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Placeboeffekt: Die Macht der Erwartung

Placebo- und Noceboeffekt machen deutlich, wie stark unsere Wahrnehmung und unsere Körperfunktionen von den Vorhersagen unseres Gehirns abhängen.
Hand mit einer Tablette, daneben ein Glas Wasser auf dem Tisch
Schon die Einnahme hilft: Wer nach dem Schlucken einer Tablette eine Besserung erwartet, spürt diese auch verstärkt. Dafür verantwortlich ist der Placeboeffekt.

Bekanntlich haben Placebos oft erstaunliche Wirkungen: Die Beschwerden einer Person, die eine Zuckerpille schluckt, nehmen zum Teil genauso stark ab wie nach der Einnahme eines echten Medikaments. Wie lässt sich das erklären? Ein zunehmend verbreitetes Modell der Hirnfunktion könnte dabei helfen, das Phänomen besser zu verstehen. Das »Predictive Coding« (auf Deutsch so viel wie »vorhersagende Verarbeitung«) betrachtet das Gehirn als eine Art Vorhersagemaschine. Das, was wir zu sehen, hören oder fühlen glauben, ist demnach kein objektives Abbild unserer Umwelt, sondern stets gefärbt von unseren Erwartungen. Unser Gehirn erschafft so auf Basis von eingehenden Reizen und vorherigen Erfahrungen laufend selbsterfüllende Prophezeiungen.

Placeboeffekte passen perfekt in dieses Konzept. Denn bereits allein deshalb, weil eine Person erwartet, dass eine Behandlung eine Wirkung hat, tritt diese dann tatsächlich ein; die Vorhersage wird zur erlebten Realität. Zuckerpillen, Nasensprays oder Hautcremes ohne Wirkstoff können so Schmerzen lindern, die Stimmung heben, den Blutdruck senken oder Entzündungen hemmen. Andererseits kann allein das Lesen eines Beipackzettels unangenehme Nebenwirkungen auslösen – hier wirkt der Noceboeffekt, das Gegenstück des Placeboeffekts.

Wie das Gehirn diese erstaunlichen Leistungen vollbringt, gibt Hirnforscherinnen und -forschern noch Rätsel auf. Nichtsdestotrotz kristallisiert sich heraus, dass die selbstheilende Kraft des Gehirns medizinische Behandlungen effektiver und verträglicher machen könnte.

Wie entstehen Placeboeffekte?

Placebo- und Noceboeffekte treten nicht nur bei reinen Scheinbehandlungen auf – sie können die Wirkung jeder Therapie verstärken oder abschwächen. Messbar werden sie aber vor allem in klinischen Studien. Hier dienen die Scheinmedikamente eigentlich als wirkungslose Kontrollbehandlung für jene Probanden und Probandinnen, die in der Untersuchung kein Medikament erhalten sollen. So können die Fachleute im Anschluss die beiden Gruppen vergleichen und bestimmen, ob der Wirkstoff einen Nutzen hatte. Immer wieder zeigt sich dabei: Auch die Beschwerden der Testpersonen in der Kontrollgruppe bessern sich. Und das, obwohl sie eigentlich keine Medizin zu sich nehmen.

Bei Antidepressiva hat man hier besonders deutliche Effekte beobachtet. Im Schnitt sind bei der Gabe von Placebos 70 bis 80 Prozent ihres Effekts zu beobachten. Eine ähnlich starke Antwort auf Placebos gibt es bei – ethisch umstrittenen – Scheinoperationen gegen Schmerzen, zum Beispiel bei chirurgischen Eingriffen ins Kniegelenk.

Einerseits liegt das daran, dass sich manche Beschwerden ohnehin selbst ohne Behandlung mit der Zeit bessern. Andererseits trägt auch die positive Erwartung der heilenden Wirkung zum Effekt bei. Und diese kann auf mehreren verschiedenen Wegen entstehen. »Es gibt nicht den einen Placeboeffekt, sondern viele«, betont Tor Wager vom Dartmouth College in den USA. Wager ist Neurowissenschaftler und erforscht mit seinem Team seit 20 Jahren, wie Placebos im Gehirn wirken. Er nennt drei Mechanismen, über die Placebo- und Noceboeffekte entstehen: Konditionierung, Kommunikation und Kontext.

