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Tierisches Verhalten: Pinkeln ist ansteckend unter Schimpansen

So wie Menschen gähnen, wenn sie sehen, dass jemand anderes dies tut, müssen Schimpansen urinieren, wenn sie Artgenossen dabei beobachten. Das Verhalten scheint ansteckend zu sein.
Ein Schimpanse sitzt auf einem Ast in einem grünen Wald. Der Hintergrund zeigt einen Baum mit markanter Rinde. Der Schimpanse blickt zur Seite und hält sich mit einer Hand am Ast fest. Die Szene vermittelt einen natürlichen Lebensraum.
Offenbar hat nicht nur die Entfernung zueinander Einfluss darauf, wer in einer Gruppe Schimpansen wann pinkelt. Auch der Status innerhalb der sozialen Hierarchie scheint das Verhalten zu steuern.

Im Japanischen gibt es ein Wort dafür, wenn Menschen gemeinsam auf die Toilette gehen: »tsureshon«. Dass auch andere Primaten gemeinsam pinkeln, wusste Ena Onishi zwar. Dennoch wurde die Forscherin neugierig, als sie dieses Verhalten während ihrer Zeit als Doktorandin am Kyoto University Wildlife Research Center in einer Gruppe Schimpansen beobachtete. Sie fragte sich, ob Urinieren bei Schimpansen vielleicht ansteckend wirken könnte – so wie das Gähnen bei Menschen.

Und tatsächlich: Wie Onishi zusammen mit drei Kollegen herausfand, scheint der Harndrang in der Gruppe zuzunehmen, wenn eines der Tiere pinkeln muss. Zudem scheint der Status innerhalb der sozialen Hierarchie zu beeinflussen, wer sich wann erleichtert. Den Autoren zufolge ist dies die erste bekannte wissenschaftliche Studie über ansteckendes Urinieren.

Je näher dran, desto ansteckender

Onishi und ihre Kollegen untersuchten 20 Schimpansen, meist Männchen, die zwischen 2019 und 2021 in vier Gruppen im Kumamoto Sanctuary der Universität Kyoto lebten. Sie sammelten mehr als 600 Stunden Videomaterial von 1328 Uriniervorgängen der in freier Wildbahn vom Aussterben bedrohten Primaten und analysierten, wann jedes Tier urinierte und wo es sich in dem Moment gerade befand. »Es war nervenaufreibend, weil ich nicht wusste, ob ich aussagekräftige Ergebnisse erhalten würde oder ob die ganze Mühe am Ende umsonst ist«, sagt Onishi.

Indem sie ihre Beobachtungen mit Computersimulationen von zufälligem Urinieren verglichen, stellten Onishi und ihre Kollegen fest, dass die Schimpansen tatsächlich mit größerer Wahrscheinlichkeit innerhalb von 60 Sekunden nacheinander pinkelten, als dies bei einem zufälligen Verhalten der Fall gewesen wäre. Auch die Entfernung spielte eine Rolle: Tiere, die sich nur wenige Meter neben dem ersten pinkelnden Schimpansen aufhielten, folgten diesem Beispiel mit größerer Wahrscheinlichkeit als Schimpansen, die zehn oder mehr Meter entfernt waren.

Aber die vielleicht interessanteste Erkenntnis ergab sich, als Onishi und ihre Kollegen die sozialen Beziehungen unter den Schimpansen betrachteten. Sie waren überrascht, dass ein Schimpanse, der mit dem ersten pinkelnden Tier befreundet war, nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit nachzog. Ein Schimpanse dagegen, der weniger dominant war als der erste, war anfälliger dafür, sich anstecken zu lassen und es diesem gleichzutun.

»Ursprünglich hatte ich erwartet, dass die sozialen Einflüsse ähnlich sind wie beim Gähnen, also etwa eine stärkere Ansteckung zwischen einander nahestehenden Partnern«, sagt Onishi. »Stattdessen beobachteten wir einen klaren Einfluss des sozialen Rangs, wobei Personen mit niedrigerem Rang eher dem Verhalten anderer folgen.«

»Oberflächlich betrachtet mag solche Forschung albern erscheinen, aber am Ende geht es tatsächlich um sehr grundlegende Erkenntnisse«Matthew Campbell, Psychologe und Verhaltensbiologe

Bei der neuen Studie handelt es sich nur um einen ersten Beobachtungsbericht, so dass noch zahlreiche weitere Forschungsarbeiten erforderlich sind, um das Phänomen zu verstehen – und um herauszufinden, welche Erkenntnisse es über das Leben der Schimpansen liefert.

Laut dem Psychologen und Verhaltensbiologen Matthew Campbell von der California State University Channel Islands, der nicht an der Studie beteiligt war, könnte das Ergebnis etwa Aufschluss darüber geben, wie ein Schimpanse seinen eigenen Körper versteht und ob er ein mentales Konzept für das Urinieren hat – je nachdem, wie genau das Verhalten zwischen den Tieren übertragen wird. »Wie das funktioniert und was das für das geistige Erleben eines Schimpansen bedeutet, das ist für mich der wirklich faszinierende Teil«, sagt er. »Oberflächlich betrachtet mag solche Forschung albern erscheinen, doch am Ende geht es tatsächlich um sehr grundlegende Erkenntnisse.«

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  • Quellen
Current Biology 10.1016/j.cub.2024.11.052, 2025

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