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Bionische Gliedmaßen: Die Suche nach Prothesen, die sich echt anfühlen

Fachleute wollen Menschen mit Lähmungen oder nach Amputationen wieder ein natürliches Gefühl in ihren Gliedmaßen zurückgeben – mit Hilfe von Gehirnimplantaten, neuronalen Schnittstellen und Hauttransplantationen.
Ein älterer Mann sitzt in einem Stuhl in einem Laborraum. Vor ihm ist ein Roboterarm mit einer schwarzen Greifhand zu sehen. Der Mann trägt eine Brille, ein graues Hemd und Jeans. Neben ihm befindet sich ein großer schwarzer Kasten mit elektronischen Geräten und Kabeln. Die Szene vermittelt ein Gefühl von technologischer Forschung und Innovation.
Über Implantate in seiner Hirnrinde steuert Scott Imbrie einen Roboterarm und eine Hand.

Scott Imbrie erinnert sich noch gut an das erste Mal, als Ärzte die Elektroden auf der Oberfläche seines Gehirns einschalteten. Er spürte ein kribbelndes, stoßendes Gefühl in seiner Hand, als ob er in einen Nadelbaum greifen würde. »Es war, als würde ich einen Weihnachtsbaum schmücken.«

Bei einem Autounfall verletzte er sich 1985 schwer: Drei seiner Wirbel waren zertrümmert, 70 Prozent seines Rückenmarks durchtrennt. Teile seines Körpers konnte er danach nur noch sehr eingeschränkt spüren oder bewegen. Heute kann Imbrie immerhin einen Roboterarm bedienen – und fühlen. Über eine implantierte Gehirn-Computer-Schnittstelle, nach der englischen Bezeichnung auch Brain-Computer Interface (BCI) genannt, empfängt Imbrie sensorische Informationen aus dem Arm. Vier Tage in der Woche, jeweils drei Stunden, verbringen Imbrie und ein Forscherteam an der University of Chicago damit, das Gerät zu testen, zu verfeinern und abzustimmen.

Seit Jahrzehnten arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, dass Menschen mit fehlenden oder gelähmten Gliedmaßen wieder mobil werden. Dafür setzten sie lange Zeit direkt am Nerv an: Die Menschen sollten in die Lage versetzt werden, Prothesen mit Nervenimpulsen zu steuern. Die bionischen Gliedmaßen, die mit diesem motorischen Ansatz entstanden, waren jedoch weit weniger hilfreich als erhofft. Die Geräte waren schwerfällig und ließen sich nur rudimentär kontrollieren. Sie fühlten sich wie Fremdkörper an, die zu nutzen viel Konzentration erforderte.

Nach und nach setzte sich in der Wissenschaft eine neue Ansicht durch: Voll beweglich werden die Menschen erst dann, wenn auch ihr Tastsinn und ihr Temperaturgefühl wiederhergestellt sind. So erklärt es der Bioingenieur Robert Gaunt von der University of Pittsburgh. »Diese Erkenntnis hat zu einer Revolution auf dem Gebiet geführt.«

Eine bahnbrechende Studie dazu stammt aus dem Jahr 2016. Ein Team unter Gaunts Leitung stellte bei einer Person, deren obere Gliedmaßen gelähmt waren, das Tastempfinden wieder her. Dazu implantierte es ihr einen Computerchip – eine BCI – in den Bereich des Gehirns, der die Hand steuert. Gemeinsam mit seiner Kollegin Jennifer Collinger verkabelte Gaunt dann einen Roboterarm mit der BCI, so dass die Person Objekte nicht nur bewegen, sondern auch wieder fühlen konnte. »Motorische Aufgaben konnte sie damit viel schneller ausführen«, erinnert sich Collinger, die ebenfalls Bioingenieurin ist. Etwa zur gleichen Zeit zeigten Studien an Menschen mit amputierten Gliedmaßen, dass diese ihre Handprothesen deutlich besser kontrollieren konnten, sobald auch der taktile Input im peripheren Nervensystem wiederhergestellt war.

