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MOSAiC-Expedition: Auf Reise ins endliche Eis

Das arktische Eis schwindet. Die Frage ist nur: wie schnell? Das sommerliche Meereis könnte noch weitere 100 Jahre halten, oder es weicht noch in diesem Jahrzehnt - mit katastrophalen Folgen für den Rest unseres Planeten. Auf der Suche nach Antworten tauchen Forscher in die komplizierte Physik des arktischen Eises.
Eisbrecher im Eis

»Holt eure Eispickel raus«, flüstert ein Wissenschaftler in die tiefschwarze Dämmerung. Wir stehen auf 30 Zentimeter dickem Eis – eine dünne Schicht, die uns von dem bedrohlichen Polarmeer darunter trennt. Das Eis zittert. Es gibt ein lautes Knacken von sich, wenn sich ein Riss über Dutzende von Metern ausbreitet.

Ich weiß nicht, wie sich das Eis verhalten wird. Taste nach meinen Eispickeln, aber sie sind in den vorderen Taschen meines Schneeanzugs verstaut und unter meiner dicken Schwimmweste versteckt. Als ich sie endlich herausziehe, hämmert mein Herz, und meine Gedanken rasen, während ich mir ein Worst-Case-Szenario nach dem anderen vorstelle. Hier oben, 600 Kilometer nördlich von jedem Stück Land, stelle ich mir einen Sprung ins Wasser, das knapp über minus 1,8 Grad Celsius misst, nicht gerade reizvoll vor.

Im nächsten Moment beruhigt sich das Eis und lässt uns in der Stille der Oktoberdämmerung zurück. Ian Raphael, ein Absolvent des Dartmouth College, holt tief Luft. »Das war wild, dynamisch und Furcht einflößend«, sagt er mit einem fröhlichen, fast kindlichen Lächeln.

Das Funkgerät in seiner Jackentasche dudelt, als andere Forscher auf einen neuen Riss im Eis aufmerksam machen. Wir schätzen, dass er mindestens 500 Meter lang ist. An seiner breitesten Stelle misst er um die fünf Zentimeter, aber als wir uns nähern, sehen wir, dass er wächst. Die Eisscholle ist in zwei Teile zerbrochen.

Der Zyklus von Schmelzen und Frieren

Für das ungeübte Auge erscheint die Scholle riesig und unveränderlich. In allen Blickrichtungen erstreckt sich ein Skulpturengarten aus Schnee und Eis, der am Horizont mit dem sonnenlosen, saphirblauen Himmel zusammenstößt. Tatsächlich sind aber nur wenige Landschaften dynamischer als die nördliche Polkappe, ein Mosaik aus Schollen von wenigen Kilometern Durchmesser. Sie treiben ständig umher, stoßen aneinander, reißen auf und zerbrechen in Scherben. Mit diesem Wandel beginnt der Sommer und eine weitere, radikale Veränderung des Eises: Es beginnt zu schmelzen.

Jeden Frühling blickt die Sonne nach Monaten der Kälte wieder über den Horizont, und ihre warmen Strahlen lassen das Meereis schmelzen. Im Herbst und Winter wächst das Eis dann wieder nach. Doch dieser Zyklus ist aus dem Gleichgewicht geraten. Heutzutage geht im Sommer mehr Eis verloren, als im Winter nachwächst, so dass das Meereis insgesamt schrumpft.

Ausgelöst wird der Wandel durch die Erderwärmung, die Physik des Eises verschärft sie allerdings noch. Das Schmelzen legt riesige Flächen an dunklem Meerwasser frei. Im Gegensatz zu dickem Eis hat die Wasseroberfläche nur ein geringes Reflexionsvermögen, von Fachleuten Albedo genannt. Das Meer absorbiert Sonnenlicht, anstatt es wie Eis zurückzustrahlen, und diese Absorption erwärmt den Ozean weiter und treibt zusätzliche Schmelzprozesse an. Ein Teufelskreis oder, wie die Wissenschaftler sagen, eine positive Rückkopplungsschleife. »Das sind Prozesse, bei denen ein kleiner Stups auf das System zu einem riesigen Schub werden kann«, sagt Donald Perovich, Ingenieur in Dartmouth.

