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Kinderlähmung: Polio-Impfstoff, zweiter Versuch

In seltenen Fällen kann die Schluckimpfung gegen Polio lokal zu neuen Ausbrüchen führen. Ein neuer, besserer Impfstoff könnte das verhindern. Die WHO erwägt eine Notfallzulassung.
Ein Mitarbeiter des Gesundheitswesens verabreicht einem Kind während einer Impfkampagne in der ostpakistanischen Provinz Punjab den Polio-Impfstoff.

Ein Impfstoff gegen eine Form von Polio, die sich derzeit auf der Südhalbkugel ausbreitet, könnte noch vor Ende des Jahres eine Notfallzulassung durch die WHO erhalten. Das wäre das erste Mal, dass die Weltgesundheitsorganisation einen nicht lizenzierten Impfstoff oder ein nicht zugelassenes Medikament durch ihren Notfalllistenprozess steuert.

In ihrer ursprünglichen Form ist die Kinderlähmung beinahe ausgerottet. Nur zwei Länder – Afghanistan und Pakistan – melden noch Fälle. Doch eine Version des Virus, die auf natürliche Weise aus dem geschwächten Poliovirus entstanden ist, das zur Impfung verwendet wird, nimmt in ihrer Verbreitung zu. Das so genannte zirkulierende impfstoffbasierte Poliovirus (cVDPV, von circulating vaccine-derived poliovirus) kommt sowohl in Afghanistan und Pakistan als auch auf den Philippinen, in Malaysia, im Jemen und in 19 afrikanischen Ländern immer häufiger vor. Unter Letzteren sind vor allem der Tschad, die Demokratische Republik Kongo und die Elfenbeinküste am stärksten betroffen.

Bislang gab es im Jahr 2020 weltweit mehr als 460 Fälle von cVDPV. Das sind mehr als viermal so viele Fälle wie zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2019. Das ist ein Problem für die rund 17 Milliarden US-Dollar schwere weltweite Kampagne zur Ausrottung der Krankheit. Forscher, die Polioinfektionen modellieren, gehen davon aus, dass es für jeden bekannten Fall etwa 2000 Infektionen in der Bevölkerung gibt. »Millionen von Menschen haben potenziell keine Immunität gegen das vom Impfstoff abgeleitete Virus. Deshalb sind wir sehr besorgt«, sagt Kathleen O'Reilly, Poliospezialistin und Epidemiologin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Unabhängige wissenschaftliche Berater der WHO prüfen derzeit die Daten zu einem Impfstoff, der zum Schutz vor cVDPV entwickelt wurde. Der Impfstoff befindet sich seit zehn Jahren in der Entwicklung und wurde bereits auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet. Er ist allerdings noch nicht zugelassen und muss noch weiteren Studien unterzogen werden. Die WHO prüft deshalb derzeit, ob er schneller zugelassen werden kann im Rahmen einer Art Notfallzulassung. Die Weltgesundheitsorganisation hat dieses Verfahren während des Ebolaausbruchs in Westafrika von 2014 bis 2016 geschaffen. Auch für Coronavirus-Impfstoffe könnte es zum Einsatz kommen.

Die meisten Fälle von cVDPV werden durch Mutationen in einem Poliovirusstamm hervorgerufen, der auch als »Typ 2« bezeichnet wird. Gegenwärtig werden die Ausbrüche mit dem alten Impfstoff gegen Typ-2-Polio bekämpft – mit der Gefahr, weitere Ausbrüche auszulösen. Wenn der neue Impfstoff für Notfallsituationen zugelassen würde, könnte das alles verändern, sagt Simona Zipursky, die die Arbeitsgruppe für den Impfstoff bei der Global Polio Eradication Initiative in Genf mit leitet. Die Initiative ist eine Partnerschaft zwischen der WHO und internationalen Geldgebern.

Die Ergebnisse der Phase-I-Studien zu dem Impfstoff wurden im vergangenen Jahr veröffentlicht. Zwei Phase-II-Studien sind ebenfalls bereits abgeschlossen, die Veröffentlichung der Ergebnisse steht aber noch aus. Der Hersteller Bio Farma mit Sitz in Bandung, Indonesien, hat jedoch schon mal 160 Millionen Impfstoffdosen produziert, in der Erwartung, dass die WHO dem Impfstoff die Notfallzulassung erteilt, während weitere Studien noch laufen. Stimmen die nationalen Gesundheitsbehörden dann zu, könnte der neue Polioimpfstoff innerhalb von zwei Monaten in ausgewählten Pilotländern verteilt werden, erklärt Zipursky.

