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Archäologie und Anthropologie 2010: Pikante Familiengeschichten

Die Erkenntnisse aus Archäologie und Paläontologie im "Jahr der Paläogenetik" lesen sich wie ein schlüpfriger Familienroman: mit Royals, unverhofften Erbschaften und natürlich jeder Menge Sex.
Neandertalerin
Das Jahr 2010 steht in Archäologie und Paläontologie ganz im Zeichen der Familie. Aber falls Sie jetzt eine erbauliche Lektüre zum geruhsamen Jahresabschluss erwarten, sind Sie im Irrtum. Es wird durchaus deftig werden – wie nicht anders zu erwarten, wenn es um eine der größten Familien der Welt geht: die des Homo sapiens.

Neandertaler und der Mensch | Wie ähnlich war Homo neanderthalensis dem modernen Menschen? Manche Funde, wie beispielsweise Schmuckstücke, lassen symbolisches Denken vermuten. Offenbar waren sich Neandertaler und Homo sapiens so weit ähnlich, dass sie miteinander umgehen und wahrscheinlich sogar kommunizieren konnten.
Die zweifellos wichtigsten neuen Erkenntnisse über unsere umtriebigen Ahnen lieferten in diesem Jahr Paläogenetiker um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Dank ihrer Entzifferung des Neandertalergenoms wissen wir nun, dass der Vetter aus der Eiszeit in beinahe jedem von uns steckt. Wenn auch nur zu einem winzigen Anteil.

Zwischen null und vier Prozent beträgt laut Pääbo und Team der Anteil neandertalertypischer Genvarianten im menschlichen Erbgut. Es muss also in der Geschichte von Homo sapiens wiederholt zur interspezifischen Liaison gekommen sein. Oder weniger verschämt ausgedrückt: Sie haben's getan, und zwar zum allerersten Mal irgendwann vor 50 000 Jahren im Nahen Osten.

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Hier traf der aus Afrika auswandernde Mensch erstmals auf den in Europa entstandenen Neandertaler. Mit dem Erbe des Cousins im Gepäck ging es dann auf in den Rest der Welt. Deshalb weisen alle modernen Menschen außerhalb Afrikas die ein- bis vierprozentige Neandertaler-Beimischung auf, die Menschen in Afrika hingegen nicht.

Wanderbewegungen des Menschen | Die Pfeile zeigen, wie sich dem gängigsten Modell zufolge Menschen über die Erde ausbreiteten. Dabei kam es offenbar zweimal zu einer Vermischung mit anderen Menschenarten: Einmal vor 50 000 bis 60 000 Jahren im nahen Osten und ein weiteres Mal in Asien. Von diesem zweiten Aufeinandertreffen mit den Denisova-Menschen waren allerdings nur die Vorfahren der heutigen Melanesier betroffen. (Grüne Punkte: Zu Vergleichszwecken herangezogene Homo-sapiens-DNA-Proben; grüne Dreiecke: Neandertalerfunde, deren (mt)DNA bereits sequenziert ist)
Welche Genvarianten transferiert wurden und wie diese sich beim heutigen Menschen niederschlagen, ist für die Forscher schwer zu erfahren, zu ähnlich sind sich die Genome. Dennoch hat die Entzifferungsleistung das Potenzial, grundlegende Einsichten über die menschliche Entstehungsgeschichte zu eröffnen. Dazu suchten die Wissenschaftler nach denjenigen Genen, in denen sich beide Arten besonders stark unterscheiden. Welche Erbfaktoren hat die Evolution bevorzugt behandelt und damit am stärksten verändert? Mit anderen Worten: Was macht den Mensch zum Menschen?

Pääbo und Team fanden nicht nur Gene, die unsere körperliche Gestalt formen, sondern auch solche, die beim Hirnwachstum und der Nervenzellverschaltung eingreifen: Ihre Mutation äußert sich jedenfalls in Schizophrenie- und Autismussymptomen. Womöglich hat Mutter Natur unseren Denkapparat um den Preis einer Anfälligkeit für solche Störungen extrem hochgezüchtet.

Kunstsinnige Neandertaler

Dass der Neandertaler in intellektueller Hinsicht trotzdem kein Stiefkind war, will in diesem Jahr João Zilhão endgültig bewiesen haben. In der Höhle "Cueva de los Aviones" im südöstlichen Spanien hat der Forscher von der University of Bristol Muscheln gefunden, die planvoll mit Ocker beschmiert und als Anhänger getragen wurden.
Frühes Schmuckstück? | Neandertaler bemalten einst diese Schale einer Großen Jakobsmuschel (Pecten maximus), wie die 50 000 Jahre alten Farbreste zeigen.
Da es am Fundplatz ausschließlich 50 000 Jahre altes Neandertalermaterial gibt, könne laut Zilhão niemand mehr behaupten, dass sich die Bewohner die Schmuckherstellung beim modernen Menschen abgeschaut hatten. Homo sapiens kam nämlich erst deutlich später in die Region.

