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Physik-Nobelpreis 2022: Quantenphysiker mit Fernwirkung

Albert Einstein nannte die möglichen Konsequenzen der Quantenverschränkung »spukhafte Fernwirkung«. Nun erhalten drei Physiker den Nobelpreis, die den letzten Zweifel an der Absonderlichkeit der Verknüpfung experimentell ausräumten.
Anton Zeilinger inmitten von Studierenden
Anton Zeilinger betrachtet seinen Nobelpreis als »Ansporn für junge Menschen«. Ohne die gut 200 Doktoranden und Studierenden, die über die Jahre bei und mit ihm gearbeitet haben, sei seine Arbeit nicht möglich gewesen.

Eigentlich wollte Anton Zeilinger an diesem Dienstag in Ruhe an einem wissenschaftlichen Artikel arbeiten. So erzählt es der Quantenphysiker bei einer Pressekonferenz an der Universität Wien. Doch eine Anruferin habe sich von seiner Assistentin partout nicht abwimmeln lassen. »Sie will nicht sagen, wer sie ist und was sie von dir will – aber ihre Telefonnummer ist aus Schweden.« Da habe er das Gespräch dann doch angenommen, sagt Zeilinger und lacht. So hat er zum Glück rechtzeitig erfahren, dass ihm zusammen mit dem Franzosen Alain Aspect und dem US-Amerikaner John F. Clauser der Nobelpreis für Physik des Jahres 2022 zugesprochen worden ist. Es sei ein Schock gewesen, fasst Zeilinger seine erste Reaktion kurz nach der Bekanntgabe in Worte. Ein positiver, versteht sich.

Schon seit einigen Jahren wird der Österreicher als möglicher Nobelpreiskandidat gehandelt. Dieses Mal also ist es so weit. Die drei ausgezeichneten Forscher erhalten den wichtigsten Wissenschaftspreis der Welt »für Experimente mit verschränkten Photonen, den Nachweis der Verletzung der bellschen Ungleichungen und wegweisende Quanteninformationswissenschaft«. Mit ausgeklügelten Versuchen haben sie bewiesen, dass Albert Einstein in Bezug auf einen entscheidenden Aspekt der Quantenmechanik falschlag. Sie räumten im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Einsteins Zweifel daran aus, dass es zwischen quantenmechanischen Teilchen Verknüpfungen gibt, die viel stärker sind, als wir es intuitiv erwarten würden. Damit legten sie die Grundlage für die Übertragung und Speicherung von Quanteninformationen, für Algorithmen zur Quantenverschlüsselung und schließlich auch für das Quantencomputing.

Doch der Reihe nach. Albert Einstein war zutiefst davon überzeugt, dass sich nichts schneller ausbreitet als Licht. Diese Erkenntnis ist die Grundlage seiner Relativitätstheorie. Deswegen beschränken sich alle Wirkungen stets auf ihre unmittelbare Umgebung. Und wann immer man etwas beeinflussen will, das weit entfernt ist, muss man warten, bis ein lichtschnelles Signal die Strecke zurückgelegt hat. Das ist das Prinzip der Lokalität. Außerdem sollten Teilchen stets in einem klar definierten Zustand sein, unabhängig davon, ob man hinschaut oder nicht. Das ist der Gedanke des Realismus.

Zwischen dem 3. und dem 10. Oktober geben die Nobelkomitees die Nobelpreisträger des Jahres 2022 bekannt. Auf unserer Themenseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« erfahren Sie, wer einen der renommierten Preise erhalten hat. Dort können Sie außerdem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschung nachlesen.

Seltsame Quantenwelt

Beides wurde mit dem Aufkommen der Quantenmechanik in den 1920er Jahren tief erschüttert. Im Reich der Quanten wimmelt es nur so vor seltsamen Vorgängen. So verhalten sich die gleichen physikalischen Objekte je nach Versuchsaufbau mal wie punktförmige Teilchen und mal wie ausgedehnte Wellen. Schlimmer noch war für Einsteins Weltbild etwas, dessen Implikationen der Physiker als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnete und das Ausdruck eines zentralen Aspekts der Quantenmechanik ist: die Verschränkung. Sie verknüpft die Eigenschaften zweier Teilchen untrennbar miteinander, die beliebig weit voneinander entfernt sein können. Erst, sobald man eines der Teilchen vermisst, wird ihr Zustand festgelegt – und zwar sofort, sowohl für das beobachtete als auch für das andere. Wie soll das ungeachtet der Entfernung funktionieren, also auch für ein Teilchen, das sich womöglich am anderen Ende der Galaxis befindet?