Denn in der Theorie ist die Rückkopplungsschleife der Eis-Albedo zwar rasch erklärt, in der Realität spielen aber viele weitere Faktoren eine Rolle: Welche Art von Eis liegt vor? Wie dick ist es? Auch die Gegenwart von Schnee und Wolken sowie die physikalischen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren beeinflussen die Vorgänge. Langsam haben die Wissenschaftler begonnen, diese Feinheiten in ihre Simulationen einzubeziehen. »In frühen Klimamodellen waren die Pole nur als weiße Fläche dargestellt«, sagt Marika Holland, Klimaforscherin am National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado. Nach und nach fügten die Wissenschaftler Details hinzu. Dabei stellten sie unmittelbar fest, dass diese Veränderungen das Ergebnis ihrer Berechnungen beeinflussten. Laut einer Simulation, die Holland und Kollegen im Jahr 2012 durchgeführt hatten, verringert allein die Berücksichtigung von Aerosolen und Schmelztümpeln die Dicke des Meereises um einen Meter und lässt im Sommer mehr Eis schmelzen.

Trotz der Verfeinerungen ist unser Verständnis von solchen Rückkopplungsschleifen immer noch sehr grob. Das zeigt sich in der Vielfalt der Ergebnisse, die verschiedene Modelle vorhersagen. Einige sagen voraus, dass das sommerliche Meereis bis ins 22. Jahrhundert existieren wird. Andere prognostizieren, dass es innerhalb der nächsten zehn Jahre dahingeschmolzen ist.

Eisbrecher kämpft sich durchs Meereis

Veröffentlicht am: 15.01.2020

Laufzeit: 0:29:00

Sprache: deutsch

Doch gleich, wann es geschieht – die Veränderung wird den gesamten Planeten betreffen. Das immer dunkle werdende Polarmeer verstärkt die Erwärmung der Arktis. Damit drohen Grönlands Gletscher aufzutauen und den Meeresspiegel anzuheben. Zudem können Permafrostböden abschmelzen, wodurch große Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre freigesetzt werden. Eine eisfreie Arktis würde wahrscheinlich die Wetterlagen des gesamten Globus durcheinanderbringen. Den südlicheren Breitengraden stehen Phasen von klirrender Kälte, brütender Hitze sowie zerstörerische Stürme bevor. Im Extremfall könnte sogar der Golfstrom zum Erliegen kommen und weiten Teilen Europas kälteres Wetter bescheren. »Das ist das Szenario von ›The Day After Tomorrow‹«, sagt Michel Tsamados, Meereis-Experte am University College London. Die Physik des Eises dürfte darüber entscheiden, ob viele dieser Effekte bereits in diesem Jahrzehnt auftreten.

»Das ist das Szenario von ›The Day After Tomorrow‹«
Michel Tsamados, University College London

Um den zeitlichen Verlauf besser beurteilen zu können, verbringen Wissenschaftler ein Jahr auf einem deutschen Eisbrecher, eingefroren im Meereis am nördlichen Ende der Welt. Auf der Mission, die ich im September und Oktober 2019 für sechs Wochen begleitet habe, überwachten sie die Arktis, um die Eis-Albedo-Rückkopplung sowie eine Reihe weiterer Parameter genauer zu untersuchen. Die Forscher hoffen, dass ihnen die Messungen aus dem Eis helfen, aus der Ferne eingeholte Daten – etwa Satellitenbilder – zu kalibrieren und die Komplexität des Packeises besser zu verstehen. Damit könnten sie Klimamodelle noch präziser machen.