Forscher versuchen, natürliches Fühlen nachzuahmen. Sie wollen es also interpretieren und dann künstlich erzeugen, so dass es für die Menschen vertraut wirkt und von Nutzen ist. Geknackt haben sie den Code hierfür aber noch nicht. Die Somatosensorik, das heißt die Gesamtheit der Sinne für Berührung, Temperatur, Schmerz und Körperposition, ist außerordentlich komplex. Man stelle sich vor, man wolle einen sanften Kuss von einem hastigen Bussi auf die Wange unterscheiden – und zwar nur anhand der sensorischen Informationen, die dabei transportiert werden. Oder die Nadeln eines Tannenbaums von den Borsten eines Pinsels. Damit sich das Gehirn sicher und stabil über eine Schnittstelle mit der Prothese verknüpfen lässt, muss sich also nicht nur die Technik erheblich weiterentwickeln, sondern auch das Verständnis des sensomotorischen Systems, sagt Rochelle Ackerley, Neurowissenschaftlerin an der Université Aix-Marseille in Frankreich.

Das Kribbeln einer Batterie an der Zunge

Heute vermögen Prothesen bereits Empfindungen zu erzeugen, die sich echt und natürlich anfühlen – im Gegensatz zu früher. »Als halte man eine Batterie an die Zunge; nicht schmerzhaft, eher wie ein elektrischer Reiz.« So beschreibt Imbrie sein Gefühl während der ersten Tests seiner BCI. Doch trotz der bislang erreichten Fortschritte ist der Weg für die Entwickler noch immer lang.

Besonders herausfordernd ist dabei die Fülle an Informationen, die verarbeitet werden müssen, um ein natürlich wirkendes Gefühl zu erzeugen. »Wenn wir ein Objekt berühren, dann codieren verschiedene sensorische Neurone in unserer Haut seine Form, seine Nachgiebigkeit und seine Beschaffenheit«, erklärt Giacomo Valle, Neuroingenieur an der Chalmers University of Technology in Schweden. Valle hat versucht, diese neuronalen Codes nachzuahmen und sie dann an das Gehirn weiterzuleiten, entweder über die Sinnesnerven des Körpers oder direkt an die Hirnrinde.

Anschluss zur Hirnhaut | Sockel auf Scott Imbries Kopfhaut führen zu Elektroden in motorischen und sensorischen Bereichen seines Gehirns.

Während seiner Zeit als Postdoc arbeitete Valle mit Imbrie im Labor des 2023 verstorbenen Neurowissenschaftlers Sliman Bensmaia an der University of Chicago. Hier hatte er Zugang zu Erkenntnissen aus jahrzehntelanger Tierforschung darüber, wie man verschiedene Arten von taktilen Empfindungen erzeugen kann. Er übertrug sie auf seine eigene Forschung. Er lernte, dass die sehr spezifische Wahrnehmung von Texturen, Druck und Streichrichtungen eng mit Abfolge und Verlauf der elektrischen Impulse zusammenhängt. Kombiniert man solche Impulse, dann beginnt man, Objekte zu fühlen. Eine im Jahr 2024 veröffentlichte Studie von Valle und seinen Kollegen zeigt, wie weit dieser Ansatz gediehen ist. Über die Elektroden in Imbries Gehirn konnten sie ihm das Gefühl vermitteln, den Rand einer Form zu berühren oder die Bewegung eines Objekts zu spüren, das über Imbries Fingerspitzen gezogen wurde. Imbrie erinnert sich an das lebhafte Gefühl, als Valle bestimmte Buchstaben auf einen Bildschirm schrieb. Die dabei an das Gehirn übermittelten Signale sollte Imbrie interpretieren. »Ich sagte: ›Oh je, Giacomo, du hast gerade ein O auf meine Fingerspitze gezeichnet‹, und ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht sehen«, erinnert sich Imbrie.

Auch bei Menschen mit amputierten Gliedmaßen lassen sich nach diesem Prinzip Empfindungen erzeugen. Allerdings ist es hier technisch einfacher, weil die taktilen Signale in die Restnerven des verbleibenden Glieds geleitet werden können. Damit können Menschen mit bionischen Händen Gegenstände einfacher greifen und erkennen, und Menschen mit bionischen Beinen können besser laufen und ihr Gleichgewicht halten.

