFAS quasi aus dem Boden und sind demzufolge für den Anbau auf belasteten Flächen nicht geeignet.« Das daraus entwickelte und kontrollierte Anbausystem funktioniere. Breuer würde sich auch noch eine spezialisierte landwirtschaftliche Fachberatung für den Umgang mit stofflichen Bodenbelastungen wünschen.
Aber keineswegs nur die Landwirtschaft ist betroffen. PFAS aus den verseuchten Böden zu entfernen, ist nicht möglich, und so sickern die Stoffe dauerhaft in die Gewässer. Flüsse, Angelseen und Kieswerke sind belastet, und nicht zuletzt auch das Grundwasser, aus dem das Trinkwasser der Region stammt. Nach aktuellen Berechnungen sind rund 490 Millionen Kubikmeter Wasser im Untergrund betroffen – das entspricht in etwa dem Jahresverbrauch an Trinkwasser für ganz Baden-Württemberg.
Das Problem mit dem Trinkwasser
Für Olaf Kaspryk, Geschäftsführer der Stadtwerke Rastatt, ist die PFAS-Belastung eine komplexe, langwierige Aufgabe. Zuerst musste die Trinkwasserversorgung gesichert, dann mussten technische Lösungen entwickelt und finanziert werden – begleitet von rechtlichen und politischen Konflikten. Kaspryk musste eines seiner drei Wasserwerke komplett schließen, die beiden anderen wurden aufwändig mit Aktivkohlefiltern aufgerüstet.
Emotional wird das Thema jedoch, wenn es um den privaten Gartenbrunnen geht. Auch diese sind belastet, ebenso wie die Beregnungsbrunnen der Landwirte; sie zu reinigen, ist bislang nicht möglich. Das führt zu Konflikten. »Pumpe wird zum heiligen Gral«, titelten die »Badischen Neuesten Nachrichten« bei einem Artikel über eine emotional geführte Informationsveranstaltung – es ging um ein Nutzungsverbot für diese privaten Wasserquellen. Söhlmann empfiehlt pragmatisch: Leitungswasser nutzen – es wird in der Region ohnehin zwangsweise aufbereitet. Dafür verwenden die Wasserversorger entweder Aktivkohlefiltration oder Membranfilter.
Bisher haben die betroffenen Wasserversorger der Region rund 30 Millionen Euro in PFAS-Maßnahmen investiert. Das Umweltministerium hat davon einen Teil übernommen – den Rest müssen die Verbraucher über die Wasserpreise zahlen. Aber das gereinigte Trinkwasser erfüllt bereits heute die ab 2026 geltenden, strengeren EU-Grenzwerte für PFAS; das ist ein greifbarer Erfolg inmitten eines komplexen Krisenmanagements. Kaspryks Erfahrungen flossen in eine Handlungsempfehlung für den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft ein, die Anfang 2025 veröffentlicht wurde; andere Wasserversorger können nun davon profitieren. Auch das Land Baden-Württemberg hat beträchtliche Mittel aufgewendet, um die Folgen der Belastung einzudämmen. Die Landesanstalt für Umwelt in Baden-Württemberg hat ein Grundwassermodell entwickelt, das die PFAS-Ausbreitung räumlich und zeitlich simuliert – und so gezielte Prognosen ermöglicht, wann welche Brunnen betroffen sein werden. Bis heute wurden über 15 Millionen Euro in Untersuchungen, Pilotprojekte und Verbraucherschutzmaßnahmen investiert. Darunter auch in zusätzliches Personal, Blutuntersuchungen sowie Mess- und Forschungsprogramme. Hinzu kommen Kosten auf kommunaler Ebene sowie bei Landwirten und Betrieben, etwa für die Entsorgung PFAS-belasteter Böden bei Bauvorhaben. Das betrifft übrigens auch Privatleute, wenn sie das Pech haben, dass auf ihrem Grundstück belastete Böden entdeckt werden.
Welche Optionen gibt es überhaupt, um mit einer derart komplexen Belastung umzugehen? Behörden und Forschungseinrichtungen arbeiten an neuen Ansätzen für die Sanierung. Auf einem Acker in Mittelbaden stehen im August 2023 zwei große Container, darin verschiedene Apparate. Anja Wilken vom Forschungsprojekt »Fabeko«, das hier die Sanierung belasteter Böden untersucht, erklärt den Ansatz, den die Experten verschiedener Institute hier verfolgen. Die Chemikalien sollen aus dem Boden gelöst und ausgewaschen werden. »Die belasteten Böden werden dafür mit einer Polymerlösung auf Basis von Hefeextrakten und pflanzlichen Ölen durchströmt«, erläutert Wilken. »Die PFAS binden an die Biopolymere und gehen in Lösung über. Dieses Spülwasser wird anschließend gezielt aufgefangen und außerhalb des eigentlichen Bodenkörpers behandelt, konzentriert und thermisch entsorgt.« Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert und Ende 2024 abgeschlossen.
Wird der Boden jemals wieder sauber?
Der Ansatz funktioniert andernorts sehr gut, aber leider nicht bei der speziellen PFAS-Zusammensetzung in Mittelbadens Böden. Es sind die Vorläufersubstanzen, die dabei Probleme machen. Im Januar 2024 ist eine andere Forschergruppe auf dem gleichen Acker vor Ort. Schon von Weitem sind Fahrzeuge zu sehen, die Aktivkohle (AK) in den Boden einarbeiten. Damit wolle man dort die PFAS binden, so Claus Haslauer von der Universität Stuttgart. Er ist Projektleiter des Verbundprojekts PFClean, das ebenfalls vom BMBF finanziert wird.
