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Reform der Pflegeversicherung: »Der Staat muss pflegende Angehörige vor Überlastung schützen«

Vier von fünf pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause gepflegt. Doch häusliche Pflege sei keine Privatsache, sagt der Sozialphilosoph Bernhard Emunds im Interview. Der Staat müsse Betroffene viel stärker unterstützen.
Eine ältere Dame hilft einem Mann die Treppe hinauf.

In der häuslichen Pflege läuft einiges schief. Pflegende Angehörige klagen über fehlende Unterstützung, viele Leistungen der Pflegeversicherung werden nicht genutzt, weil Angebote fehlen. Die Politik müsse stärker eingreifen, fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem aktuellen Arbeitspapier zur zukunftsfähigen Altenpflege. Der Staat trage Verantwortung für den Schutz der pflegebedürftigen Menschen und müsse außerdem dafür sorgen, dass pflegende Angehörige nicht überlastet werden, sagt Bernhard Emunds, einer der Mitautoren. Im Interview erklärt der Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie, was sich ändern muss.

Riffreporter.de: Ist es nicht Privatsache, wenn man einen Angehörigen pflegt? Was hat der Staat damit zu tun?

Bernhard Emunds: Der Staat hat eine Schutzverantwortung für pflegebedürftige Menschen. Sie leitet sich aus dem Sozialstaatsgebot ab. Da Pflegebedürftige physisch oder mental nicht in der Lage sind, vollumfänglich für sich selbst zu sorgen, kommt dem Staat eine Garantenstellung zu. Er muss etwaigen Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte vorbeugen und ihnen entgegenwirken. Meine Mitautoren und ich sind der Meinung, dass der Staat aber auch eine Verantwortung für pflegende Angehörige hat und sie vor Überlastung schützen muss. Zum einen, weil Überlastung zu einer Gefährdung der pflegebedürftigen Person führen kann, etwa in Form von Vernachlässigung oder Gewalt. Zum anderen, weil Pflegende ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Im Moment sehen wir, dass das Wohl der Pflegebedürftigen und der Pflegepersonen gefährdet ist, weil Unterstützungsangebote fehlen. Viele Pflegende sind völlig überlastet, sie werden krank oder sind sozial isoliert.

Wir finden, dass Menschen mit niedrigen Löhnen nicht weniger für die Pflege bekommen sollen als GutverdienerBernhard Emunds, Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie

Das wird seit Jahren beklagt. Was muss sich ändern?

Nehmen Sie die Pflegeversicherung. Sie ist bisher ganz auf die Pflegebedürftigen zugeschnitten. Ein Beispiel: Selbst das Pflegegeld, das eigentlich für pflegende Angehörige gedacht ist, wird den Pflegebedürftigen ausgezahlt. Kommt ein Pflegedienst zur Unterstützung, wird das Pflegegeld reduziert. Das halten wir für hochproblematisch, weil manche pflegende Angehörige auf das Einkommen angewiesen sind. Es wird also ein Anreiz gesetzt, auf professionelle Unterstützung zu verzichten. Diese ist aber eine wichtige Entlastung und hilft den Angehörigen, gut zu pflegen.

Bernhard Emunds

Der Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie leitet das Oswald von Nell-Breuning Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt/Main. Er ist unter anderem Wissenschaftlicher Beirat der Hans-Böckler-Stiftung und gehört zu den Herausgebern der Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung (DIW) und der Buchreihe »Ethik und Gesellschaft«.

Sie sprechen sich für eine doppelte Personenzentrierung in der Pflegepolitik aus. Ein sperriger Begriff. Was meinen Sie damit?

Der Begriff Personenzentrierung kommt aus der Behindertenhilfe. Er meint einen Leistungsanspruch, der die Person und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und nicht in Töpfen und Zuständigkeiten denkt. Doppelte Personenzentrierung meint, dass neben dem Wohl der Pflegebedürftigen auch das Wohl der Pflegenden in den Blick genommen werden muss.

Sie fordern unter anderem den Umbau der Pflegeversicherung. Auch pflegende Angehörige sollten Anspruch auf Leistungen haben. Wie könnte das konkret aussehen?

Wir schlagen eine eigenständige finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige vor. Wenn jemand sagt: »Ich übernehme eine Pflege«, dann hat er Anspruch auf ein Transfereinkommen in Höhe des Mindestlohns. Wir nennen es in unserem Papier Pflegendengeld. Diese Zahlung soll verhindern, dass Personen, die pflegen, finanziell abhängig oder arm werden. Die Höhe des Betrags richtet sich danach, wie stark die Arbeitszeit reduziert wird. Wer nur noch halbtags arbeitet, würde 50 Prozent des Pflegendengeldes bekommen. Wer ganz aufhört, hätte Anspruch auf 100 Prozent. Auch Menschen, die nicht berufstätig waren, weil sie beispielsweise Kinder versorgt haben, sollen Pflegendengeld beziehen können. Ganz wichtig: Das Pflegendengeld wird nicht gekürzt, wenn ein Pflegedienst bei der Pflege unterstützt.