Mehrere Faktoren beeinflussen den Behandlungserfolg

Erstere beruht auf unbewussten Assoziationen. Wer zum Beispiel schon etliche Male nach der Einnahme von Kopfschmerztabletten erleichtert aufatmete, weil die Schmerzen nachließen, der hat zugleich sein Gehirn darauf trainiert, die Tablette mit der Schmerzlinderung zu verknüpfen. Wenn einen ein Antiallergikum immer müde gemacht hat, assoziiert das Gehirn es automatisch mit Müdigkeit. Solche erlernten Reaktionen können dazu führen, dass allein das Schlucken der Tablette den Effekt auslöst – unabhängig davon, ob sie den Wirkstoff enthält oder nicht.

Was und wie über die Arzneien gesprochen und geschrieben wird, hat ebenfalls einen großen Einfluss auf ihre Wirksamkeit. Gespräche im Vorfeld einer Behandlung, Warnungen vor Nebenwirkungen, das Lesen von Beipackzetteln und Aufklärungsschreiben tragen alle zum Therapieergebnis bei. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert eine Studie aus dem Jahr 2011, in der die Teilnehmenden das hochpotente Opioid Remifentanil erhielten. Wussten sie, dass dieses Schmerzen lindert, wirkte es doppelt so stark wie bei jenen, die annahmen, es sei wirkungslos. Glaubten sie dagegen, dass es die Schmerzen verschlimmere, hob das die schmerzlindernde Wirkung des Mittels komplett auf.

Bereits die bloße Erwähnung von Nebenwirkungen kann solche hervorrufen. Einer Metaanalyse aus 2009 zufolge berichteten in 69 von 73 medizinischen Studien zu Migränetherapien auch die Probandinnen und Probanden der Kontrollgruppe von entsprechenden unerwünschten Effekten, obwohl sie ein Placebo erhalten hatten. Wer vorgeblich ein Medikament erhalten hatte, das Gedächtnisprobleme oder Magersucht bedingen kann, entwickelte diese Probleme zum Teil wirklich.

Schließlich kann auch der Kontext, in dem die Konsultation oder Behandlung stattfindet, Placebo- oder Noceboeffekte auslösen. Elemente wie ein Arztkittel, medizinische Instrumente, invasive Eingriffe und wie wohl man sich in einer Praxis oder in einem Krankenhaus fühlt, können Vertrauen schaffen und positive Erwartungen stärken. Auch empathische, zugewandte Ärzte und Ärztinnen machen die Therapie im Schnitt wirksamer – mangelt es an Einfühlsamkeit, hat das wiederum negative Effekte.

Lektüre mit Tücken | Wer den Beipackzettel seiner Arzneien intensiv studiert, sich wegen möglicher Nebenwirkungen sorgt und Angst vor der Einnahme der Medikamente hat, entwickelt aufgrund des Noceboeffekts auch eher negative Begleiterscheinungen.

Neben äußeren Einflüssen spielen der Charakter und die emotionale Verfassung der Behandelten eine Rolle. Wer mehr Angst vor Schmerzen hat oder gestresst ist, neigt eher zu Noceboeffekten. Wer optimistisch eingestellt ist, reagiert hingegen stärker auf Placebos.

Schmerz als Standardmodell in der Placeboforschung

Diese vielfältigen Einflüsse legen nahe, dass mehr als eine Hirnregion an Placebo- und Noceboeffekten beteiligt ist. Um die neuronalen Mechanismen hinter dem Phänomen zu erforschen, betrachten Fachleute meist Placeboeffekte in der Schmerzwahrnehmung. Denn hier kommen die Effekte besonders stark zur Geltung und das neuronale Schmerzsystem ist vergleichsweise gut verstanden. Außerdem lassen sich Schmerzreize in Experimenten gut kontrollieren.

Ein typischer Versuchsablauf sieht dabei etwa so aus: Jemand aus dem Forschungsteam stellt dem Probanden zwei Cremes vor und schmiert diese auf zwei farblich markierte Stellen auf seinem Arm. Eine ist angeblich schmerzlindernd, die andere dient nur zur Kontrolle. Tatsächlich enthalten aber beide Cremes keinen Wirkstoff. Gleich im Anschluss folgt eine Lernphase. Dabei reizt ein Heizstab beide Stellen auf dem Arm des Probanden. Insgeheim ist die Temperatur auf der Stelle mit der angeblichen Schmerzcreme aber geringer. So lernt der Proband, diese Creme mit weniger Schmerz in Verbindung zu bringen.

