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Phagen: Viren können nicht nur schaden, sondern auch helfen

Das menschliche Virom besteht aus 380 Billionen Viren. Einige schlummern über Jahre hinweg im Körper, um dann entweder anzugreifen oder zu schützen. So können Menschen sie nutzen.
Immunabwehr

2020 haben Millionen von Menschen weltweit ihre Lebensweise radikal geändert, um den Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden und die Corona-Pandemie zu stoppen. Trotzdem sind viele an verschiedenen Virusinfektionen erkrankt. Wie kann das sein? Es wird immer klarer, dass viele Viren still im menschlichen Körper lauern, versteckt in Zellen in der Lunge, im Blut und in den Nerven, bevor sie irgendwann aktiv werden.

Biologen schätzen, dass derzeit 380 Billionen Viren auf und im menschlichen Körper leben – zehnmal mehr als Bakterien. Einige können Krankheiten verursachen, aber viele koexistieren einfach mit uns. Ende 2019 zum Beispiel entdeckten Forscher an der University of Pennsylvania 19 verschiedene Stämme des Redondovirus in den Atemwegen; einige davon stehen mit Parodontal- oder Lungenerkrankungen in Verbindung, andere hingegen könnten möglicherweise Atemwegserkrankungen verhindern. Die aktuelle Forschung zeigt zunehmend, dass Menschen nicht in erster Linie aus »menschlichen« Zellen bestehen, in die gelegentlich Mikroben eindringen. Der Körper ist in Wirklichkeit ein Superorganismus aus Zellen, Bakterien, Pilzen und vor allem Viren. Studien zufolge ist möglicherweise die Hälfte aller biologischen Materie in unserem Körper nicht menschlich.

Noch vor zehn Jahren war den Forschern kaum bewusst, dass das menschliche Virom überhaupt existiert. Heute sehen wir es als integralen Bestandteil des größeren menschlichen Mikrobioms: passive und aktive mikroskopische Organismen, die fast jeden Winkel von uns besetzen. Wir kartografieren das Virom seit zehn Jahren, und je genauer wir es untersuchen, desto mehr stellt sich heraus, dass wir mit ihm eine Partnerschaft eingegangen sind, die unser tägliches Leben sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann.

Neuere Forschungen zeigen, dass wir das Virom sogar zur Förderung unserer eigenen Gesundheit nutzen könnten. Forscher der Rockefeller University haben zum Beispiel ein Enzym eines Virus genutzt, um Bakterien abzutöten, die bei Patienten gefunden wurden, die gegen eine methicillinresistente Staphylokokkeninfektion kämpfen. Die Ergebnisse sind so ermutigend, dass die US Food and Drug Administration das Enzym als »bahnbrechende Therapie« bezeichnet hat. Es befindet sich jetzt in der Phase III klinischer Studien.

Heute spricht so mancher routinemäßig über »gute« und »schlechte« Bakterien. Viren fallen in die gleichen Kategorien. Die Herausforderung besteht nun darin, herauszufinden, wie sich die schlechten Bakterien sowie Viren stoppen und die guten fördern lassen.

Bei der Geburt infiziert

Der menschliche Körper ist eine reichhaltige Umgebung für Mikroben, die voll von Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten ist. Viele Viren gedeihen friedlich in uns, ohne uns krank zu machen. Vor einem Dutzend Jahren führten Fortschritte in der Genomsequenzierung dazu, dass die Forschung reichlich Viren in Mund und Darm entdeckte. Bis etwa 2013 haben Wissenschaftler Viren auf der Haut und in den Atemwegen, im Blut und im Urin lokalisiert, in jüngster Zeit an noch überraschenderen Orten.

Zusammen mit Kollegen habe ich im September 2019 Viren im Liquor von Erwachsenen entdeckt, die auf verschiedene Erkrankungen getestet wurden. Die Viren gehörten zu mehreren verschiedenen Familien und wurden mit keiner bekannten Krankheit in Verbindung gebracht. Wir fanden die gleichen Viren auch in Blutplasma, Gelenkflüssigkeit und Muttermilch. Wir wussten, dass sich einige wenige seltene infektiöse Viren, insbesondere Herpes, in den Liquor einschleichen können, aber es war eine Überraschung, diese passiven Viren zu entdecken.

