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PROTACs: Proteinkiller - die neuen Wundermedikamente?

Alzheimer, Krebs, Resistenzen - ein neuer Typ von Medikament nimmt bislang unbesiegbare Krankheiten ins Visier. Seine wichtigste Waffe: die körpereigene Müllabfuhr.
Protein und Substrat an einer Zellmembran. Nicht zu sehen: die unfassbar vielen Wassermoleküle.

Der deutsche Arzt Paul Ehrlich stellte Ende des 19. Jahrhunderts die Theorie der medizinischen Zauberkugel auf: eine Substanz, die Mikroben bekämpft, ohne dem Patienten zu schaden. Schon wenige Jahre später entwickelte er zusammen mit Sahachiro Hata den ersten derartigen Stoff – das kleine Molekül Salvarsan gegen die weit verbreitete Syphilis. Bis heute folgen die allermeisten Medikamente dem Vorbild dieser ersten Zauberkugel.

Diese relativ kleinen und einfachen Moleküle haben allerdings einen großen Nachteil: Sie blockieren sehr gezielt eine bestimmte Funktion an einem Protein, und das funktioniert nur bei Biomolekülen, die aktiv an zellulären Signalwegen beteiligt sind. Dadurch treffen sie lediglich einen kleinen Teil der krankheitsauslösenden Proteine. Die anderen etwa 80 Prozent der Proteine gelten als unangreifbar, als »undruggable«. Bisher jedenfalls, denn eine völlig neue Wirkstoffklasse könnte das nun grundsätzlich ändern: die PROTACs.

Die Abkürzung steht für »proteolysis targeting chimera« und beschreibt einen Wirkstoff, der aus zwei kleinen Molekülen aufgebaut ist, verbunden über eine kurze Linker-Region. Die beiden Moleküle funktionieren im Prinzip wie zwei Arme: Der eine Arm greift sich das ausgesuchte Zielprotein, während sich der andere ein Protein namens E3-Ubiquitin-Ligase schnappt, das dem schädlichen Protein prompt seinen Stempel der Vernichtung anheftet.

Rufdienst für die Müllabfuhr

Die Ligase ist nämlich eine Komponente der zellulären Müllabfuhr, die mehrere Ubiquitin-Moleküle an todgeweihte Proteine anhängt – Ubiquitin wiederum ist das Erkennungssignal für den Proteinschredder der Zelle, das Proteasom. Dieser große Proteinkomplex greift sich das markierte Molekül, entfaltet seine Struktur und zerlegt es in viele kleine Stücke. Dann beginnt der Zyklus erneut: Ist das Zielprotein markiert, löst sich die Chimäre mit einem Arm wieder ab und kann die E3-Ubiquitin-Ligase zum nächsten baugleichen Protein führen, um auch dieses für den Abbau zu markieren.

Theoretisch können die PROTACs so jedes nur denkbare Protein in den Abbau zwingen, auch die bisher unangreifbaren 80 Prozent. Als Craig Crews und Raymond Deshaies von der Yale University im Jahr 2001 zum ersten Mal von den PROTACs berichteten, bezeichneten die Kollegen sie jedoch als niedliche chemische Kuriosität. Protac-1 griff sich das bei Krebserkrankungen wichtige Enzym Methionin-Aminopeptidase 2 (MethAP2) und ließ sie in Extrakten aus den Zellen des Krallenfrosches verschwinden. Allerdings bestand Protac-1 selbst aus Proteinuntereinheiten und war viel zu groß, um in Zellen einzudringen – und damit als Medikament nutzlos.

Es sollte noch weitere elf Jahre dauern, bis den Forschern der ersehnte Durchbruch gelang. Im Jahr 2015 stellten drei voneinander unabhängige Forschergruppen, darunter jene von Craig Crews, der Öffentlichkeit nahezu zeitgleich hochwirksame PROTACs vor, die vollständig aus kleinen Molekülteilen bestanden, welche klassischen Wirkstoffen ähneln. Diese neue Generation der PROTACs ist durch ihre geringere Größe deutlich stabiler als die ursprünglichen Moleküle und durchwandert überraschend effizient die Zellbarrieren. Erst ab diesem Zeitpunkt begann Crews selbst daran zu glauben, dass die PROTACs wirklich zu Arzneimitteln weiterentwickelt werden könnten, berichtete er gegenüber »Nature«.

Funktionsschema der Proteinkiller | PROTACs bestehen aus zwei miteinander verbundenen Untereinheiten – der eine Teil bindet an das Zielprotein, der andere an die E3-Ligase. Die wiederum überträgt Ubiquitin auf das Protein und markiert es so für die Vernichtung im Proteasom.