Dann beginnt die Testphase. Um die neurobiologischen Grundlagen des Phänomens zu erfassen, erfolgt diese oft im Hirnscanner. Wieder werden beide Stellen auf dem Arm des Probanden erhitzt, nun allerdings mit derselben Temperatur. Nach jedem Reiz bewertet der Proband, wie schmerzhaft er war. Die meisten Menschen empfinden die Hitze auf der Stelle mit der angeblichen Schmerzcreme als weniger unangenehm – ein klassischer Placeboeffekt.

Zwei neuronale Mechanismen tragen zum Schmerzempfinden bei

Das neuronale Schmerzsystem besteht grob betrachtet aus zwei Pfaden. Der »Bottom-up-Pfad« leitet Schmerzsignale von den Nervenenden im Körper über das Rückenmark und den Hirnstamm bis in den Kortex. Über den »Top-down-Pfad« können hingegen Areale in der Hirnrinde die Schmerzsignale abschwächen oder verstärken. Eine zentrale Schaltstelle ist dabei das periaquäduktale Grau (PAG) im Mittelhirn. Es ist reich an Opioidrezeptoren und kann einströmende Schmerzsignale über Verbindungen ins Rückenmark hemmen. Opioide wie Morphium setzen hier an, um Schmerzen zu unterdrücken.

Wie wirken nun Placebos auf dieses System? Einen Durchbruch lieferte eine Studie aus dem Jahr 2009 von Hamburger Forschenden um Falk Eippert. Der Versuchsaufbau war ähnlich wie oben beschrieben, 28 Probandinnen und Probanden nahmen an der Untersuchung teil. Die Daten aus dem Hirnscanner offenbarten, dass die Hirnareale des Top-down-Pfads vom Kortex bis ins Rückenmark allesamt stärker aktiv waren, wenn die Stelle mit der angeblichen Schmerzcreme erhitzt wurde.

Die Fachleute verabreichten dann der Hälfte der Probanden und Probandinnen Naloxon – eine Substanz, die Opioidsignale im Gehirn unterdrückt. Das verringerte den Placeboeffekt und die damit einhergehenden neuronalen Veränderungen. Dieser Studie zufolge schien also der Top-down-Pfad der Schmerzwahrnehmung, der über Opioide Schmerzsignale im Rückenmark hemmt, hauptverantwortlich für den Placeboeffekt zu sein.

Doch seither hat sich einiges getan. »Es gibt diesen Effekt, aber er erklärt lange nicht alles«, sagt Ulrike Bingel, Schmerzexpertin und eine der Autorinnen der Hamburger Studie. Im Jahr 2021 wertete die von ihr geleitete Arbeitsgruppe Daten von 20 Experimenten mit insgesamt 603 Probandinnen und Probanden aus. Die Metaanalyse ergab, dass Placeboeffekte bei der Schmerzwahrnehmung nur mit geringen Änderungen im neuronalen Schmerzsystem verbunden sind. Dafür fanden die Forschenden eine stärkere Aktivierung von Arealen des frontalen und parietalen Kortex, die für höhere kognitive Funktionen zuständig sind. »Ein Großteil der Placeboeffekte bei Schmerz scheint durch evaluative und affektive Mechanismen zu entstehen«, schlussfolgert Bingel. Das heißt: Die kognitive und emotionale Bewertung der Schmerzreize sind die Stellschrauben, über die Erwartungen auf das Gehirn wirken.

Eine Hirnsignatur spielt bei Placebos eine besondere Rolle

Darauf weisen auch Studien aus Tor Wagers Arbeitsgruppe hin. Anstatt sich auf spezifische Hirnregionen zu fokussieren, arbeitet Wager mit multivariaten Signaturen. Das sind über das gesamte Gehirn hinweg auftretende Muster von neuronaler Aktivität, die mithilfe von maschinellem Lernen definiert werden. Wagers Team entwickelte so 2013 die »neurologic pain signature«. Dieses Aktivitätsmuster tritt umso deutlicher hervor, je intensiver die Schmerzstimuli sind, die eine Person erfährt. Es umfasst die neuronale Aktivität in allen wichtigen schmerzempfindlichen Hirnregionen – ist jedoch ziemlich resistent gegenüber Placeboeffekten.