»Es handelt sich hier nicht nur um Gedankenspiele«, meint Perovich und verweist auf die enormen Probleme, die schon heute in den Gemeinschaften der lokalen Inuit-Bevölkerung auftreten. »Wir versuchen, die Dinge zu verstehen, die sich aktuell auf die Menschen auswirken.«

99 Arten von Meereis

Am Abend des 26. September 2019 betraten wir den Rand des Packeises. Das dünne Eis sah zunächst aus wie ein spiegelglatter Streifen aus Kristallen, die im Sonnenlicht funkelten. Es verdichtete sich allmählich, bis es einen dünnen schwarzen Film bildete. In diesem Stadium kann es sich noch verbiegen und kräuselt sich etwa mit den Wellen, die vorbeifahrende Schiffe hinüberschicken. Je weiter wir in Richtung Norden fuhren, desto dicker wurde das Eis, bis es hart und weiß war. Hier warfen die Wellen das Eis umher und formten es zu den runden Platten, die Pfannkuchen- oder Tellereis genannt werden. Manchmal schoben sich dünne Platten übereinander, um ein ineinandergreifendes Muster zu erzeugen – ein Phänomen, das als »finger rafting« bekannt ist. Ein im Schiff herumgereichtes Bestimmungsbuch enthielt Beschreibungen und Zeichnungen von 99 unterschiedlichen Arten Meereis.

Am nächsten Morgen zogen Riesenschollen an uns vorbei – es war, als ob wir uns durch einen riesigen, weißen, von Eisbärenspuren getupften Kontinent hindurcharbeiten. Ich war an Bord eines russischen Eisbrechers, der Akademik Fedorov, die dabei geholfen hat, die Mission »Multidisciplinary Drifting Observatory for the Study of Arctic Climate« oder kurz MOSAiC auf den Weg zu bringen. Gemeinsam mit dem deutschen Eisbrecher Polarstern war die Akademik Fedorov Mitte September vom norwegischen Tromsø aus ins Zentrum der Arktis losgedampft. Die erste Aufgabe hatte darin bestanden, eine Scholle zu finden, die so stark und dick war, dass die Polarstern in sie hineinsteuern konnte – damit der Kapitän die Maschinen dort abschaltet und das Schiff ein ganzes Jahr lang im Eis festsitzt.

Die Route der Polarstern | Die MOSAiC-Expedition begann im September 2019 im norwegischen Tromsø. Es ist die erste Klimaexpedition, die ein ganzes Jahr im Zentrum der Arktis verbringt. Im Mittelpunkt der Expedition steht die Polarstern, ein deutscher Eisbrecher, der am 4. Oktober 2019 in eine Eisscholle eingeschlossen wurde. Mit dieser wird das Schiff noch bis September 2020 umherdriften. Am 17. November 2019 bildete sich ein großer Riss in der Scholle.

Das hätte eigentlich relativ glattgehen sollen. Laut den Vorhersagen der National Oceanic and Atmospheric Administration sollte das Meereis in diesen Breitengraden Ende September etwa 1,6 Meter dick sein. Doch wir suchten tagelang vergeblich nach einer auch nur einen Meter dicken Eisscholle. Hubschrauber, die auf Erkundungsflüge geschickt wurden, inspizierten mehr als ein Dutzend Schollen: Jede einzelne war weniger als einen halben Meter dick. Ein Schiff auf einer so dünnen Scholle zu verankern, wäre gefährlich, denn starke Winde würden das Schiff durch das Eis treiben und alle Forschungsstationen zerstören.

Die Probleme der Expedition machten überdeutlich, was der Verlust an mehrjährigem Eis im zentralen Arktischen Ozean bedeutet: »Das alte Eis ist fast vollständig verschwunden«, sagt Tsamados. »Das ist keine Panikmache, sondern eine Tatsache.« In den letzten drei Jahrzehnten ist das älteste und dickste Eis um 95 Prozent zurückgegangen. So viel weiß man zumindest aus Satellitenbeobachtungen – wobei die allerdings unzuverlässig sein können. Denn Satelliten messen die Eisdicke in der Regel mit einem speziellen Radar, das Schnee auf der Oberfläche durchdringen soll. Schafft es dies nicht, kann es passieren, dass Wissenschaftler Schnee mit Eis verwechseln und so die Dicke des Eises überschätzen.