Die pharmazeutische Industrie hat die PROTACs längst für sich entdeckt. Große internationale Firmen wie Merck, Pfizer, GlaxoSmithKline und Novartis investieren seit Jahren Milliarden US-Dollar in deren Entwicklung, doch auch hier zu Lande sind die zweiarmigen Hoffnungsträger ein heißes Thema. Etwa bei dem Hamburger Unternehmen Evotec SE, das 2016 in das Feld eingestiegen ist. »Die Möglichkeit, bisher unangreifbare Proteine als neue Therapieziele nutzen zu können, macht diese Wirkstoffe besonders interessant«, erzählt Alexander Buntru, Projektleiter Biologie für die Entwicklung der Chimären bei Evotec. »Zusätzlich erhofft man sich eine stark erhöhte Aktivität gegen die schon bekannten Ziele, da ein Molekül nacheinander viele baugleiche Proteine dem Abbau zuführen kann.«

Alle Augen sind momentan nach Connecticut gerichtet, wo die vom PROTAC-Erfinder Craig Crews gegründete Firma Arvinas die neuen Wirkstoffe zum ersten Mal an Menschen testet. Das PROTAC ARV-110 soll Androgenrezeptoren in etwa 30 Patienten mit metastasierendem Prostatakrebs zum Abbau markieren, um das Wachstum der Krebszellen zu unterdrücken, berichtet Ian Tayler, leitender Vizepräsident der Abteilung Biologie von Arvinas.

Die erste Feuerprobe

Ein zweites PROTAC der Firma, der Wirkstoff ARV-471 gegen Östrogenrezeptoren, steht derweil kurz vor der ersten klinischen Prüfung. Diese Androgen- und Östrogenrezeptoren sind zwar auch mit klassischen Wirkstoffen angreifbar, aber die Forscher erhoffen sich eine deutlich längere und stärkere Wirkung der PROTACs im Vergleich zu den handelsüblichen Mitteln – einer der erhofften Vorteile dieser Moleküle. Sind die klinischen Studien erfolgreich, ist zugleich bewiesen, dass die PROTACs ebenso in Patienten erfolgreich ihre Zielproteine abbauen und nicht nur im Labor funktionieren.

Dieser Nachweis wäre für die Zukunft der Wirkstoffklasse immens wichtig. Die PROTACs passen nicht in das Raster der bisher in der Forschung gängigen Substanzen. »Alle Entwicklungen der letzten 30 bis 40 Jahre in der Pharmaindustrie waren auf ganz andere Substanzeigenschaften ausgerichtet«, berichtet Andreas Weiss, Leiter der Plattform für Targeted Protein Degradation bei Evotec. »Die meisten Substanzen sind kleine Moleküle mit einer bestimmten Fettlöslichkeit, die deshalb gut in die Körperzellen gelangen und dort gezielt die Funktion bestimmter Proteine hemmen.«

Nach den Erfahrungen aus dieser Forschung wären die PROTACs eigentlich zu groß, um gut in die Zelle zu gelangen. Warum sie das trotzdem tun, ist nicht ganz klar. Craig Crews vermutet, dass die Zelle die PROTACs als zwei unabhängige Moleküle erkennt und deswegen besser als erwartet aufnehmen. Auch sind offenbar nicht viele dieser Chimären in den Zellen nötig, um ihre Arbeit effizient zu verrichten – schon geringste Mengen führen zum Abbau der Zielproteine.

Doch nicht nur die chemische Struktur fällt aus dem bisherigen Schema, auch der Effekt der PROTACs auf den menschlichen Stoffwechsel unterscheidet sich dramatisch von den bisherigen Wirkstoffen. Andreas Weiss erläutert diesen Vorteil: »Wir betreten auch von der biologischen Seite her Neuland. Die klassischen ›small molecules‹ hemmen nur so lange, wie sie in der Zelle vorhanden sind.« Die neuen Wirkstoffe wirken viel nachhaltiger, da sie den kompletten Abbau der Proteine erzwingen, so der Forscher weiter.

Die Wirkdauer hängt dann davon ab, wie schnell die Zelle das entsprechende Protein wieder neu herstellen kann: »Das ist vollkommen unterschiedlich für die Proteine und auch abhängig vom jeweiligen Zelltyp. Das hat wirklich ein enormes Potenzial.« So könnte aus der täglichen Tablette zum Beispiel eine Einnahme im Zwei-Wochen-Rhythmus werden und dadurch die Nebenwirkungen reduzieren – so zumindest die Hoffnung.