Die Ampelkoalition hat vereinbart, eine Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige einzuführen, die Pflegezeit nehmen und vorübergehend zu Hause bleiben oder Teilzeit arbeiten. Warum wählen Sie ein anderes Modell?

Wir finden, dass Menschen mit niedrigen Löhnen nicht weniger für die Pflege bekommen sollen als Gutverdiener. Die Leistung, die sie erbringen, ist gleich. Und es ist eine Leistung für die Allgemeinheit, denn Pflege gilt bei uns zu Recht als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«.

Wenn man sich die Pflege in Deutschland anschaut, ist allen klar: Wir brauchen eine höhere Qualität und mehr UnterstützungBernhard Emunds

Der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf spricht sich für eine Begrenzung der Pflegezeit aus. Er sieht die Gefahr, dass Pflegende – vor allem Frauen – andernfalls über Jahre diese Aufgabe allein tragen. Sie wollen das Pflegendengeld dauerhaft zahlen. Warum?

Ich kann das Argument des Unabhängigen Beirats verstehen. Das größere Problem ist nach unserer Meinung jedoch, wenn mitten im Pflegeprozess die finanzielle Unterstützung wegfällt, der Pflegebedarf aber weiterhin besteht. Um Überlastung zu vermeiden, soll es eine kontinuierliche Beratung geben. Spätestens mit Pflegegrad 5, wenn eine Versorgung zu Hause sehr schwierig wird, sollen die Berater und Beraterinnen darauf hinwirken, nach einem Platz in einem Pflegeheim oder einer Pflege-WG zu suchen.

Berater und Beraterinnen? Wer soll das sein?

Diese Aufgabe soll von so genannten Pflegestützpunkten Plus übernommen werden. Uns schwebt vor, dass jeder Bürger und jede Bürgerin zum 75. Geburtstag eine Einladung zu einem Besuch bei sich zu Hause bekommt. Die Beraterinnen und Berater sollen über Angebote für Seniorinnen und Senioren vor Ort informieren und die Arbeit der Pflegestützpunkte Plus vorstellen. Uns ist wichtig, früh ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Bei einer sich ankündigenden oder bestehenden Pflegebedürftigkeit sollen die Beraterinnen dabei helfen, Anträge zu stellen und alle notwendigen Leistungen zu organisieren. Sie sollen den Pflegeprozess kontinuierlich begleiten und halbjährlich Gespräche mit den Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen führen, um Hilfestellung zu geben und einer Überlastung vorzubeugen. Es reicht nicht, eine Schutzverantwortung des Staats zu proklamieren. Wenn es zu einer Gefährdung der pflegebedürftigen Person oder der Pflegenden kommt, braucht es einen Akteur, der interveniert.

Es gibt schon jetzt Pflegestützpunkte. Warum wollen Sie eine neue Struktur schaffen?

Uns ist wichtig, dass die Pflegestützpunkte Plus von den Kommunen getragen werden und anders als die aktuellen Pflegestützpunkte unabhängig von den Pflegekassen sind. Sonst besteht ein Interessenkonflikt: Es ist immer schwierig, wenn derjenige, der berät, selbst für eine Leistung zahlen muss.

Viele Pflegende kritisieren, dass es nicht an Beratung mangelt, sondern an Angeboten. Plätze in der Tages- oder der Kurzzeitpflege sind rar. Die Anbieter entscheiden selbst, wo sie eine neue Einrichtung eröffnen …

Das stimmt. Man hat dem Markt zu viel überlassen, wir brauchen viel stärkere Planung. Unsere Idee ist, dass die Pflegestützpunkte Plus hier eine zentrale Rolle spielen. Die Mitarbeiterinnen bekommen in der Beratung ja mit, wo es hakt und Angebote fehlen. Die Pflegestützpunkte Plus sollen diese Informationen bündeln, in lokalen Pflegekonferenzen mit den Anbietern vor Ort nach Lösungen suchen und im Austausch mit der Politik neue Angebote entwickeln.

Das alles kostet viel Geld. Woher soll es kommen?

Ich denke, wir werden mit dem System der Pflegeversicherung weiterarbeiten müssen. Aber wenn man neue Leistungen wie das Transfereinkommen für pflegende Angehörige einführt, braucht es einen großen Steuerzuschuss. Hier geht es ja nicht darum, das individuelle Risiko der Pflegebedürftigkeit abzusichern, das ist die Aufgabe der Pflegeversicherung. Es geht um die Absicherung von Menschen, die Aufgaben übernehmen, für die es eine Verpflichtung des Gemeinwesens gibt. Das muss steuerlich finanziert werden. Wenn man sich die Pflege in Deutschland anschaut, ist allen klar: Wir brauchen eine höhere Qualität und mehr Unterstützung. Das muss vom Staat und uns allen gemeinsam getragen werden.

Das Arbeitspapier

Das Arbeitspapier »Doppelte Personenzentrierung – Leitideen für den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung« ist für das DFG-Projekt »Zukunftsfähige Altenpflege. Sozialethische Reflexionen zur Bedeutung und Organisation personenbezogener Dienstleistungen« entstanden. Es wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt/Main und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster erstellt und in einem Workshop für Fachleute Ende Juni 2022 diskutiert.

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