Biodiversität: Physiker entwickeln Frühwarnsystem fürs Artensterben

Schätzungen gehen davon aus, dass täglich 130 bis 150 Arten aussterben – teils noch bevor wir sie entdecken und ihnen einen Namen geben konnten. Besonders gravierend ist das, wenn es sich um dabei um eine Schlüsselart handelt: Stirbt sie aus, kann es sein, dass anschließend noch etliche weitere Arten mit in den ewigen Tod gerissen werden, weil ihnen die Nahrungsgrundlage fehlt oder eine konkurrierende Art die Oberhand gewinnt. Mit einer neuen Analysemethode lassen sich nun die Arten, die am stärksten vom Aussterben bedroht sind, frühzeitig identifizieren. Entwickelt wurde sie von Physikern des Complexity Science Hub, eines Zusammenschlusses mehrerer österreichischer Universitäten und Institutionen zur Erforschung komplexer Systeme. Ihr mathematisches Modell stellen sie in der Fachzeitschrift »Chaos, Solitons & Fractals« vor.
Da Ökosysteme weltweit durch die Erderwärmung, den Verlust von Lebensräumen und die Übernutzung immer stärker unter Druck geraten, benötigen Forschende dringend bessere Instrumente, um die ökologische Rolle von Arten und deren Gefährdung kartieren und messen zu können. So könnte die frühzeitige Ermittlung von bedrohten Schlüsselarten es ermöglichen, Ressourcen und Schutzmaßnahmen dorthin zu lenken, wo sie am meisten bewirken können.
Die Studienautoren vergaben für jede Art zwei Werte: die Wichtigkeit und die Robustheit. Die Wichtigkeit gibt an, wie viele andere Arten von ihr als Nahrungsquelle abhängen, während die Robustheit ausdrückt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Art überlebt – je nachdem, wie flexibel und erfolgreich sie bei der Nahrungssuche ist. Diese zweidimensionale Kartierung zeigte verborgene Verwundbarkeiten und Schlüsselarten auf. »Wir konnten die ökologischen Rollen vollständig anhand von Netzwerkdaten rekonstruieren – also so, dass im Grunde keine biologischen Kenntnisse unsererseits dafür notwendig wären«, erklärt der Erstautor Emanuele Calò von der IMT School for Advanced Studies im italienischen Lucca. »Das macht die Methode besonders viel versprechend für groß angelegte Bewertungen der biologischen Vielfalt und das Management von Ökosystemen, insbesondere in Regionen, in denen ökologisches Fachwissen oder detaillierte Feldstudien begrenzt sind.«
Die Forscher analysierten in ihrer Studie beispielhaft das Nahrungsnetz der Zypressensümpfe in der Bucht von Florida. Dort konnten sie zum einen Phytoplankton als zentrale und wichtige Säule im Ökosystem identifizieren und zum anderen Alligatoren als sehr robuste Art ermitteln, die auf Grund ihrer vielfältigen Ernährung und ihrer geringen Anfälligkeit für Raubtiere in der Regel länger überleben als andere Arten, wenn das Ökosystem unter Druck gerät. Darüber hinaus weist die Methode auf Arten mit geringer Robustheit hin, wie beispielsweise Eidechsen und Kaninchen, die bislang noch nicht übermäßig im Fokus standen. Auch wenn diese Arten im Nahrungsnetz nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie dennoch stark vom Aussterben bedroht. Das könnte auf versteckte Schwachstellen hinweisen, die bei der Naturschutzplanung häufig übersehen werden.
Das verwendete Modell selbst ist nicht neu. Es wird normalerweise genutzt, um zu verstehen, wie Länder sich in globalen Handelsnetzwerken Wettbewerbsvorteile erarbeiten. Das verdeutlicht, dass komplexe Systeme oft ähnliche grundlegende Strukturen teilen – egal ob es um Ökonomien oder Ökosysteme geht. Zwar unterscheiden sich die Kontexte – in der Studie sind es Arten statt Industrien, Lebensräume statt Märkte –, doch die Netzwerkdynamiken sind verblüffend vergleichbar.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.