2017 entwickelten die Forschenden eine zweite Signatur, die das subjektive Empfinden von Schmerz repräsentieren soll. Sie beinhaltet unter anderem Regionen im präfrontalen Kortex, die für Emotionsregulation und Selbstkontrolle zuständig sind, sowie solche im Belohnungssystem. Wagers Studien zeigen, dass dieses Aktivitätsmuster deutlich auf die Behandlung mit Placebos reagierte.

Nach heutigem Wissenstand gibt es also zwei neuronale Hauptmechanismen, auf denen Placeboeffekte bei Schmerz beruhen. Schmerzsignale können über den Top-down-Pfad unterdrückt werden, sobald sie das zentrale Nervensystem erreichen – ähnlich wie bei der Einnahme von Morphin. Diese Schiene scheint im Vordergrund zu stehen, wenn der Placeboeffekt auf unbewussten Assoziationen beruht. In anderen Fällen gelangen die Reize zwar weitgehend ungehemmt ins Gehirn, werden dort aber anders bewertet und einsortiert. Letzteres ist wahrscheinlich der wichtigere Mechanismus, der vor allem dann greift, wenn man ein bestimmtes Resultat erwartet. Doch wie passt all das in das Modell vom Gehirn als Vorhersagemaschine?

Das Gehirn erkennt das, was es erwartet

Hier kommt die Familie an Theorien ins Spiel, die unter den Namen »Predictive Coding« und »Bayesian Brain« zusammengefasst wird. Im Kern sagen all diese Ansätze aus, dass das Gehirn ein inneres Modell von der Welt hat, auf deren Basis es ständig Vorhersagen trifft. Die gleicht es mit den eintreffenden Sinneseindrücken ab und verarbeitet sie zu einer subjektiven Wahrnehmung. Was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, ist also ein Kompromiss zwischen Erwartung und Realität.

Pareidolie | Ein weiterer Effekt, der sich gut über das Konzept des »Predictive Coding« erklären lässt, ist die sogenannte Pareidolie. Hinter dem Fachbegriff steckt das Phänomen, dass wir auch in unbelebten Gegenständen häufig Gesichter erkennen möchten. Unser Gehirn reagiert sehr schnell und stark auf Merkmale, die im Zusammenspiel auf ein Gesicht hindeuten – es erwartet also sozusagen ständig, mit einem solchen konfrontiert zu werden. So kann uns selbst der Anblick von zwei Rohren in einem Betonklotz wie im Bild oben kurzfristig auf die falsche Fährte führen.

Genau das passiert bei Placeboeffekten bei Schmerz, argumentiert der Neurowissenschaftler Christian Büchel aus Hamburg in einer Publikation aus dem Jahr 2014: Diese seien »das Ergebnis einer Kombination von Top-down-Erwartungen […] von Schmerzlinderung mit Bottom-up-Signalen auf mehreren Ebenen der neuronalen Hierarchie«. Das Gehirn speichert demnach die Erwartung »Es tut jetzt weniger weh« ab. Sie bewirkt, dass die einströmenden Schmerzsignale in Richtung dieser Erwartung korrigiert werden. Am Ende entsteht ein subjektiver Eindruck des Schmerzes, der in seiner Intensität irgendwo zwischen dem eintreffenden und dem erwarteten Stimulus liegt.

Das passt zu den Ergebnissen der Bildgebungsversuche. Allerdings deuten solche Arbeiten auch darauf hin, dass die Effekte sich nicht einfach im Gehirn lokalisieren lassen. Weder für die Erwartung noch für die subjektive Wahrnehmung von Schmerz sind einzelne Regionen zuständig. Vielmehr werden beide von einem Netzwerk unterschiedlicher Areale beeinflusst.