Der Kampf gegen Polio

Der Mediziner Albert Sabin entwickelte die herkömmliche Schluckimpfung gegen Polio in den 1950er und 1960er Jahren. Dazu züchtete er das Virus in Zellkulturen und in nichtmenschlichen Primaten. Irgendwann hatte es sich so gut an diese Umgebungen angepasst, dass es Menschen nicht mehr besonders gut befallen konnte. Dieses »abgeschwächte« Virus wird für den Impfstoff verwendet – mit dem Ergebnis, dass sich heute nur noch wenige hundert Menschen pro Jahr mit der Krankheit anstecken, die früher Hunderttausende infizierte. Und noch viel weniger Menschen tragen Lähmungen als Langzeitfolgen davon.

Der Impfstoff wird oral aufgenommen, und die Empfänger scheiden anschließend lebende Viren eine Zeit lang mit dem Kot aus. Werden diese Viren – zum Beispiel durch verunreinigtes Trinkwasser – von anderen Menschen aufgenommen, können diese sich ebenfalls anstecken. Da die Erreger, wie bereits erwähnt, abgeschwächt sind, verläuft so eine Infektion meist harmlos. Sie kann sogar – ähnlich wie bei den Menschen, die den Impfstoff bekommen haben – eine Immunität gegen Polio erzeugen.

Arzneimittel – von der Entwicklung bis zur Zulassung

Präklinische Studien sind der Anfang. Sie finden nicht an Menschen statt, sondern an Proteinen, Zellkulturen, Gewebekulturen oder isolierten Organen sowie mit diversen Versuchstieren: Ratten, Affen, Schweinen beispielsweise. Unter klaren Vorgaben prüfen Forscher Wirkstoffe auf mögliche Nebenwirkungen und versuchen, den tolerierbaren Dosisbereich am Menschen zu finden. Die Ergebnisse sollen helfen, die folgenden klinischen Studien sicher und zielführend durchzuführen. Kosten einschließlich der Forschung und Entwicklung: 200 bis 300 Millionen Euro.

Eine klinische Prüfung am Menschen ist laut Arzneimittelgesetz (AMG) »jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen«. Es gibt unterschiedliche Studiendesigns mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen.

In Phase I der Tests bekommen Gesunde den Wirkstoff (Überprüfung der Sicherheit und Verträglichkeit). In Phase II (Sicherheit in Patienten und des therapeutischen Effekts, Dosisfindung) und III (Wirkungsnachweis) wird das Mittel an Menschen getestet, die erkrankt sind. Alle Probandinnen und Probanden sind vollständig aufzuklären und sollen freiwillig einwilligen mitzumachen.

Hat es ein Mittel in Phase III geschafft, liegt die Markteintrittswahrscheinlichkeit bei 65 Prozent. Bis dahin hat ein Konzern jedoch bereits mindestens mehrere hundert Millionen Euro, wenn nicht gar Milliarden investiert.

Im Zulassungsverfahren wird ein Arzneimittel hinsichtlich seiner Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Dabei sollte der Nutzen die Risiken überwiegen. Für eine Zulassung in Deutschland prüfen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), für den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum ist die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zentral zuständig.

Phase-IV-Studien sollen anschließend die systematische und fortlaufende Überwachung sicherstellen. Das Ziel: insbesondere sehr seltene Nebenwirkungen und andere Risiken erfassen.

Doch Sabin wusste damals nicht, dass seine Abschwächung am seidenen Faden hing, erklärt Raul Andino, Virologe an der University of California in San Francisco. Es bedurfte nur einer »Gatekeeper-Mutation« in der RNA des Virus, die weitere Veränderungen ermöglichen würde, welche dem Erreger schließlich seine Virulenz erneut verleihen konnten. Und genau das geschah – womöglich bereits 1988, als in Ägypten ein Polioausbruch begann, der auf einen Impfstoff zurückzuführen war. Später traten weitere Fälle auf, obwohl der Wildtyp des Poliovirus in den meisten Ländern auf dem Rückzug war.

Ein entscheidender Moment kam 2015, als der Wildtyp 2 der Kinderlähmung für ausgerottet erklärt wurde, 16 Jahre nach dem letzten gemeldeten Fall. Die WHO beschloss daraufhin, den oralen Impfstoff gegen Typ 2 im Jahr 2016 in einem großen, koordinierten Akt weltweit zurückzuziehen. Danach begann die Immunität gegen das Polovirus vom Typ 2 zu schwinden – was die Bevölkerungen anfällig für die wenigen lauernden Typ-2-Viren machte, die sich von den Impfstoffen ableiteten.