Schnee sorgt zudem für weitere Komplikationen. Im einfachsten Fall wirkt er wie eine Decke, die verhindert, dass die Wärme des relativ warmen Wassers in die Atmosphäre entweicht. Seine isolierenden Eigenschaften machen ihn bekanntermaßen zu einem ausgezeichneten Baumaterial: für ein Iglu.

Im Jahr 2012 wollte Melinda Webster, Wissenschaftlerin an der University of Alaska in Fairbanks, untersuchen, wie die Schneedecke das Wachstum des Meereises beeinflusst. In einer kleinen Lagune, die mit der Tschuktschensee verbunden ist – einem Ort, der vor den Einflüssen von Wind und Meeresströmungen geschützt ist –, fand ihr Team heraus, dass dicker Schnee das Wachstum von Meereis hemmt. Je dünner das Eis ist, desto empfindlicher reagiert es auf die isolierende Wirkung des Schnees.

Allerdings können die Wissenschaftler nicht sagen, ob es in der Arktis bald mehr oder weniger Schnee geben wird. Dann einerseits geben offene Wasserflächen mehr Feuchtigkeit an die Atmosphäre ab; das führt zu mehr Niederschlag. Durch den Mangel an Eis verkleinert sich jedoch die Oberfläche, auf der sich der Schnee ansammeln kann.

Der Einfluss des Schnees scheint sich auch mit der Jahreszeit zu verändern. Herbststürme lassen eimerweise Schnee auf das Meereis fallen, zur Wintersonnenwende nehmen diese Stürme aber ab. Komplizierter wird alles noch durch die unregelmäßige Beschaffenheit des Schnees. Als wir zum ersten Mal die Polkappe betraten, erwartete ich eine Schneedecke, die sich bis zum Horizont erstreckte und die verschiedenen Arten von Meereis verdeckte. Doch die Dicke des Schnees variierte stark. Wo es offenes Wasser oder erst kürzlich gefrorenes Meereis gab, lag überhaupt kein Schnee – in der Nähe von Eisbergen türmte er sich hingegen in großen Haufen.

Das Eis wird bunt

Kurz nachdem die Polarstern auf einer Scholle geankert hatte, die schließlich als dick genug erachtet wurde, errichteten die Wissenschaftler Forschungsstationen auf dem Eis: Sie bauten Hütten und farbenfrohe Zelte auf, die alle durch ein komplexes Netz von Wegen und Stromleitungen miteinander verbunden waren; eine kleine, schwimmende Stadt.

Marcel Nicolaus, ein Meereisforscher des deutschen Alfred-Wegener-Instituts, das die MOSAiC-Mission leitet, suchte sich einen Ort aus, der nur 300 Meter vom Bug und ein wenig von der Steuerbordseite entfernt lag. Von dort aus wollte sein Team ein ferngesteuertes Fahrzeug – Spitzname »Die Bestie« – in ein Loch im Eis fallen lassen. Das Schallmessgerät der Bestie wird das Profil der unteren Eisschicht abbilden. Damit lässt sich die Eisdicke ermitteln, die in der Eis-Albedo-Rückkopplungsschleife eine entscheidende Rolle spielt. Denn dünnes Eis absorbiert mehr Licht, als es reflektiert. Es schmilzt daher schneller als dickes, weißes Eis.

Forscher bei der Arbeit im Eis | Wissenschaftler öffnen ein Loch im Eis für »Die Bestie« – ein Tauchboot, das die Dicke des Meereises bestimmen soll.