Einstein und auch manchen seiner Zeitgenossen war diese Vorstellung höchst suspekt. Sie vermuteten »verborgene Variablen«. Das sind Kenngrößen, die den beteiligten Teilchen von Anfang an mitgegeben werden, die deren Verhalten vorausbestimmen und lediglich von der Quantentheorie nicht erfasst werden. Damit wäre der lokale Realismus gewahrt und der Zufall der Quantenmechanik ein trügerisches, weil unvollständiges Bild der Welt. Etliche andere Zeitgenossen widersprachen. Der österreichische Physiker und Nobelpreisträger von 1933, Erwin Schrödinger, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: »Ich würde es (die Quantenverschränkung) nicht als eins, sondern eher als das charakteristische Merkmal der Quantenmechanik bezeichnen, das ihre gesamte Abkehr von den klassischen Denkansätzen erzwingt.«

Im Jahr 1964 näherte sich der nordirische Physiker John Stewart Bell dem Streit um das Phänomen mit einem neuen Ansatz. Bei Bells Ungleichung geht es um statistische Untersuchungen an miteinander verbundenen Teilchenpaaren. Bell zeigte: Wenn es in einer Theorie lokale verborgene Variablen gibt, dann gilt die Ungleichung. Wird sie verletzt, dann muss man hinnehmen, dass die Quantenmechanik seltsam ist und, je nach Betrachtungsweise, Lokalität oder Realismus aufgeben. Und nun kommen die diesjährigen Nobelpreisträger ins Spiel.

John Clauser | Der 1942 geborene, frischgebackene Physiknobelpreisträger steht kurz nach der Bekanntgabe freudestrahlend in seinem Arbeitszimmer im kalifornischen Walnut Creek.

Der US-Amerikaner John F. Clauser dachte sich in den frühen 1970er Jahren ein Experiment aus, mit dem sich Bells Ungleichung und somit die mögliche Existenz lokaler verborgener Variablen überprüfen ließ. Dazu übernahm er einen Apparat von einem Kollegen und baute ihn aufwändig um. In dem Instrument senden angeregte Kalziumatome zwei miteinander verschränkte Lichtteilchen aus, die in entgegengesetzte Richtungen davonfliegen. Die Photonen besitzen eine Ausrichtung, Polarisation genannt, von der man vorerst nur weiß, dass sie bei beiden Teilchen parallel ist. Die genaue Orientierung ist unbekannt. Sie lässt sich aber feststellen, wenn man die Photonen an den jeweiligen Enden des Instruments durch einen Filter schickt. Sind beide Filter gleich ausgerichtet, wird das eine Photon immer dann durchkommen, wenn das auch seinem Partner gelingt. Clauser probierte systematisch verschiedene Winkel aus und maß, wie stark die beiden Photonen miteinander verbunden waren. Schließlich erhielt er eine Reihe von Datenpunkten, die perfekt zu dem passten, was die Quantenmechanik vorhersagte – aber mit der Bell-Ungleichung nicht zu vereinbaren waren. Das heißt, die Lichtteilchen mussten stärker miteinander verknüpft sein, als es eine lokale Theorie mit verborgenen Variablen zulassen würde.

Es gab aber Schlupflöcher bei dieser Interpretation. Das Fazit beruht streng genommen auf der Annahme, dass die Messungen an den beiden Enden unabhängig voneinander erfolgen, dass es also keine Möglichkeit gibt, sich abzusprechen. Doch genau das ist der Fall, wenn man die Ausrichtung der Filter bei jedem Durchlauf vorab festlegt. Vielleicht stellt man dabei ja, und sei es auch unbewusst, alles genau so ein, dass besonders viele stark korrelierte Teilchen durchkommen. Eigentlich dürfte die Orientierung der Filter nicht zentral vom Experimentator, sondern jeweils nur lokal festgelegt werden, während die Photonen bereits auf dem Weg sind. So wäre jede Einflussnahme ausgeschlossen.

Alain Aspect | Der französische Physiker wurde bereits zuvor mit anderen Preisen für seine quantenphysikalische Forschung ausgezeichnet, hier im Jahr 2013 mit dem Balzan-Preis.

Genau ein solches verfeinertes Experiment ersann der Franzose Alain Aspect 1976 und führte es 1982 gemeinsam mit Kollegen durch. Der Versuchsaufbau war nicht nur leistungsfähiger und lieferte mehr Daten als Clausers, vor allem aber ließen sich die Filtereinstellungen im laufenden Experiment zufällig verändern. Das musste während des nur wenige Meter langen Wegs der Photonen durch den optischen Aufbau in einigen Nanosekunden passieren. Die Bewältigung dieser enormen technischen Herausforderung belohnte Aspect mit Daten, die kaum noch Zweifel daran ließen, dass etwas faul ist im Quantenreich.