Sehen ohne Farbe

Über den Tastsinn hinaus arbeiten Forschende wie der Neurowissenschaftler Solaiman Shokur von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) daran, auch andere Teile der Somatosensibilität wiederherzustellen. Dazu gehört etwa die bewusste Wahrnehmung der Temperatur. Das Wiederherstellen der multisensorischen Inputs ist für ihn zentral. Denn damit kehren auch das Wärmeempfunden und das Gefühl wieder zurück, mit dem die Somatosensibilität uns ausgestattet hat, glaubt Shokur: »Berührung ohne Temperatur ist wie Sehen ohne Farbe.«

Shokur hat in den »Phantomhänden« von Menschen, deren obere Gliedmaßen amputiert wurden, warme und kalte Empfindungen erzeugt, indem er die Nerven in der verbliebenen Gliedmaße mit einer Wärmequelle stimuliert hat. Die Menschen spürten das so, als wäre die Empfindung von ihrer fehlenden Hand ausgegangen.

Zufällig hatte eine der Teilnehmerinnen aus Shokurs Studie zuvor auch an Valles Versuchen teilgenommen, in denen er das Berührungsempfinden der Menschen wiederherstellen wollte. »Ihre erste Reaktion auf die Wärmeempfindung war: ›Wow! Das war es, was die ganze Zeit gefehlt hat‹«, berichtet Shokur.

Prothetik einverleibt

Doch nicht alle sind davon im gleichen Maß überzeugt. Hugh Herr ist Ingenieur am Massachusetts Institute of Technology. Er glaubt nicht, dass sämtliche Facetten der Somatosensibilität, zum Beispiel Kälte oder Wärme, unbedingt wiederhergestellt werden müssen, um Menschen zu helfen. Stattdessen seien die Sinneseindrücke zu priorisieren, welche die Mobilität der Menschen und die Funktion der Prothese am meisten verbessern. Besonders seien Prothesen nötig, die sich für die Nutzer wie ein Teil ihres Körpers anfühlen – und nicht wie bionische, künstliche Anhängsel. Dieser Eindruck wird auch als Embodiment bezeichnet. »Wenn Menschen ihre Prothese so natürlich empfinden, als wäre es ihre eigene Gliedmaße, und wenn sie die Prothese weitestgehend fehlerfrei bewegen können, dann gibt ihnen das ein Gefühl von Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit«, sagt Herr.

Er weiß genau, wie schmerzhaft schlecht konstruierte Prothesen sein können: Nach einem Kletterunfall wurden ihm beide Beine amputiert. Seither nutzt er künstliche Ersatzgliedmaßen. Und seit 30 Jahren forscht er nun an der Entwicklung funktionsfähiger Prothesen.

Derzeit schreitet die Forschung auf dem Gebiet rasant voran. Herr zufolge liegt das daran, dass es immer besser gelingt, sensorische Komponenten in Prothesen zu integrieren. Die Konstrukteure verschmelzen Körpergewebe wie Muskeln, Sehnen, Knochen und Nerven mit synthetischen Technologien und heben so das Zusammenspiel von Mensch und Maschine auf eine neue Stufe. Chirurgische Techniken und Implantate, die Herr mit seinem Forschungsteam entwickelt, verbessern die Elektroden in den bionischen Gliedmaßen. Die Elektroden dringen entweder in die peripheren Nerven ein oder umwickeln sie. »Wir beschäftigen uns damit, wie Gliedmaßen amputiert und bionische Gliedmaßen konstruiert werden sollten«, beschreibt Herr seine Forschung.

Sensorhand | Mit den Implantaten kann Imbrie Objekte nicht nur bewegen, sondern auch fühlen.

