»Wir hier unten gegen die da oben«: Die Logik des Populismus

Herr Lewandowsky, etliche Menschen haben das Gefühl, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr sagen dürfen, obwohl wir in einem Land mit freier Meinungsäußerung leben. Haben sie Recht?
Bestimmte Dinge zu sagen oder zu tun, wird heute tatsächlich stärker gesellschaftlich sanktioniert als früher, abschätzige Bemerkungen über Frauen, Homosexuelle oder queere Menschen zum Beispiel. Das liegt teils daran, dass der Mainstream liberaler geworden ist, aber auch daran, dass diese Gruppen aktiv für ihre Rechte eintreten. Die Folge sind etwa Outcallings: Jemand wird angeprangert, weil er sich auf eine bestimmte Weise geäußert oder verhalten hat. Vorzugsweise geschieht das in sozialen Medien. Diese Person muss dann mit harschem Gegenwind leben, bis hin zum Shitstorm. Wer vor 30 Jahren sozialisiert wurde und das heute erlebt, verspürt Freiheitsverlust und Ohnmacht. Man versteht die Welt nicht mehr, fühlt sich aber noch immer im Recht.
Gilt das auch beim Thema Gendern, das viele auf die Palme bringt?
Hier geschieht zweierlei. Zum einen findet eine Entfremdung statt: Man wird mit einer Art zu sprechen konfrontiert, die nicht der eigenen Gepflogenheit entspricht, und kann gar nicht nachvollziehen, warum um Himmels willen man das tun sollte. Der Zusammenhang zwischen inklusiver Sprache und einem dadurch allmählichen Gesellschaftswandel erschließt sich auch nicht sofort. Zum anderen empfinden viele die neue Sprechweise als moralisch aufgeladen. Bei ihnen kommt an: Wenn ich jetzt nicht auch so spreche, dann machen die das zu meinem Problem. Dann werde ich schikaniert und erleide handfeste Nachteile. Genau diesen Unmut nutzen populistische Akteure, indem sie etwa ein Genderverbot fordern.
Was ist Populismus?
Ich folge der Definition des niederländischen Politologen Cas Mudde. Populismus ist ein politisches Phänomen, das für sich beansprucht, der schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben. Das »wahre Volk« sei sonst nicht mehr vernehmbar, weil eine feindlich gesinnte Gruppe es systematisch unterdrückt: das politische Establishment, das als abgehoben, verdorben und machtgierig hingestellt wird.
Auf welche Frage ist Populismus die Antwort?
Auf die Frage, in den Worten Hubert Aiwangers von den bayerischen Freien Wählern: Wie holen wir uns unsere Demokratie zurück? Populismus ist ein Phänomen demokratischer Krisen. Die Neigung, populistische Parteien zu wählen, hat sich über Jahre entwickelt. Sie ist das Ergebnis einer Krisenwahrnehmung, die auf Entwicklungen in den späten 1960er und 1970er Jahren zurückgeht. Damals wurde die Gesellschaft liberaler, aber längst nicht alle Menschen folgten diesem Wandel. Und inzwischen kommt die Wahrnehmung der Leute hinzu, dass die etablierten Parteien nicht in der Lage sind, die drängenden Probleme zu lösen. Was ja auch stimmt. Denn viele Krisen – ob Ukrainekrieg, Migration oder Klimawandel – sind internationale Krisen, gegen die nationale Regierungen zwar irgendwie anstrampeln müssen, die sie aber nicht allein bewältigen können.
Welche Ausformungen von Populismus gibt es?
Es gibt rechten und linken Populismus, aber auch religiösen. Sie alle folgen dieser Wir-hier-unten-gegen-die-da-oben-Logik.
Was kennzeichnet populistische Parteien?
Dass ihre gesamte Politik dieser Logik folgt. Egal welche Gegenwartsanalyse sie vornehmen und welche Forderungen sie stellen, alles wird auf diesen Konflikt zurückgeführt. Populistische Parteien beschwören eine demokratische Krise, in der das wahre Volk nicht mehr gehört werde, und einzig sie selbst hätten das Rezept gegen die Abkopplung des Establishments von den normalen Bürgern. In diesem Sinne begreifen sich Populisten als die wahren Demokraten.
In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie, unsere Vorstellungen über die Wähler populistischer Parteien steckten voller Klischees. Räumen Sie bitte mit diesen Klischees auf!
Das größte Klischee lautet, populistische Wähler seien Protestwähler. Zwar spielt Protest eine Rolle. Aber wenn Menschen für die Inhalte einer Partei nicht wenigstens offen sind, geben sie ihr auch nicht ihre Stimme, bloß um denen da oben mal eins auszuwischen.
Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Wir können Populismus als Einstellung messen. Wer populistische Parteien wählt – das sehen wir in Deutschland und vielen anderen Ländern –, teilt oft deren Ansichten, etwa zur Migration. Auch bei Problemen der Demokratie stimmen viele mit den Formulierungen populistischer Parteien überein.