Es scheint, dass sich unsere Viren bei der Geburt anfangen zu sammeln. Studien zeigen eine hohe Diversität von Viren im Säuglingsdarm kurz nach der Geburt. Demnach stammen sie wahrscheinlich von den Müttern der Säuglinge und wurden zum Teil über die Muttermilch aufgenommen. Die Menge einiger dieser Viren nimmt ab, wenn die Kinder älter werden. Andere gelangen über die Luft, das Wasser, die Nahrung und andere Menschen in unseren Körper. Diese Viren nehmen an Zahl und Vielfalt zu und infizieren Zellen, wo sie jahrelang überleben. Säuglingsviren sind instabil, während adulte Virome relativ stabil sind. Anelloviren, eine Familie von 200 verschiedenen Arten, kommen mit zunehmendem Alter in fast allen Menschen vor. Ähnliches beobachten wir bei Bakterien.

Menschen als Jagdrevier für Viren

Viele der im menschlichen Körper lebenden Viren greifen Zellen nicht an. Stattdessen suchen sie nach den Bakterien im Mikrobiom. Diese Viren, die als Bakteriophagen oder Phagen bekannt sind, schleichen sich in Bakterienzellen ein, nutzen die dortige Maschinerie, um Kopien von sich selbst herzustellen, und infizieren dann weitere Bakterien, wobei sie ihre Wirtszellen töten. Bakteriophagen sind in der Natur nahezu allgegenwärtig. Man findet sie im Boden, in jeder Wasserquelle vom Ozean bis zu Ihrem Wasserhahn zu Hause und in extremen Umgebungen wie sauren Minen, in der Arktis und heißen Quellen. Sie schweben sogar in der Luft. Sie halten sich an all diesen Orten, weil sie die Bakterien jagen, die dort leben. Wir Menschen sind nur ein weiteres Jagdrevier.

Im Jahr 2017 zeigten Sophie Nguyen und Jeremy Barr, damals an der San Diego State University, dass viele Phagen durch Schleimhautmembranen an ihren endgültigen Aufenthaltsort im Körper gelangen. In Laborexperimenten arbeiteten sich Phagen durch Membranen, wie sie in Darm, Lunge, Leber, Niere und sogar im Gehirn zu finden sind. Wenn sie jedoch nach dem Zufallsprinzip an einen Ort wie das Zentralnervensystem gelangen, an dem es nur wenige Bakterien als Wirt gibt, können sie sich möglicherweise nicht vermehren.

Unser persönliches Virenprofil

Das Virom kann von einem Körperteil zum anderen sehr unterschiedlich sein. Als Kollegen und ich an unerwarteten Stellen nach Viren suchten, stellten wir auch fest, dass Viren im Mund anders sind als Viren im Darm und dass diese sich wiederum von Viren im Urin oder im Blut unterscheiden. Wir wussten, dass dies bei Bakterien der Fall ist, aber wir hatten nicht genügend Daten für Viren. Es ist zwar nicht schwer, Freiwillige zu finden, die in einen Becher spucken, doch es ist schwierig, sie dazu zu bewegen, Stuhl- oder Blutproben abzugeben, und die Universitäten dazu zu bewegen, die Entnahme und Verarbeitung dieser Proben zu genehmigen. Wenn wir diese Proben haben, müssen wir die Bakterien herausfiltern, so dass winzige Stücke viralen Materials zurückbleiben. Diese untersuchen wir dann unter dem Mikroskop und sequenzieren schließlich die Nukleinsäuren, die für die vorhandenen Gene codieren. Trotz dieses Aufwands gibt es nun genügend Daten, so dass Forscher allein anhand der vorliegenden Viren sagen können, welchen Teil des Körpers sie untersuchen.

Phagen-Attacke | Bestimmte Viren greifen Bakterien an, schleichen sich hinein und nutzen die dortige Maschinerie, um Kopien von sich selbst herzustellen.

Meine Kollegin Melissa Ly von der University of California, San Diego, und ich haben auch gezeigt, dass wir durch den Vergleich der Virome nicht verwandter Menschen feststellen können, welche von ihnen zusammenleben. Obwohl verschiedene Menschen deutlich unterschiedliche Virome haben können, scheinen Menschen, die zusammenleben, etwa 25 Prozent der Viren in ihrem Virom zu teilen. Viren können von einem Haushaltsmitglied auf das andere übertragen werden, und zwar nicht nur durch typische ansteckende Erkrankungen wie Husten, sondern auch durch gelegentlichen Kontakt und die gemeinsame Nutzung von Waschbecken, Toilette, Schreibtisch und Lebensmitteln. Intimkontakt scheint dabei kaum einen Unterschied zu machen; es reicht aus, nur im selben Haushalt zu wohnen.