Ian Raphael hingegen scannte Eis und Schnee von oben, um zu sehen, wie sich die Albedo und der Schnee im Lauf der Jahreszeiten verändern. Kurz nachdem wir die Scholle erreicht hatten, wählte er einen Ort aus, an dem er einen Rotationslaser installierte. Er befestigte einen Zylinder, der fast so aussieht wie der Star-Wars-Droide R2-D2, auf einem sieben Fuß hohen Stativ. Der Scan zeichnet Zehntausende von Punkten auf und wird schließlich ein Gebiet von der Größe von etwa 20 Fußballfeldern abdecken. So soll das Gebiet im Lauf des Jahres wiederholt kartiert werden, damit die Wissenschaftler Oberflächenveränderungen wahrnehmen: Schneebedeckungen etwa, die wie Dünen mit dem starken Wind wandern können. Im Sommer wird die Karte auch zeigen, wie die Oberfläche schmilzt. »Wir werden eine unglaubliche dreidimensionale Karte erhalten, die zeigt, wie die Oberfläche an Zehntausenden von Punkten schmilzt«, sagt Perovich. Wenn das Eis schmilzt, bilden sich an der Oberfläche dunkle Teiche. Schließlich wird das Eis so porös, dass die Tümpel durch das Eis hindurch abfließen und die Oberfläche wieder weiß wird. Dann schmilzt noch mehr Eis – und der ganze Prozess geht von vorne los.

Um den von Raphael ausgesuchten Standort vorzubereiten, wanderten wir eines Morgens die Stelle ab. Über dem südlichen Horizont hing ein rosaroter Schleier, während im Norden ein orangefarbener Mond, der zwölf Tage lang nicht untergehen sollte, tief am Himmel stand. Es war relativ warm – das heißt, man konnte arbeiten, ohne sein Gesicht mit zusätzlichen Schichten zu bedecken, und sogar die Handschuhe für eine Minute ausziehen. Die Arbeit, die an diesem Tag getan werden musste, schien einfach zu sein, und Raphael sang Weihnachtslieder, als er in seinem roten Schneeanzug einen Schlitten, voll beladen mit Instrumenten, hinter sich herzog. Wir wussten nicht, dass innerhalb der nächsten paar Minuten ein Riss im Eis aufklaffen würde.

Wolken kühlen nicht, sie isolieren

Diese jahreszeitbedingte Atmung des Eises, die sich in der Schneedecke, in Schmelzteichen und dem Öffnen und Schließen von Rissen äußert, übt ebenfalls einen kritischen Einfluss auf das arktische Klima aus. Wenn ein besonders großer Riss oder gar eine Meereisrinne entsteht, wird ein Stoß warmer Luft und Feuchtigkeit in die Atmosphäre entlassen: Es bilden sich Wolken.

Das hat viele Wissenschaftler vermuten lassen, die Arktis würde sich im Zuge der Erwärmung mehr bewölkt zeigen. Und man könnte meinen, dass Wolken die Erwärmung eindämmen: Sie reflektieren ja – wie dickes, weißes Eis – die Sonnenstrahlung zurück ins All. Und so könnten sie die Arktis womöglich relativ kalt halten.

»Es ist, als hätten wir das komplizierteste Puzzle, das man sich vorstellen kann, und jeder hat ein paar Teile davon«
Donald Perovich, Ingenieur in Dartmouth

Doch offenbar ist das Gegenteil der Fall, sagt Patrick Taylor, Klimaforscher am Langley Research Center der NASA in Virginia. Im Jahr 2015 haben Taylor und seine Kollegen die NASA-Satelliten Calipso und CloudSat genutzt und festgestellt, dass offenes Wasser im Herbst und Winter, wenn es wenig bis gar kein Sonnenlicht zu blockieren gibt, Wolken bildet. Im Sommer bringt es hingegen weniger Wolken hervor. Der Grund dafür ist einfach. »Wenn Sie eine Tasse heißen Kakao mit nach draußen nehmen und die Temperatur minus 20 Grad Fahrenheit (das sind umgerechnet etwa minus 29 Grad Celsius) beträgt, sehen Sie eine enorme Verdampfung«, sagte Jennifer Kay, Klimawissenschaftlerin an der University of Colorado in Boulder. Nimmt man hingegen an einem heißen Sommertag seine Tasse mit nach draußen, sieht man nichts. Damit etwas verdunstet, muss es im Vergleich zu seiner Atmosphäre heiß sein. In kälteren Jahreszeiten ist das vermeintlich kühle Polarmeer eher schon lauwarm.