Jede darüber hinausgehende Deutung der Funde ist und bleibt umstritten. Er habe keinen Anlass, am Intellekt unserer Verwandten zu zweifeln, sagte uns beispielsweise Ralf Schmitz, Neandertaler-Experte und Referent für Vorgeschichte vom Landschaftsverband Rheinland: "Das waren hochintelligente Menschen." Im "New Scientist" hielt Paul Mellars von der University of Cambridge dagegen: "Wenn das das Beste ist, was die Neandertaler in 250 000 Jahren in ganz Europa zu Wege gebracht haben, dann helfe ihnen Gott."

Aber vielleicht unterschieden sich unsere entfernteren Vorfahren in ihren kognitiven Leistungen doch weniger als lange geglaubt: So befuhren möglicherweise bereits Vor-Neandertaler das Mittelmeer. Darauf deuten Faustkeilfunde in Kreta hin, die Thomas Strasser vom Providence College in Rhode Island auf ein Mindestalter von 130 000 Jahren datiert. Damit könnten sie zwar schon gut und gern menschlichen Ursprungs sein. Allerdings erinnern sie in ihrer Machart frappierend an wesentlich ältere Artefakte des auch Homo heidelbergensis genannten späten Homo erectus. War er auf die Insel gepaddelt? Abwegig ist das nicht: Der erste große Weltentdecker der Gattung Homo scheint außerdem die Südseeinsel Flores mit dem Floß erreicht zu haben.

Der vergessene Cousin aus Sibirien

Fast untergegangen in all dem Trubel um die Entzifferung des Neandertalergenoms ist eine Entdeckung mit dem Zeug zu einer Revolution. Dieselbe Arbeitsgruppe, die die DNA von Homo neanderthalensis sequenzierte, hatte sich auch einen unscheinbaren, zirka 30 000 Jahre alten Fingerknochen aus der Denisova-Höhle in Sibirien vorgenommen.
Altai-Gebirge: Heimat mehrerer Menschenformen in der Eiszeit | Ein Blick über das Altai-Gebirge: Die Denisova-Höhle, Fundort des Fingerknochens eines bis dato unbekannten Homo-sapiens-Verwandten, befindet sich unterhalb des Fotografenstandorts.
Hielten sie ihn zunächst für den eines Neandertalers, zeigte schon die leichter lesbare mitochondriale DNA, dass alles ganz anders kommen würde. Mit der Veröffentlichung des eigentlichen Kerngenoms kurz vor Jahresschluss machte das Team um Pääbo, David Reich von der Harvard Medical School in Boston und den Tübinger Johannes Krause das Jahr 2010 zum Annus mirabilis der Paläogenetik.

Was die Ausgräber in der sibirischen Höhle gefunden hatten, waren tatsächlich die Spuren einer Menschenart, die zuvor niemand auf dem Plan hatte. Auf "Denisova-Mensch" tauften die Forscher den unerwarteten Seitenzweig der Homo-Linie. Sein letzter gemeinsamer Vorfahr mit dem anatomisch modernen Menschen lebte vor rund 800 000 Jahren, der mit dem Neandertaler vor rund 640 000 Jahren. Damit traf der moderne Mensch bei seiner Wanderung auf mindestens zwei fremde Menschenarten.

Und wieder einmal konnten sich unsere Ahnen nicht beherrschen. Wie schon beim Neandertaler fanden die Wissenschaftler Spuren von Denisova-Erbgut in der DNA moderner Menschen. Da in diesem Fall die Vermischung weiter östlich – vermutlich im südlichen Asien – stattfand, sind mit den Melanesiern Papua-Neuguineas und womöglich den Aborigines nur Nachfahren derjenigen Auswanderer betroffen, die sich als Erste in diese Gegend aufmachten. Die restliche heutige Bevölkerung Asiens stammt von Menschengruppen ab, die erst nach dem Verschwinden der Denisova einwanderten.

Nur ein weiterer Australopithecus?

Das Sensationelle an der Entdeckung des Denisova-Menschen ist, dass er bereits in einer Zeit lebte, in der man den Stammbaum auf eine übersichtliche Anzahl von Zweigen zurückgestutzt sah. Neben dem Neandertaler und dem anatomisch modernen Menschen war lediglich noch ein Plätzchen für den umstrittenen Flores-Menschen reserviert, sollte sich dessen Status als eigene Art eines Tages bestätigen. Je weiter man hingegen in die Vergangenheit zurückreist, desto verzweigter wird die Ahnentafel. Allein acht verschiedene Australopithecus-Arten zählten Paläoanthropologen bislang.