Tor Wager hält die Modelle über das vorhersagende Gehirn für einen nützlichen Rahmen, um Placeboeffekte zu verstehen. Er merkt jedoch an, dass die Theorien wenig testbare Hypothesen liefern: »›Predictive Coding‹ macht keine Aussage darüber, wie tief die Effekte reichen, also ob sie bloß im Gehirn zu finden sind oder bis ins Rückenmark ausstrahlen.« Ulrike Bingel helfen die Konstrukte bei ihrer Erforschung von Placeboeffekten nur bedingt: »Theoretische Modelle sind wichtig, um die Mechanismen weiter zu ergründen«, räumt sie ein, ergänzt aber: »Mich als Neurologin reißt das nicht so sehr vom Hocker, weil ich mich mehr für die klinischen Implikationen von Befunden interessiere.«

Erwartungen spiegeln sich auch in physiologischen Veränderungen wider

Bingel ist Sprecherin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs »Treatment Expectation«, der sich mit Erwartungen in diversen Behandlungskontexten beschäftigt. Bislang sind Schmerzwahrnehmung und Depression die zwei großen Säulen dieser Forschung. »Wir nehmen an, dass es einen gemeinsamen Ursprung für Placeboeffekte in beiden Bereichen gibt«, erklärt Bingel. »Ob es zusätzlich noch systemspezifische Mechanismen gibt, wollen wir gerade herausfinden.« Schmerz und Depression haben beide eine starke psychologische Komponente. Vermutlich trägt das dazu bei, dass Placeboeffekte hier besonders markant sind. Doch es gibt entsprechende Effekte auch dort, wie die Psyche kaum eine Rolle spielt.

Im Jahr 2002 verabreichten Forschende der Universität Essen Probanden und Probandinnen über drei Tage hinweg das Immunsuppressivum Cyclosporin A. Die Testpersonen erhielten es zusammen mit einer Flüssigkeit mit einem charakteristischen Geschmack. Eine Woche später bekamen die Probanden zwar dasselbe Getränk, aber ohne Wirkstoff. Ihr Körper reagierte dennoch mit einer Unterdrückung der Immunfunktionen. Mehrere weitere Untersuchungen haben die Ergebnisse seither bestätigt. Ähnliche Ergebnisse gibt es für Betablocker. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2016 zeigte, dass Placebos ein Drittel bis die Hälfte des blutdrucksenkenden Effekts der Medikamente erzielen.

Wie Erwartungen im Körper wirken | Erwartungen spielen beim Placeboeffekt eine zentrale Rolle. Studien ergeben, dass sie eine Reihe von Körperfunktionen beeinflussen können – neben dem Schmerzempfinden etwa auch die Stimmung, die Immunfunktion und die Ausschüttung von Hormonen.

Bei Placebos lernt das Hirn wenig aus Vorhersagefehlern

In der »Predictive Coding«-Theorie spielen Vorhersagefehler eine wichtige Rolle. Sie entstehen, wenn Erwartung und Beobachtung deutlich voneinander abweichen. Das äußert sich bei den Betroffenen als momentane Sinnestäuschung – etwa dann, wenn man meint, im Wald eine Person zu sehen, die sich kurz darauf als Baumstamm entpuppt. Das Gehirn kann solche Diskrepanzen nutzen, um sein inneres Modell anzupassen und so künftige Überraschungen zu vermeiden, also um zu lernen.

Es gibt Hinweise darauf, dass der insuläre Kortex und das periaquäduktale Grau derartige Vorhersagefehler bei der Schmerzwahrnehmung verarbeiten: Ihre Aktivität steigt an, wenn das Schmerzsignal nicht zum erwarteten Schmerz passt. Beim Placeboeffekt scheint das Gehirn allerdings weitgehend über solche Vorhersagefehler hinwegzusehen. Zumindest nutzt es sie selten dazu, um die Erwartung anzupassen. Denn obwohl Menschen lernen könnten, dass ein Mittel wirkungslos ist, bleibt der Placeboeffekt in Experimenten oft lange bestehen. Warum das so ist, ist noch offen.