Angriff auf die Endgegner

Möglicherweise kann man die zweiarmigen Moleküle sogar präzise für genau den einen gewünschten Zelltyp maßschneidern: »Bisher binden alle diese Wirkstoffe hauptsächlich an zwei verschiedene E3-Ligasen. In unserem Körper finden sich jedoch mehr als 600 dieser Ligasen, einige davon sind nur in ganz bestimmten Geweben vorhanden. Ein Schwerpunkt unserer Forschung beruht darauf, dass wir kleine Moleküle finden, die an diese gewebespezifischen E3-Ligasen binden, und wir somit den Ort der Aktivität der Wirkstoffe gezielt steuern können», berichtet Alexander Buntru.

Zeigen die ersten klinischen Studien, dass die PROTACs auch in Patienten effizient ihre Zielproteine abbauen, werden die Firmen wohl verstärkt PROTACs gegen bisher als »undruggable« betrachtete Zielmoleküle testen. So berichtet die Firma Arvinas bereits in ihrem Internetauftritt über ein PROTAC gegen das mit der Alzheimerkrankheit assoziierte Tau-Protein. Dieses Protein ist chemisch verändert und wird nicht mehr so effizient abgebaut; es kommt zu Ablagerungen von Tau in den Nervenzellen. Das lässt diese Zellen im Gehirn letztendlich absterben.

In präklinischen Versuchen reduzierte das PROTAC die Menge an Tau im Gehirn von Mäusen nach direkter Injektion in ein Gehirnareal um bis zu 50 Prozent. Auch von der Entwicklung weiterer PROTACs gegen Tau und das an der Parkinsonkrankheit beteiligte Protein α-Synuclein ist die Rede – beide sollen die Blut-Hirn-Schranke durchqueren können und müssten nicht direkt gespritzt werden.

Für die Suche nach möglichen Bindungsstellen für kleine Moleküle in bisher nicht angreifbaren Proteinen kooperiert das Pharmaunternehmen Novartis bereits mit einer großen Universität: Es gründete mit Forschern der University of California in Berkeley das Novartis-Berkeley Center for Proteomics and Chemistry Technologies. Gleichzeitig stehen sie mit einem von ihnen entwickelten PROTAC ebenfalls kurz vor einer ersten klinischen Studie. Viele dieser als »undruggable« angesehenen Ziele finden sich in der Krebsforschung – vor allem die Transkriptionsfaktoren, die die Aktivität unserer Gene und damit die Menge der verschiedenen Proteine in der Zelle kontrollieren, stehen im Fokus der Suche.

Ein Beispiel dafür ist das Protein c-MYC, das bei 70 Prozent aller Krebsarten übermäßig produziert wird und die Tumorzellen unkontrolliert wachsen lässt. Bis heute gibt es keine Substanz, die etwas gegen c-MYC ausrichten kann. PROTACs könnten das ändern. Ein weiteres riesiges Anwendungsfeld für diese Chimären sind Infektionskrankheiten, zum Beispiel die Bekämpfung multiresistenter Bakterien sowie aller Viren, gegen die es bisher nur wenige Wirkstoffe gibt.

Hype oder Heilsbringer?

»Es können zwar lediglich Krankheitserreger gegriffen werden, die sich innerhalb der Zellen aufhalten, da sich nur dort die E3-Ligasen befinden. Aber dazu zählen sämtliche virale Infektionen und diverse bakterielle Erreger wie Chlamydien und das Mycobacterium leprae«, erzählt Andreas Weiss. Er erklärt, dass die neue Technologie theoretisch auch Arzneimittelresistenzen umgehen könnte, da ihre Wirkung nicht von den funktionellen Taschen der Zielproteine abhängig ist, wie das bei den klassischen kleinen Molekülen der Fall ist.

»Sobald ein Zielprotein festgelegt ist, identifizieren wir durch ein Screening-Programm im besten Fall gleich mehrere kleine Moleküle, die dieses Protein an unterschiedlichen Stellen binden.« Deren Entwicklung werde parallel vorangetrieben, so der Forscher: »In der Klinik würde dann erst mal nur eine der Chimärenvarianten eingesetzt – man hätte aber weitere Wirkstoffe direkt in der Hinterhand, wenn die Mikroben sich unter dem Selektionsdruck verändern und die ursprüngliche Variante nicht mehr daran binden kann.«

Doch erst einmal wartet die Branche gespannt darauf, ob die PROTACs die hochgesteckten Erwartungen erfüllen können. In den kommenden Monaten erwartet die Firma Arvinas die ersten Ergebnisse über die Verträglichkeit ihres PROTACs gegen Prostatakrebs. Sofern sie sich als sicher herausstellen, müssen die Wirkstoffe danach noch beweisen, dass sie die unerreichbaren Proteine wirklich erwischen und abbauen können. Erst dann wird klar, ob PROTACs die neuen Zauberkugeln sind – oder der nächste Fehlschlag.

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