Das Rätsel ist jedoch knifflig. Shira Abeles, ebenfalls an der U.C. San Diego, hat große Unterschiede bei den oralen Viromen von Männern und Frauen festgestellt. Hormone könnten der Grund dafür sein, aber niemand hat bislang einen solchen Zusammenhang nachgewiesen. Wir wissen, dass die Virome je nach geografischer Population sehr unterschiedlich sein können. Zum Beispiel ist die Vielfalt der Virome von Individuen in westlichen Ländern geringer als die von Individuen in nicht westlichen Ländern. Diese Unterschiede können sowohl mit der Ernährung als auch mit der Umwelt zusammenhängen.

Mechanismus kann schwere Verläufe bei Covid-19 erklären

Viele Viren in unserem Virom infizieren Bakterien, doch ein kleinerer Anteil infiziert Zellen in unserem Gewebe direkt. Diese Viren sind eventuell in der Minderheit, weil unser Immunsystem sie unterdrückt. Iwijn De Vlaminck, damals an der Stanford University, zeigte, dass die Präsenz bestimmter Viren dramatisch zunimmt, wenn das Immunsystem einer Person stark angegriffen ist – zum Beispiel, wenn jemand eine Organtransplantation erhalten hat und immunsuppressive Medikamente einnehmen muss, um eine Abstoßung des Organs zu vermeiden. In solchen Fällen sehen wir einen Anstieg sowohl von Viren, die bekanntermaßen Krankheiten verursachen, als auch von solchen, die dies nicht tun. Jene Beobachtung deutet darauf hin, dass unser Immunsystem unter normalen Umständen das Virom in Schach hält. Wenn die Immunität beeinträchtigt ist, können sich die Viren allerdings leicht vermehren.

Dieser Mechanismus könnte auch hinter den verschiedenen Verläufen von Covid-19 stecken. Schwer Erkrankte können Koinfektionen entwickeln. Am häufigsten ist eine sekundäre bakterielle Lungenentzündung oder Bakteriämie (ein Anstieg von Bakterien in der Blutbahn), an der Organismen wie Staphylococcus aureus und Streptococcus pneumoniae beteiligt sind. Wir haben auch virale Koinfektionen wie mit dem Grippeerreger, dem Respiratory Syncytial Virus und dem Adenovirus beobachtet. Im Virom lauernde Viren wie das Epstein-Barr- und das Zytomegalievirus können ebenfalls reaktiviert werden. Wenn das Immunsystem mit Covid-19 beschäftigt ist, ist der Patient vielleicht anfälliger für andere Virusausbrüche.

Phagen haben eine schlaue Strategie

Obwohl sie Jäger sind, leben viele Phagen lange Zeit in Harmonie mit ihrer Beute, manche führen nie zu einer Krankheit. Ein Virus ist nur ein Proteinknäuel, das ein Molekül mit genetischen Instruktionen umhüllt – den genetischen Code des Virus. Wenn einige Phagen ein Bakterium infizieren, integrieren sie ihr Genom in seines. Obwohl sich bestimmte Viren sofort vermehren und ihre Wirtsbakterien töten, bleiben andere Phagen einfach in ihrem Wirt wie in einem stillen Winterschlaf.

Das menschliche Virom

Dies ist wahrscheinlich eine Überlebensstrategie: Wenn sich das Wirtsbakterium teilt und eine Kopie seines Genoms erstellt, kopiert es auch das Phagengenom. In diesem Modell bestimmt das Überleben des Wirts das Überleben des Phagen. Deshalb ist es im Interesse des Phagen, seinen Wirt zu erhalten. Es ist klar, warum eine solche Strategie dem Phagen nützt, aber nicht so klar, wie sie den Bakterien nützen könnte. Scheinbar haben sich viele Bakterien im Körper daran gewöhnt, mit ihren Phagen zu leben.

Wenn sich die Gelegenheit bietet, können Phagen aus ihrem Winterschlaf aufwachen und viele Nachkommen produzieren, die ihre Wirtszellen töten. Manchmal nehmen die austretenden Phagen bakterielle Gene mit sich. Diese Nutzlast kann zuweilen den nächsten Bakterien, die die Phagen infizieren, zugutekommen. Ich habe beispielsweise Phagen in Speichel gefunden, die Gene tragen, die den Bakterien dabei helfen, unserem Immunsystem zu entgehen. Einige Phagen tragen sogar Gene mit sich, die Bakterien helfen, Antibiotika zu widerstehen. Phagen brauchen solche Gene nicht, weil Phagen nicht durch Antibiotika getötet werden können. Wenn sie also die Gene an Bakterien abgeben, fördern sie das Überleben der Wirte – was zugleich bedeutet, dass die Phagen überleben. Wir sehen diese Art von Transfer häufig.