Australopithecus sediba | Der Schädel "U.W. 88-50 (MH 1)" – Kernstück des Holotyp-Skeletts, das zur Definition der neuen Art Australopithecus sediba dient
Dass in diesem Jahr eine neunte hinzukam, der Australopithecus sediba, hat deshalb nicht für den Aufschrei gesorgt, den sich die Entdecker um Lee Berger von der University of the Witwatersrand in Südafrika möglicherweise gewünscht hätten. Dabei sehen sie den nach dem Lesotho-Wort für "Quelle" benannten, zirka 1,8 Millionen Jahre alten Vormensch in direkter Linie mit Homo sapiens. Sediba verfügte tatsächlich über einige modern wirkende Skelettmerkmale – etwa ein Becken, das ihm das Rennen gestattet haben könnte, und einen zierlichen Kauapparat –, aber offensichtlich nicht genug Grips: Sein Hirn ist kleiner als das seines mutmaßlichen Vorfahren A. africanus. Zu seiner Einordnung als direkter Menschenvorfahre passt das nicht.

Möglicherweise durchliefen gleich mehrere Australopithecus-Arten ähnliche Entwicklungen, die als ausschließlich charakteristisch für die Homo-Linie gelten, starben dann aber aus. Das wäre eine interessante Lehre aus dem südafrikanischen Fund, sagte uns damals Gerhard Weber von der Universität Wien. Und würde den Menschen schon zum dritten Mal in diesem Jahr ein Stückchen seiner Einzigartigkeit berauben.

Pharaonen im Vaterschaftstest

Nach dem Ausflug in die ferne Vergangenheit ein Sprung fast bis in die Gegenwart und zu den versprochenen Royals. Es bleibt jedoch beim Überthema Paläogenetik: Zum ersten Mal überhaupt ist es Forschern gelungen, aus altägyptischen Mumien DNA zu extrahieren. Und das gleich bei der wahrscheinlich prominentesten Pharaonenfamilie, die je im Schatten der Sphinx wandelte – der Amarna-Dynastie.

Zu dieser zählte nicht nur der früh verstorbene Tutanchamun, sondern auch Nofretete und ihr als Ketzer verschriener Gatte Echnaton.
Stammbaum Echnatons und Tutanchamuns | Die Abbildung zeigt den Stammbaum, wie ihn die Forscher rekonstruierten. Graue Linien deuten Verbindungen an, die sich nicht mit Sicherheit anhand der Daten belegen lassen.
Die Familienverhältnisse sind überaus kompliziert und nur bruchstückhaft überliefert, weshalb die Wissenschaftler mit den DNA-Daten zunächst einen klassischen Vaterschaftstest unternahmen. Dabei trat die über Generationen gepflegte Tradition, seine eigenen Verwandten zu heiraten, überdeutlich zu Tage. Beispielsweise soll es sich bei Nofretete nach Meinung einiger Forscher um Echnatons Cousine gehandelt haben, sie ist jedoch nicht wie erwartet die Mutter Tutanchamuns. Denn dessen Vater Echnaton zeugte ihn mit seiner Schwester und ist daher gleichzeitig sein Onkel.

Einst hatte er in einer Gewaltaktion den gesamten Hofstaat in die aus dem Boden gestampfte Stadt Amarna verlegt und dem Land eine neue Religion verordnet. Als nach seinem Tod diese Veränderungen wenig behutsam rückgängig gemacht wurden, landeten die königlichen Mumien der Amarna-Zeit in einem Sammelgrab im Tal der Könige. Wer dort wer ist, lässt sich dank des genetisch rekonstruierten Familienstammbaums nun genauer bestimmen.

Exzentrischer Herrscher

Weitere Erkenntnisse zogen das Team um Zahi Hawass von der ägyptischen Altertümerverwaltung und Carsten Pusch von der Universität Tübingen aus der Durchleuchtung der Mumien mit einem Computertomografen. Kurz zusammengefasst: Der eigenartige Kunststil der Amarna-Zeit mit den verlängerten Hinterköpfen geht offenbar nicht auf eine Erkrankung Echnatons zurück, wie lange geglaubt. Es dürfte sich stattdessen um eine weitere Exzentrizität des an Exzentrizitäten nicht eben armen Pharaos gehandelt haben. Und Tutanchamun starb nicht bei einem Streitwagenunfall. Er war bereits vorher von Malaria und Knochenerkrankungen so geschwächt, dass er nie ein solches Gefährt betreten haben dürfte.

Die großen Durchbrüche in diesem Jahr sind fast durchgängig den enormen Fortschritten bei der Entzifferung alter DNA zu verdanken. Dies gelingt nur unter extremen Reinraumbedingungen und mit einem Paket von Sicherheitsvorkehrungen, die die Kontamination mit dem Erbgut des Laborpersonals vermeiden helfen. Die entscheidende Fertigkeit besteht jedoch darin, die in Millionen Bruchstücke zerbröselte Menschen-DNA herauszufischen und vom Erbgut der Mikroorganismen zu trennen, die die Skelettfunde besiedelten. Wie es scheint, sind die schwierigsten Hürden nun genommen. Pionierarbeit wurde geleistet. Aber die Fülle an Erkenntnissen über uns und unsere Verwandten, die diese Forschungsdisziplin in den kommenden Jahren liefern wird, ist noch überhaupt nicht abzusehen.

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