»Unter den Wählern der AfD finden wir zwar viele Menschen mit mittleren oder unteren Bildungsabschlüssen – aber längst nicht nur«
Welches Klischee gibt es noch?
Dass populistische Parteien die neuen Arbeiterparteien sind und vor allem die Prekären und Abgehängten ihnen die Stimme geben. Unter den Wählern der AfD etwa finden wir zwar viele Menschen mit mittleren oder unteren Bildungsabschlüssen und mehr Arbeiter als unter den Wählern manch anderer Parteien – aber eben längst nicht nur.
Wie misst man Populismus?
Indem man zum Beispiel die Wahlprogramme nach eindeutig populistischen Aussagen absucht und diese dann quantifiziert. Oder man analysiert die Parlamentsreden von Politikern. Eine andere Methode sind standardisierte Umfragen, die populistische Einstellungen wie die Wir-hier-unten-gegen-die-da-oben-Logik in der Bevölkerung erfassen.
Welche Parteien in Deutschland sind populistisch?
Die AfD und das BSW sind von ihrer Programmatik her populistische Parteien, die AfD beherbergt aber auch Rechtsextremisten. Populismus kann jedoch mal stärker und mal weniger stark in Parteien oder bei Politikern ausgeprägt sein.
Heißt das, man kann populistische und nicht populistische Parteien gar nicht klar voneinander trennen?
Das ist tatsächlich schwierig. In unserem Sprachgebrauch ist »populistisch« zwar ein binäres Merkmal – wir nennen eine Partei populistisch oder nicht –, aber die empirischen Daten zeigen ein anderes Bild. Schauen wir beispielsweise in die Wahlprogramme oder auf die Sprechakte der Kandidaten, gelangen wir immer nur zu Urteilen, die auf graduellen Maßen basieren. Eine Partei ist also mehr oder weniger populistisch, was sich zudem noch über die Zeit ändern kann. Im aktuellen Bundestagswahlkampf nutzen mehrere Parteien und ihr Spitzenpersonal populistische Strategien. Neben AfD und BSW fallen hier die Konservativen auf, speziell die CSU. Aber das macht die CSU nicht insgesamt zu einer populistischen Partei.
Gibt es dann auch einen fließenden Übergang von populistisch über radikal bis extremistisch?
Ja. Der Begriff Extremismus wird in der Forschung intensiv diskutiert. In Deutschland deuten wir ihn oft formalistisch: Widerspricht eine Partei, eine Bewegung oder eine Einstellung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder nicht? Radikalismus lehnt bestimmte Anteile liberaler Verfassungen ab, während Extremismus diese Verfassungen vollständig zu Gunsten eines anderen, nicht demokratischen Systems abschaffen will. In der Praxis überlappt sich hier jedoch vieles.
Breitet sich der Populismus aktuell in der deutschen Bevölkerung aus?
Das würde ich nicht sagen; die Mehrheit der Deutschen ist nicht populistisch eingestellt. Wie andere politische Einstellungen auch ist der Populismus Schwankungen unterworfen. Die Populismusbarometer der Bertelsmann Stiftung zum Beispiel zeigen, dass populistische Einstellungen nicht stabil bleiben über die Zeit.
Das heißt, eine populistische Einstellung des Einzelnen kann kommen und gehen?
Diese Frage ist schwierig. In der Forschung wird noch stark diskutiert, ob Populismus eher eine veränderliche Einstellung darstellt oder eine dauerhafte wertgebundene Orientierung.
Wie lautet Ihre Antwort?
Sagen wir mal so: Der Blick der Menschen auf die Demokratie, also wie gut die Leute die Demokratie als solche finden, ändert sich bei den meisten kaum im Lauf der Zeit. Daher könnte man meinen, Populismus – als eine illiberale Vorstellung von Demokratie – sei ebenfalls ein relativ stabiles Phänomen. Doch oft ist es nicht so. Als Wissenschaftler sind wir erst noch dabei, das zu verstehen.
»Linker und rechter Extremismus lehnen beide die liberale Demokratie ab, aber mit anderen Zielvorstellungen«
Stimmt die Vorstellung, dass sich Links- und Rechtspopulismus an den Rändern des politischen Spektrums wieder treffen, so dass auch wechselseitige Wählerwanderungen oder gemeinsame Koalitionen gar nicht so schwierig sind, wie man meinen könnte?
Das ist die berühmte Hufeisentheorie. Sie ist in der Forschung höchst umstritten, und das auch zu Recht. Linker und rechter Extremismus lehnen beide die liberale Demokratie ab, aber mit anderen Zielvorstellungen. Linke und rechte Populisten sprechen für »das Volk«, aber wen sie damit meinen, unterscheidet sich. In der Praxis zeigt sich, dass über gemeinsame Feindbilder Formen der Zusammenarbeit möglich sind. Die Übernahme traditionell linker Themen und Symbole durch Rechtsextreme etwa wird als Querfront bezeichnet. Und hier gibt es im erweiterten Netzwerk der so genannten Neuen Rechten durchaus entsprechende Bestrebungen.