»Die Arbeit ist ein großartiges Beispiel für das Beste der Physik – die Erforschung der Wahrheit und Schönheit des Universums und gleichzeitig die Schaffung der Grundlage für Technologien, die das Leben auf der Erde verbessern«Frances Hellman, Präsidentin der American Physical Society

Thors Hans Hansson, Mitglied des Nobelkomitees für Physik, sprach bei der Verkündung davon, der Fachwelt wären durch die Experimente »die Augen geöffnet« worden. Frances Hellman, Präsidentin der American Physical Society, würdigte die Wahl des Nobelkomitees mit den Worten: »Die Arbeit ist ein großartiges Beispiel für das Beste der Physik – die Erforschung der Wahrheit und Schönheit des Universums und gleichzeitig die Schaffung der Grundlage für Technologien, die das Leben auf der Erde verbessern.«

Die Seltsamkeit der Quantenmechanik geht also über alles hinaus, was wir auf der Basis unserer Alltagserfahrungen begreifen können. Doch die unwirkliche Quantenverschränkung ist mehr als ein Kuriosum. Sie ist eine wertvolle Ressource. Dass die in den 1970er und 1980er Jahren gewonnenen Einsichten nun mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung gewürdigt wurden, ist wohl auch diesem Umstand geschuldet und den spektakulären Fortschritten, die der dritte Nobelpreisträger auf diesem Gebiet machen konnte. Anton Zeilinger ist ebenso wie Clauser und Aspect in den 1940er Jahren geboren und trug bereits mit frühen Arbeiten zur Untersuchung der Bell-Ungleichung bei. Darüber hinaus widmete sich Zeilinger aber einer weiteren Frage: Wie lässt sich die Verschränkung dazu nutzen, Informationen zu übertragen?

Erste Quantenteleportation gelingt 1997

Zeilinger wollte experimentell herausfinden, ob sich ein unbekannter quantenmechanischer Zustand – wie die Polarisation eines Photons – von einem Teilchen auf ein anderes übertragen lässt. Theoretisch war dies bereits von einer anderen Forschergruppe 1992 vorhergesagt worden. Wenn sich zwei miteinander verschränkte Lichtteilchen wie in Clausers Experiment in verschiedene Richtungen bewegen, kann eins der Teilchen auf ein weiteres treffen. Stellt man es geschickt an, wäre das erste Teilchen mit diesem daraufhin genauso verschränkt wie zuvor mit seinem ursprünglichen Partner. Mit einem solchen Experiment hatte Zeilinger schließlich im Jahr 1997 erstmals Erfolg.

Diese Art der Kommunikationsübertragung wird heute als Quantenteleportation bezeichnet. Das brachte Zeilinger in der Vergangenheit den Spitznamen »Mr. Beam« ein. Und prompt wurde er auch in der Nobelpreis-Pressekonferenz darauf angesprochen, ob es wohl eines Tages auch möglich sei, Menschen oder Dinge zu teleportieren. Zeilinger machte daraufhin klar: »Es ist nicht wie bei Star Trek.« Es gehe nicht darum, in den Laboren Gegenstände an einer Stelle verschwinden und an einer anderen wieder auftauchen zu lassen. Die Materie selbst, so Zeilinger, sei gar nicht wichtig. Das Entscheidende sei die von ihr transportierte Information und was mit ihr passiert.

Verschränkung lässt sich nicht kopieren. Geht sie auf ein neues Teilchen über, verschwindet sie stets beim vorigen. Sie ermöglicht deshalb abhörsichere Kommunikation, denn jedes Lauschen verändert den fragilen Quantenzustand. Die nobelpreiswürdigen Experimente haben so nicht nur die Absonderlichkeiten der Quantenmechanik offengelegt, sondern zugleich auch gezeigt, wie sie sich nutzen lassen: Institute, Unternehmen und Staaten auf der ganzen Welt arbeiten inzwischen an den Grundlagen kryptografisch sicherer Quantennetzwerke. Zwischen den einzelnen Netzwerkknoten gelingt der Transport von Verschränkung durch Quantenteleportation bereits, zu der Zeilinger Pionierarbeit geleistet hat und zu der er mit verschiedenen Arbeitsgruppen weiterhin intensiv forscht. 2015 übermittelte er mit seinem Team verschränkte Informationen über die Kanareninseln hinweg; 2017 überspannten sie mit Hilfe eines chinesischen Satelliten sogar Kontinente.

Bevor diese Entwicklungen tatsächlich zu einem Quanteninternet führen, wird sicher noch einige Zeit vergehen. Insofern betrachtet Anton Zeilinger seinen Preis als »Ansporn für junge Menschen«, so wie er selbst in jungen Jahren von seinem Doktorvater Helmut Rauch inspiriert und motiviert worden sei. Die »spukhafte Fernwirkung« der Quantenverschränkung wird die Welt sicher noch lange begeistern, auf die eine oder die andere Weise.

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