Viren, die uns helfen

Das Bakterium Pseudomonas aeruginosa etwa, am besten bekannt als Verursacher der Lungenentzündung, löst eine Reihe von Krankheiten aus. Menschen, die an Lungenkrankheiten wie Mukoviszidose leiden, bekommen dieses Bakterium normalerweise nicht mehr los, selbst wenn sie Antibiotika einnehmen. Manchmal integriert Pseudomonas aeruginosa so genannte filamentöse Phagen in sein Genom. Im Jahr 2019 entdeckten Forscher unter der Leitung einer Gruppe in Stanford, darunter Elizabeth Burgener und Paul Bollyky, dass fadenförmige Phagen eine schützende Mantelschicht aus Kohlenhydraten und Proteinen bilden können, die den Bakterien helfen, sich vor Antibiotika zu verstecken. Dadurch können die Bakterien an Ort und Stelle ausharren und irgendwann eine Infektion verursachen.

Von hier aus ist es kein großer Schritt zu der Frage, ob wir die in uns lebenden Viren nutzen können. Wir haben bereits einige Fälle gefunden, in denen dies auf natürliche Weise geschieht. Wenn sich Phagen auf der Suche nach Bakterien im Körper bewegen, binden sich einige von ihnen an Zellen auf der Oberfläche von Schleimhautmembranen, beispielsweise von denen, die Nase, Rachen, Magen und Darm auskleiden. Die Phagen können sich dort nicht vermehren, aber sie können darauf warten, dass ein verletzlicher Wirt vorbeikommt.

Dieser Prozess könnte uns theoretisch vor einigen Krankheiten schützen. Angenommen, Sie essen Lebensmittel, die mit Salmonellen kontaminiert sind. Wenn diese Bakterien an der Magenmembran ankommen, könnten die Phagen dort die Bakterien infizieren und sie abtöten, bevor sie Krankheiten verursachen können. Auf diese Weise dienen Phagen de facto als Immunsystem, das uns vor Krankheiten schützt. Bisher hat dies noch niemand bewiesen. Aber wie 2019 eine Forschungsgruppe in Finnland zeigte, überdauerten Phagen, die in Schweinen und Regenbogenforellen an Schleim gebunden sind, dort sieben Tage lang und schützten die Tiere vor einem Bakterium.

Hilfe bei antibiotikaresistenten Bakterien

Ein Phage, der viel Aufmerksamkeit erregt, ist crAssphage, der 2014 von Bas Dutilh vom Radboud-Institut in den Niederlanden entdeckt wurde. Seither haben Studien gezeigt: Er bewohnt die meisten Menschen auf der ganzen Welt – mit Ausnahme der traditionellen Jäger-und-Sammler-Populationen. Es ist ungewöhnlich, dass ein Virus derart weit verbreitet ist, ohne mit irgendeiner Krankheit in Verbindung zu stehen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es die Prävalenz eines gewöhnlichen Darmbakteriums der Gattung Bacteroides kontrolliert. Wenn dem so ist, könnten wir es zur Verbesserung von Magen-Darm-Erkrankungen nutzen. Es ist in menschlichen Exkrementen so weit verbreitet, dass Forscher durch sein Vorkommen im Trinkwasser nachweisen, ob das Wasser durch Abwässer verunreinigt wurde.

Phagen-Angriff | Wie Phagen ihre bakteriellen Wirte dezimieren, lässt sich in Experimenten demonstrieren. Hier haben Bakteriophagen ein Loch (einen »Lysehof«, Pfeil) in eine Kultur von Bacillus anthracis gefressen.

Ärzte interessieren sich besonders für Phagen, die antibiotikaresistente Bakterien stoppen könnten. Laut Weltgesundheitsorganisation werden diese Erreger bis 2050 jährlich mindestens zehn Millionen Todesfälle verursachen, weshalb alternative Therapien unerlässlich sind. Phagen wurden vor mehr als 100 Jahren entdeckt, und Ärzte versuchten, mit ihnen krankheitserregende Bakterien zu behandeln, allerdings ohne großen Erfolg. In den 1940er Jahren ersetzten Antibiotika die Phagen in den meisten Teilen der Welt, weil sie viel wirksamer und viel einfacher anzuwenden waren. Jetzt nehmen Forscher Phagen erneut ins Visier, wie zum Beispiel Kollegen der Rockefeller University, die ein Phagenenzym zur Bekämpfung einer methicillinresistenten Staphylokokkeninfektion einsetzten.