Zum Beispiel?
2022 erschien Sarah Wagenknecht mit der Titelzeile »Die beste Kanzlerin – Eine Kandidatin für Links und Rechts« auf dem Cover des rechten Magazins »Compact«. Das zeigt, dass zumindest in der intellektuellen Strömung der Neuen Rechten darüber nachgedacht wird, wie man das populistische Potenzial von links mit abgreifen kann.
Was macht der Populismus mit dem politischen System?
In Polen und vor allem in Ungarn konnten wir quasi live beobachten, was Populisten tun, wenn sie an die Macht kommen. Da populistische Parteien ja behaupten, dass nur sie allein den Willen des Volkes vertreten – während das Establishment die Institutionen nur ausnutze, um gegen das Volk zu arbeiten –, machen sich regierende Populisten immer schnell daran, die demokratischen Institutionen umzubauen.
Worin besteht dieser Umbau?
Im Kern geht es darum, die Regierung der Kontrolle durch Gerichte und Medien zu entziehen. Dazu besetzt man das Verfassungsgericht mit eigenen Unterstützern und versucht zudem, sich auch noch die nachgeordnete Justiz gefügig zu machen. Außerdem werden die Medien, allen voran der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Behörden unterstellt, die ihrerseits direkt der Regierung oder der Parlamentsmehrheit unterstehen. Auf diese Weise wird der öffentliche Diskurs systematisch zu Gunsten der Regierung verändert.
Welche Rolle spielen eigene Medienkanäle für die Verbreitung des Populismus?
Schon Silvio Berlusconi, ein Prototyp des Populisten, hatte ein eigenes Medienimperium. Aktuell steuern wir auf eine Entwicklung zu, in der soziale Medien die Schlüsselrolle bei der Verbreitung rechter Positionen und der Mobilisierung ihrer Anhänger spielen. Wobei man hier noch differenzieren muss. Auf der einen Seite haben wir Medien wie Truth Social oder Parler, die quasi ausschließlich für die eigenen Sympathisanten entwickelt wurden. Hier mobilisiert man die eigene angestammte Klientel. Auf der anderen Seite stehen die großen Netzwerke, die quasi von uns allen genutzt werden, wie Facebook oder Youtube, die sich aber gerade stark verändern.
Nämlich wie?
Nachdem Elon Musk Twitter gekauft und in X umbenannt hatte, sorgte er sofort dafür, dass rechte und rechtsextreme Accounts reaktiviert und rehabilitiert wurden. Auch Faktenchecks stellte er ein, was jetzt mit Zeitverzögerung auch bei Facebook passiert. Und schließlich haben wir das Problem, dass Algorithmen das individuelle Nutzererlebnis orchestrieren. Hier können wir zum Beispiel bei Youtube deutlich erkennen, dass Menschen, die sich ohnehin eher für konservative Inhalte interessieren, durch automatisierte Empfehlungen irgendwann bei extremistischen Inhalten landen.
Kommen wir noch einmal auf Ungarn zurück. Wie wichtig ist das Beispiel Ungarn für die weltweite Entwicklung des Rechtspopulismus?
Ungarn ist das große Vorbild. Viktor Orbán spricht selbst ganz unverblümt und stolz von einer illiberalen Demokratie als Gegenentwurf zur liberalen Demokratie westlicher Prägung. Seine Fidesz-Partei konnte dank einer 2010 errungenen Zweidrittelmehrheit im Parlament rasch eine Verfassungsreform auf den Weg bringen, das Verfassungsgericht in seinen Kompetenzen beschneiden und es mit eigenen Leuten besetzen. Auch die Medien in Ungarn sind heute weitgehend kontrolliert. Das bedeutet: Ungarn ist zwar formal noch eine Demokratie, aber mit starken autokratischen Elementen.
Österreich könnte schon bald eine neue Regierung unter Führung der rechtspopulistischen FPÖ bekommen. Was bedeutet das für Deutschland?
Das bedeutet zunächst einmal, dass speziell die Vertreter der Union, die noch nach der richtigen Strategie im Umgang mit der AfD suchen, sehr genau nach Wien schauen sollten, ob es dort zu einem Umbau der Institutionen kommt. Momentan versucht die Union, den rechtspopulistischen Wählern auf halbem Weg und manchmal noch ein Stück weiter entgegenzukommen, und nimmt inzwischen in Kauf, Mehrheiten mit der AfD zu erringen. Das bringt aber wenig, weil diese Wähler eben keine flüchtigen Protestwähler sind, sondern sowohl mit der Migrationspolitik als auch mit dem Populismus der AfD stark übereinstimmen. Der Effekt, den die Konservativen mit einer solchen Strategie erzielen, dürfte eher noch eine Stärkung der Rechtspopulisten sein.
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