Placebos können also nicht nur die subjektive Bewertung von Symptomen beeinflussen. Sie bewirken mitunter messbare physiologische Veränderungen im Körper. Welche neuronalen Mechanismen dem zugrunde liegen, ist noch kaum aufgeklärt. Einiges deutet aber darauf hin, dass mehrere Ebenen zu den Effekten beitragen. Assoziatives Lernen scheint hier eine wichtige Rolle zu spielen. »Wenn ich Ihnen sage: ›Trinken Sie grüne Flüssigkeit, das verändert Ihre T-Zell-Aktivität‹, dann passiert gar nichts«, erläutert Bingel. »Aber wenn Sie ein paar Mal die Erfahrung machen, kann es doch diese physiologischen Effekte haben.«

Solche physiologischen Änderungen lassen sich mit der Theorie der »Active Inference« erklären, einer Erweiterung des »Predictive Coding«. Demnach versucht das Gehirn nicht nur Überraschung zu vermeiden, indem es seine Erwartungen – also sein Modell von der Welt – ständig aktualisiert. Vielmehr passt es durch aktive Eingriffe auch das an, was wir als real empfinden. Für die Scheinbehandlung mit Immunsuppressiva heißt das: Das Gehirn erwartet, dass die Arznei Immunfunktionen im Körper unterdrückt. Wenn das Medikament diese Wirkung nicht auslöst, dämpft es gegebenenfalls selbst die Immunfunktionen, damit sein Modell und die Wirklichkeit wieder zueinanderpassen.

Mit der körpereigenen Apotheke die Medizin revolutionieren

Ulrike Bingel ist davon überzeugt, dass Placebos den klinischen Alltag revolutionieren könnten. Denn die »körpereigene Apotheke« habe das Potenzial, Behandlungen effektiver, verträglicher und kosteneffizienter zu machen. Dafür hat die Forscherin eine ganze Reihe von Ideen. Vor allem hält sie es für wichtig, die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten zu verbessern, um positive Erwartungen zu stärken und Befürchtungen zu verringern.

Doch auch der Geschmack, die Farbe, die Verpackung und der Beipackzettel von Medikamenten könnten daraufhin optimiert werden, dass sie einen möglichst starken Placeboeffekt auslösen. Bei manchen Medikamenten könnte jede dritte, vierte oder fünfte Gabe gar durch Placebo ersetzt werden, um Kosten zu sparen. »Man sollte in solche Forschung investieren«, findet Bingel.

2024 veröffentliche ihre Arbeitsgruppe eine Arbeit, die diskutiert, warum pharmakologisch unwirksame homöopathische Präparate derart starke Placeboeffekte auslösen: Ein Erstgespräch dauert in der konventionellen Medizin im Schnitt nur wenige Minuten – bei homöopathischen Verfahren ist es in der Regel weitaus länger. Anweisungen, wie homöopathische Mittel angewandt werden sollen, sind oft hochspezifisch, etwa »zwölf Globuli nach dem Essen mit einem Plastiklöffel«. Zudem sind die Mittel vermeintlich genau auf die Symptome der Patientinnen und Patienten zugeschnitten. Mögliche Nebenwirkungen werden in der Homöopathie positiv kommuniziert, und zwar als Zeichen, dass die Wirkung einsetzt.

All dies hilft, Vertrauen und positive Erwartung bei den Betroffenen aufzubauen und Ängste zu verringern. Obwohl die Homöopathie aus vielerlei Gründen problematisch ist, könnte sich die Medizin in puncto Placebo einiges von ihr abschauen, argumentieren die Forschenden.

Teilweise passiert das schon. Seit einigen Jahren gibt es Studien mit Open-Label-Placebos, also Mittel, die offen als Placebos benannt werden. Offensichtlich haben die Patienten und Patientinnen hier keine bewussten Erwartungen an die Effektivität der Behandlung. Und dennoch zeigen die Zuckerpillen positive Wirkungen – etwa beim Reizdarmsyndrom, bei Depressionen oder bei chronischen Rückenschmerzen. Placebos wirken demnach zum Teil selbst dann, wenn man weiß, dass es welche sind.

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  • Quellen

Wagner, T.D. et al., The New England Journal of Medicine 10.1056/NEJMoa1204471, 2013

Wilhelm, M. et al., Frontiers in Psychology 10.3389/fpsyg.2024.1398865, 2024

Woo, C.-W. et al., Nature Communications 10.1038/ncomms14211, 2017

Zunhammer, M. et al., Nature Communications 10.1038/s41467–021–21179–3, 2021

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