»Mit der AK-Menge, die wir hier eingebracht haben, könnten wir theoretisch den 1000-fachen geschätzten PFAS-Gehalt im Boden zurückhalten«, erklärt Haslauer. Erste Feldmessungen bestätigen diesen Effekt – entscheidend sind jedoch Langzeitdaten, um zu klären, wie stabil die Bindung über Jahre bleibt. Denn: Regenmengen, Temperaturverläufe und die Umwandlung von PFAS-Vorläufersubstanzen können die Situation im Boden verändern. Parallel wird untersucht, ob sich Vorläufersubstanzen durch gezielte Strömung und Wärmezufuhr mobilisieren und in messbare Endprodukte überführen lassen. Diese könnten dann mittels Aktivkohle aus dem Grundwasser abgefangen werden. Auch Verfahren, die PFAS-Verbindungen durch Hitze aus ihren stabilen Strukturen im Untergrund zu lösen, erproben die Fachleute.
Ob das alles letztendlich funktionieren wird? Im Juni 2025 zeigt sich Haslauer vorsichtig optimistisch und mit den ersten Ergebnissen der AK-Bindung zufrieden, insgesamt müsse man noch mehr Ergebnisse abwarten. Reiner Söhlmann sieht Chancen, aber auch Grenzen des Ganzen: »Bei der Immobilisierung geht es darum, Zeit zu gewinnen, um betroffene sensible Nutzungen zu schützen.« Denn Aktivkohle zerstört PFAS nicht – sie verzögert nur deren Übergang ins Grundwasser. Ist die Bindungskapazität der AK erschöpft, besteht erneut das Risiko, dass die Chemikalien dorthin gelangen. Sollte das Verfahren allerdings wirtschaftlich sein, wäre dies für einzelne Flächen durchaus eine Überlegung wert.
Was in Mittelbaden als aus der Not geborene Antwort auf ein regionales Umweltproblem begann, ist heute Teil eines europaweiten PFAS-Netzwerks. Das TZW, die Stadtwerke Rastatt und das Landratsamt beteiligen sich am EU-Projekt ZeroPM, das neue Ansätze entwickelt, PFAS zu vermeiden, zu entfernen oder zu ersetzen. Das TZW konzentriert sich dabei auf neue Verfahren zur Wasseraufbereitung und arbeitet eng mit den Stadtwerken in Rastatt zusammen. Der Landkreis wiederum profitiert von dem direkten Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen und dem Austausch mit europäischen Wissenschaftlern.
Gegen Ewigkeitschemikalien hilft nur verhindern
Für Frank Sacher ist diese europäische Einbettung besonders wichtig – PFAS seien ein grenzüberschreitendes Problem. Zudem begleite ZeroPM die PFAS-Thematik auch politisch und unterstütze das angestrebte Verbot auf EU-Ebene.
Seit Februar 2023 liegt dafür ein entsprechender Vorschlag, die PFAS zu beschränken, bei der Europäischen Chemikalienagentur ECHA vor. Ziel ist ein weit reichendes Verbot der gesamten PFAS-Gruppe, mit wenigen Ausnahmen, etwa für medizinische Produkte oder bestimmte Anwendungen in der Green Economy.Während die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nachteile für die Industrie befürchtet, unterstützen das hiesige Umwelt-, Landwirtschafts- und Sozialministerium diesen Vorschlag, ebenso wie die Region Mittelbaden. »Von der PFAS-Problematik sind alle hier betroffen«, sagt Reiner Söhlmann. »Da diskutiert man dann nicht mehr darüber.«
Ironischerweise kämpfen heute auch einige Papierfabriken mit den Folgen der Chemikalien, die sie einst in Umlauf brachten. Eine der damals beteiligten Firmen betont: »Wir verwenden seit mehreren Jahren keine PFAS-haltigen Chemikalien mehr.« Doch die früheren Belastungen wirken nach. Das Unternehmen betreibt heute eine eigene Deponie mit Oberflächenabdichtung, Sickerwassererfassung und Abwasserreinigungsanlage. PFAS lassen sich in einem abgegrenzten Bereich im Boden sowie im Sicker- und Grundwasser nachweisen. Das belastete Wasser wird behandelt, die Belastung reduziert und kontinuierlich überwacht. Die Kosten für diese Maßnahmen trägt das Unternehmen selbst; die Umsetzung erfolgt unter behördlicher Aufsicht. Der Fall zeigt: Auch wenn technische Lösungen möglich sind, bleibt der Aufwand dauerhaft hoch.
Anders als in einer einzelnen Papierfabrik kann man die PFAS-Folgen in der Region Mittelbaden nicht mehr eingrenzen. »Die Ursache wurde in vermeintlich harmlosen und sogar für den Lebensmittelkontakt zugelassenen Stoffen gefunden, die teilweise bis heute verwendet werden«, sagt die Stabsstelle. Für Verbraucher sei der Gehalt an PFAS im Papier jedoch nicht erkennbar. Da das Papier meist recycelt oder im Kompost entsorgt werden würde, könnten die Ewigkeitschemikalien auch heute noch über diesen Weg unerkannt in die Umwelt gelangen und sich dort anreichern. Immerhin: Eine neue EU-Verordnung verbietet ab dem 12. August 2026 den Einsatz von PFAS in Lebensmittelverpackungen – eine Maßnahme, die viele in Mittelbaden für längst überfällig halten.
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