Ein neuer Impfstoff soll schädlichen Mutationen vorbeugen

Wie der alte wird auch der neue Polioimpfstoff aus lebenden, infektiösen Polioviren gewonnen. Diese sind jedoch dieses Mal noch stärker verändert, um zu verhindert, dass sie durch Mutationen wieder schädlich werden können. Andino begann 2011 gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen an solchen Viren zu arbeiten.

Einer dieser Kollegen ist Andrew Macadam vom britischen National Institute for Biological Standards and Control. Macadam konzentrierte sich auf jene Teile der RNA in Sabins Impfstoff, in denen einzelne Basen mutierten, um die Virulenz des Virus wiederherzustellen. Er tauschte einige dieser Basen an strategischen Punkten gegen andere aus, so gewählt, dass es für das Virus schwierig sein würde, die Veränderung rückgängig zu machen. »Es funktioniert erstaunlich gut«, sagt Andino. »Wir haben keine Mutation mehr gesehen, nicht in Zellkulturen, nicht in Tiermodellen und jetzt auch nicht beim Menschen.«

Das Team nahm außerdem zwei weitere Veränderungen an dem Virus vor: eine, um es daran zu hindern, sich mit anderen Darmviren zu rekombinieren; die andere, um seine Evolution zu verlangsamen. Das Ergebnis ist ein viraler Impfstoff mit einem viel niedrigeren Risiko, Polio auszulösen.

Der neue Impfstoff werde keinem Land aufgezwungen. Und er müssen weiterhin überall eigene Genehmigungsprozesse durchlaufen, sagt Zipursky. Viele Regulierungsbehörden würden jedoch ungeduldig darauf warten, den Impfstoff in die Hände zu bekommen, damit sie ihre Länder endlich von der Kinderlähmung befreien und sich auf andere Themen konzentrieren können.

Ein geringes Risiko, dass auch der neue Impfstoff am Ende zu Krankheitsausbrüchen führen kann, besteht nach wie vor, sagt Paul Fine, Spezialist für übertragbare Krankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Am Ende werde es darauf ankommen, wie stabil das Vakzin sei. Dem stimmt auch Abdhalah Ziraba, Epidemiologe am African Population and Health Research Center in Nairobi, zu: Ein seltenes unerwünschtes Ereignis würde nur in größeren Studien entdeckt werden. Er hat deshalb Vorbehalte gegen eine Notfallzulassung. Eine solche Maßnahme sei da sinnvoll, »wo man gar kein Werkzeug im Werkzeugkoffer hat – wie bei Ebola oder bei Covid-19. Aber Polio und Covid-19 sind Lichtjahre voneinander entfernt, im Bezug auf das, was einen Notfall ausmacht.«

Zipursky sagt, dass man den Einsatz eines Impfstoffs in den ersten drei Monaten nach einer Notfallzulassung intensiv überwachen müsse, um auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können. Das sei unerlässlich, »um das Polioprogramm und die Immunisierung im Allgemeinen nicht zu untergraben«. Nicholas Grassly, Epidemiologe für Infektionskrankheiten am Imperial College London, ist ebenfalls der Ansicht, die Einführung könne nicht warten. Er sagt, die Welt reagiere auf cVDPV-Ausbrüche mit Hunderten von Millionen Dosen des alten Impfstoffs gegen Typ-2-Polio, die ihrerseits weitere Ausbrüche auslösen. Der neue Impfstoff »ist das einzige Mittel, das wir haben, um diesen Kreislauf zu durchbrechen«. Das Fehlen von Daten aus weiteren Studien werde zudem durch Daten über den alten Impfstoff ausgeglichen, der dem neuen Impfstoff in vielerlei Hinsicht ähnelt und kaum Nebenwirkungen zeige.

Faisal Shuaib, Direktor der National Primary Health Care Development Agency in Abuja, die für die Ausrottung der Kinderlähmung in Nigeria zuständig ist, begrüßt den neuen Impfstoff, »vorausgesetzt, er erfüllt die Sicherheitsvorgaben, die von globalen und nationalen Zulassungsorganisationen festgelegt wurden«. Doch selbst wenn, sei er vermutlich keine Wunderwaffe. »Er ist sehr wichtig, aber letztlich besteht die Lösung darin, alle Ressourcen einzusetzen, um die Routineimpfung zu verbessern.«

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