Die Winterwolken wirken somit wie eine Decke, in der die Wärme eingeschlossen ist. Taylor meint, dass die Wolken daher die Eis-Albedo-Rückkopplungsschleife verstärken. Im Herbst und Winter bildet das offene Wasser Wolken, die die Oberfläche erwärmen. Das führt zu mehr offenem Wasser in den darauf folgenden Jahreszeiten – und zu mehr Wolken.

Sonne, Risse, Schnee, Schollen, Wolken, Wind – sie alle arbeiten zusammen und interagieren miteinander, um das wichtigste Klimakontrollsystem der Erde zu diktieren. »Es ist, als hätten wir das komplizierteste Puzzle, das man sich vorstellen kann«, sagte Perovich, »und jeder hat ein paar Teile davon.«

»Das Eis flüstert nicht. Es schreit«

Das Eis ist laut und lebendig

Etwa um vier Uhr morgens an diesem Tag, nachdem das Eis unter meinen Füßen gebrochen war, begann das dünne Eisfurnier unter ohrenbetäubendem Lärm zu bersten. Vor meiner Abreise hatte ich mit einigen Arktisforschern gesprochen, die mir gesagt hatten, ich solle dem Eis zuhören. Ich dachte, dass ich auf dem Eis niederknien und mein Ohr an die Scholle legen müsse, um es flüstern zu hören. Aber das Eis flüstert nicht. Es schreit. Immer wenn sich Druck aufbaut, hört man ein lautes Zischen, fast wie das Kreischen einer explodierenden Limoflasche. Es zischt. Es knallt. Es stöhnt. Und zwar laut. Wahrscheinlich hätte ein Eisbär, der sich in der Ferne aufhält, so etwas wie einen Donner gehört.

Mehrere Stunden lang schrammte das Eis von der Backbordseite am Rumpf des Eisbrechers entlang, wodurch das Schiff zurückgedrängt wurde und sich die Ankerleinen am Bug spannten. Zum ersten Mal seit dem Einfrieren in die Scholle startete der Kapitän die Motoren und steuerte die Polarstern auf die Anker zu, um zu verhindern, dass die Leinen reißen. Endlich gab das Eis Ruhe. Aber schon bald darauf vollendete sich der zehn Meter breite Riss, der nun vom Horizont in Richtung Schiffsbug verlief: Das Eis auf Back- und Steuerbordseite wurde in zwei separate Schollen zerteilt. Diese trieben aufeinander zu und bildeten kleine Berge aus türkisfarbenen Eisblöcken. »Auf dem Schiff lastete ein hoher Druck«, sagt Byron Blomquist, Atmosphärenforscher an der University of Colorado. »Gut, dass es ein Eisbrecher ist, sonst wären wir wie eine Walnuss zerquetscht worden.«

In nur wenigen Stunden hatte sich das Eis dramatisch verändert. An diesem Morgen durfte niemand das Eis betreten, aber gegen acht Uhr morgens stieg ich mit Markus Rex, einem Atmosphärenphysiker vom Alfred-Wegener-Institut und Leiter der MOSAiC-Expedition, in einen Hubschrauber. Wir flogen über die Scholle, um den Schaden zu begutachten. Die Polarnacht hatte Einzug gehalten, und wir konnten nur mit Hilfe der Schiffslichter im schwachen Schein der Dämmerung etwas sehen. Sie hatte die Landschaft in ein tiefes Meerblau getaucht. Der Blick aus der Vogelperspektive offenbarte uns eine neue Welt. An der Backbordseite war offenes Wasser. Auf der Steuerbordseite befanden sich einige Risse und eine Bergkette aus Eis, die die nahe gelegenen Stromleitungen überspannte.

