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News: Phantom im Ohr

Manche Menschen haben Schmerzen in Armen oder Beinen, die sie schon vor Jahren verloren haben. Andere haben ein Phantom im Ohr: Tinnitus. Diese Ohrgeräusche sind ein weit verbreitetes, quälendes Leiden, für das es zwar viele mögliche Ursachen, aber nur wenige erfolgversprechende Behandlungen gibt. Eine neue Untersuchung zeigt jetzt, daß das Hörzentrum im Gehirn von Tinnitus-Patienten verändert ist.

"Subjektiver" Tinnitus – Geräusche, die nur der Patient hören kann – kann viele Ursachen haben. Ein verstopfter Gehörgang, Mittelohrentzündungen, Allergien oder Tumore – all das vermag Tinnitus zu verursachen. Meistens jedoch entsteht das Ohrgeräusch durch Schäden an den Nervenenden im Innenohr, die gewöhnlich im fortgeschrittenem Alter, im Zusammenhang mit Hörverlust oder nach lauten Geräuschen auftreten.

Diese Verbindung hat Forscher angeregt, nach ungewöhnlichen Reaktionen in den Hörzentren des Gehirns von Tinnitus-Patienten zu suchen. Werner Mühlnickel von der Humboldt Universität zu Berlin und seine Kollegen vermuten, daß Veränderungen im auditorischen Cortex mit den störenden Lauten zusammenhängen.

Das Forscherteam hatte zuvor bei Personen, denen Gliedmaßen amputiert worden waren, die Reorganisation des somatosensorischen Cortex untersucht. Dieser Bereich des Gehirns verarbeitet Sinneseindrücke somatischer Natur, also solche, die den Körper betreffen: Berührungen, Druck, Schmerz und Lageempfinden. Veränderungen in diesem Teil der Hirnrinde sind mit Meldungen verknüpft, die scheinbar von den verlorenen Körperteilen ausgehen und zu "Fehlempfindungen" wie den bekannten Phantomschmerzen in einem amputierten Bein führen.

Ein subjektiver Tinnitus könnte durch analoge Modifikationen im auditorischen Cortex zu erklären sein, vermuteten die Wissenschaftler. Das "Phantomgeräusch" wäre dann das akustische Gegenstück zum Phantomschmerz. Ihre These prüften sie mit Hilfe der Kernspinresonanz-Tomographie an Patienten mit einem einfachen tonalen Tinnitus, deren Ohrgeräusch aus einem einzigen Ton besteht.

Sie entdeckten, daß das Gebiet der Hirnrinde, das Informationen über relative Tonhöhen verarbeitet – die "tonotopic map" im auditorischen Cortex –, bei Menschen mit Tinnitus tatsächlich verzerrt war. Der Bereich, der auf die Tonhöhe des Tinnitus reagierte, fand sich nicht dort, wo die Forscher ihn erwartet hatten. Er war in benachbarte Bezirke verschoben, in denen eigentlich andere Tonhöhen repräsentiert werden. Dabei bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Schwere des Ohrgeräuschs und dem Maß, in dem die tonotopischen Karte verzerrt war (Proceedings of der National Academy of Sciences vom 18. August 1998, Abstract).

Die Parallele zwischen den beiden Fehlempfindungen ist bemerkenswert, stellen die Wissenschaftler fest: Bei Phantomschmerzen nach einer Amputation der oberen Gliedmaßen gibt es Umbildungen im somatosensorischen Cortex, beim Tinnitus findet eine Reorganisation des auditorischen Cortex statt. "Diese Parallelen deuten darauf hin, daß Tinnitus eine Art auditorisches Phantom ist", meinen die Forscher.

Wie die Karte verzerrt wurde und ob dieses Phänomen die Ursache oder eine Folge des Leidens ist – oder vielleicht beides –, ist unbekannt. Erreicht eine bestimmte Frequenz den auditorischen Cortex nicht mehr oder wird ein Bereich überstimuliert, kann es zu Veränderungen im entsprechenden Areal der Hirnrinde kommen, die Lernprozessen entsprechen. Beide Situationen – Hörschäden oder Lärm – können zu Tinnitus führen.

Was auch immer die Ursache der Gehirnveränderungen sein mag: Die Forscher hoffen, daß Patienten lernen können, Töne einer ihrem Ohrgeräusch ähnlichen Frequenz zu erkennen oder zu unterscheiden. Dies hilft möglicherweise dem Gehirn, sich weiter zu reorganisieren, so daß vielleicht einige Verbindungen in den Bereichen, die der Tinnitus einnahm, wiederhergestellt werden.

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