Bisher schreckten die meisten Ärzte davor zurück, Phagen zu verabreichen, weil sie fürchteten, das menschliche Immunsystem könne überreagieren und gefährliche Entzündungen auslösen. Phagen für therapeutische Zwecke werden in Bakterien gezüchtet; und wenn die Bakterien nicht vollständig entfernt werden, bevor die Phagen verabreicht werden, können die Bakterien eine übermäßig aggressive Immunantwort auslösen. Heute haben wir ausgefeiltere Methoden zur Reinigung von Phagen, und die Sorgen über Nebenwirkungen haben sich weitgehend gelegt.

Kläranlagen als Quelle für Phagen

Was die Verwendung von Phagen zur Behandlung von Infektionskrankheiten zudem einschränkt, ist die Tatsache, dass wirksame Viren schwer zu finden sind. Viele Jahre lang haben Forscher natürliche Lebensräume nach Phagen durchkämmt, welche gegen Bakterien aktiv sein könnten, die menschliche Krankheiten verursachen. Jetzt, da wir wissen, dass Viren in Kot, Speichel und Sputum reichlich vorhanden sind, haben Forscher erkannt, dass eine der reichhaltigsten Quellen für Phagen lokale Kläranlagen sein könnten.

Einige wenige solcher Phagen werden bereits für experimentelle Behandlungen eingesetzt. In einem bahnbrechenden Fall aus dem Jahr 2016 unter der Leitung von Robert Schooley, ebenfalls an der U.C. San Diego, setzten Ärzte Phagen aus Abwässern sowie Phagen aus Umweltquellen ein, um den Patienten Tom Patterson zu behandeln: Der dortige Professor hatte wegen Acinetobacter baumannii, eines berüchtigten arzneimittelresistenten Bakteriums, ein Multiorganversagen erlitten. Und sie waren damit erfolgreich.

Wenn wir mehr über die Rolle der Viren im menschlichen Virom erfahren, werden wir vielleicht weitere therapeutische Möglichkeiten entdecken. Alejandro Reyes von der Washington University in St. Louis hat gezeigt, dass Phagen in Mäusen die bakteriellen Gemeinschaften der Nagetiere formen können. Allerdings sind wir nicht sicher, was sich zuerst verändert: die Viren oder die Bakterien. Wenn sich die viralen Gemeinschaften zuerst verändern, können sie die bakteriellen Gemeinschaften formen. Wenn sich die bakteriellen Gemeinschaften zuerst verändern, passen sich die viralen Gemeinschaften wahrscheinlich an, so dass sie in die neu geformten Bakterien eindringen können. Forscher haben gezeigt: Die Viren können sich bei Parodontalerkrankungen und entzündlichen Darmerkrankungen erheblich verändern.

Wir werden Superorganismen

Obwohl es noch lange dauern wird, bis wir das menschliche Virom entschlüsseln können, ist es beeindruckend, wie weit wir in nur zehn Jahren gekommen sind. Vor einem Jahrzehnt haben viele Wissenschaftler das Mikrobiom als eine Art passive Schicht winziger Organismen im Körperinneren betrachtet. Heute wissen wir, dass sich zumindest ein Teil davon stetig verändert. Und es sieht derzeit danach aus, als seien die Viren die dynamischsten Akteure.

Im Jahr 2018 untersuchten Forscher Hirngewebe, das von Menschen gespendet wurde, die an Alzheimer gestorben waren. Sie fanden eine hohe Konzentration von Herpesviren. Im Mai 2020 infizierten Forscher der Tufts University und des Massachusetts Institute of Technology im Labor hergestelltes hirnähnliches Gewebe mit Herpes simplex 1. Das Gewebe entwickelte amyloide plaqueähnliche Formationen, ähnlich denen, die das Gehirn von Menschen mit Alzheimerkrankheit aufweisen. Es ist faszinierend, dass wir jetzt neue Rollen von alten Viren entdecken.

Wenn wir weitersuchen, finden wir hoffentlich neue Kategorien von Viren, die sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, sowie neue Möglichkeiten, Viren zur Manipulation unseres Mikrobioms und zum Schutz vor Krankheiten zu nutzen. Wenn wir herausfinden können, wie wir mit den schlechten Viren umgehen und die guten nutzen können, könnten wir gemeinsam mit unseren bakteriellen und viralen Bewohnern stärkere Superorganismen werden.

Dieser Artikel wurde ursprünglich unter dem Titel »The Viruses Inside You« in Scientific American 323, 6, S. 46-53 (Dezember 2020) veröffentlicht.

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