Damit war ein weiterer Beweis erbracht, dass das Eis lebendig ist. Laut Forschern wie Christopher Polashenski vom Dartmouth College beeinflussen all seine Bewegungen die Eis-Albedo-Rückkopplung. Jene Bergketten aus Eis, die entstehen, wenn Schollen aufeinanderprallen, bilden dickeres Eis, das schwieriger zu schmelzen ist. Offene Spalten im offenen Wasser überfrieren mit dünnem Eis, das im darauf folgenden Sommer schnell schmilzt. Kanten und Hügelketten bilden die Grundlage von Schneebänken, die vom Wind zugeweht werden. Die Dynamik des Meereises könnte sich sogar noch verstärken, wenn das Eis dünner wird – und weitere Rückkopplungseffekte erzeugen. Dünneres Eis lässt sich schließlich leichter beeinflussen. Im Herbst und Winter öffnen sich darin mehr Meereisrinnen. Und im Sommer schmilzt es schneller. Mit jedem Jahr intensiviert sich dieser Zyklus.

Um die Dynamik des Meereises besser zu verstehen, hat Polashenski auf dem Eis ein Instrument aufgestellt, das einen Laserimpuls auf mehrere Ziele in etwa einem Kilometer Entfernung abfeuert. Es misst, wie sich deren Abstände im Lauf der Zeit verändern. Solche winzigen Veränderungen verheißen das Aufbrechen des Eises. Andere Wissenschaftler haben im Eis Bojen aufgestellt, die ihre Position an GPS-Satelliten melden. Das ermöglicht ihnen zu beobachten, wie sich das Eis öffnet und schließt, wie es schert und rotiert.

Gemessen an der Anzahl der Stürme, die die MOSAiC-Wissenschaftler bereits beobachtet haben, erfüllt der Datensatz einen lang gehegten Traum – auch wenn die Arbeit äußerst schwierig war. Am 17. November, einen Monat nach meiner Abreise, bildete sich eine Meereisrinne quer durch die Mitte des Camps. Zunächst war sie überschaubar. Die Wissenschaftler bauten Brücken, um sie zu überqueren. Dann traten Scherkräfte auf: Sie schickten das Eis von der Steuerbordseite des Schiffs zur Backbordseite. »Es war wie eine Parade«, schreibt Raphael über WhatsApp, die einfachste Form der Kommunikation an Bord des Schiffs. Mehrere Stationen verloren ihre Stromversorgung. Raphaels Beobachtungsposten wurde zerstört.

»Es ist einerseits frustrierend, zuzusehen, wie deine ganze Arbeit buchstäblich zerrissen, deine Messungen unterbrochen und deine Instrumente zerstört werden«, sagt Raphael. »Aber gleichzeitig ist es kraftvoll, mächtig und schön – als würde man das anschwellende Hochwasser eines großen Stroms nach der Schneeschmelze beobachten.« Das sei schließlich trotz allem der Grund, warum sich viele Wissenschaftler angemeldet haben. »So ist die Meereis-Wissenschaft«, sagt er. »Deshalb ist sie so herausfordernd. Am Ende hat es sich hoffentlich gelohnt.«

Ian Raphael baute seine Feldstation wieder auf. Und am Ende werden alle Beobachtungen der Expedition – von der Schneedicke bis hin zur Eisdynamik – in Klimamodelle einfließen, die unsere Zukunft vorhersagen. Auf dem Heimweg dachte ich über diese Zukunft nach. Wir verließen das Meereis spät in der Nacht. Ich sah zu, wie sich die Welt von dicken Eisschollen in Pfannkucheneis und schließlich in offenes Wasser verwandelte. Eine atemberaubend schöne Welt verschwand in wenigen Stunden, und ich werde sie vielleicht nie wiedersehen. Wenn ich in zehn Jahren hierher zurückkomme, könnte es ganz anders aussehen. Vielleicht ist nichts mehr davon da.

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