Zusammen mit Angestellten des Brigham and Women's Hospital in Boston hat Herrs Gruppe beispielsweise eine Methode entwickelt, mit der sie die sensorischen Inputs im verbleibenden Teil eines amputierten Beins wiederherstellen kann. Nerven wachsen dabei wieder nach. Die Idee von Herrs System ist, den Stumpf spüren zu lassen, wenn eine Beinprothese beim Gehen den Boden berührt. Dabei soll der Mensch das Gefühl allerdings im Phantomfuß spüren und nicht im Stumpf. Für diesen Ansatz entnehmen Herr und sein Team Teile der Fersenhaut einer Person und verbinden sie chirurgisch mit intakten sensorischen Nerven im Stumpf. Das Hauttransplantat ist mit einer Muskel-Computer-Schnittstelle verbunden, die den Muskel kontrahiert, um den sensorischen Nerv mechanisch zu aktivieren. »Wenn dieser Muskel feuert und die Haut anspannt, spürt die Person den Fersenauftritt«, sagt Herr. Die Methode wurde zunächst an Ratten entwickelt und wird jetzt in einer klinischen Studie getestet. Für eine abschließende Bewertung dieses Ansatzes ist es noch zu früh, aber unveröffentlichte Daten deuten darauf hin, dass Menschen Zehenbewegungen und Fersendruck spüren können. Herr prüft, wie sich dies auf das Embodiment der bionischen Gliedmaßen und die motorischen Fähigkeiten auswirkt.

In einer Veröffentlichung aus dem Juli 2024 beschreiben Herr und seine Kollegen einen weiteren, ähnlichen Ansatz. Er soll Menschen wieder spüren lassen, wie ihre Gliedmaßen positioniert sind. Man nennt das auch Propriozeption. Über Elektroden verbinden die Forschenden die verbleibenden Muskelpaare – Agonisten und Antagonisten – chirurgisch miteinander und stellen so einen Teil der Muskeldynamik innerhalb des amputierten Stumpfs wieder her. Berührt die Prothese den Boden, leitet sie einen Druckgradienten an den Stumpf weiter und stimuliert darin die verbliebenen Nerven. Die Ergebnisse für die bionischen Beine beschreibt Herr als »bemerkenswert«, da fast die gesamte Beweglichkeit wiederhergestellt werden konnte. »Wenn wir nur 18 Prozent der Propriozeption im Nerv wiederherstellten, konnten die Patienten ohne Geländer Treppen hoch- und runterlaufen«, sagt Herr. Die BCI erzeugte hingegen keine natürlichen Empfindungen. Das heißt, die Personen spürten die propriozeptiven Eingaben nicht bewusst.

Robert Gaunt ist beeindruckt von Herrs System. Es demonstriere, wie Prothesen durch eine wiederhergestellte Propriozeption insgesamt besser funktionieren. Der Fortschritt komme daher, dass hier ein chirurgischer Eingriff mit einer nichtinvasiven neuronalen Prothese kombiniert werde. Doch er fragt sich auch, wie gut sich der Ansatz auf größere Skalen übertragen lässt.

»Berührung ohne Temperatur ist wie Sehen ohne Farbe«Solaiman Shokur, Neurowissenschaftler

Studien an dieser neuen Art von Prothesen zeigen darüber hinaus ein weiteres, unerwartetes Ergebnis: Sie lindern den Phantomschmerz. Dieser Schmerz fühlt sich an, als käme er von einem Teil der fehlenden Gliedmaße. Für viele Menschen mit amputierten Gliedmaßen ist das ein großes Problem. »Stimuliert man periphere Nerven, dann kann das Phantomschmerzen verringern, weil verlorene oder fehlerhafte Signale wiederhergestellt werden«, erklärt Rochelle Ackerley. Zudem haben solche bionischen Geräte, die die peripheren Nerven stimulieren, Ackerley zufolge noch weitere Vorteile: Sie verbessern die emotionale und soziale Wahrnehmung und das Wohlbefinden, sie erhöhen die Bindung an die Gliedmaße und sie verhindern das so genannte Teleskopieren. Damit ist das Gefühl gemeint, dass die Phantomgliedmaße gewissermaßen in den Stumpf hineinschrumpft. »Die zwei wichtigen Themen Embodiment und Schmerz können mit bionischen Geräten angegangen werden, und so bieten sich auch Möglichkeiten, um Prothesen auf einer eher psychologischen Ebene nützlich zu machen«, erwartet Ackerley.

E-Skins

Es ist noch ein langer Weg zu gehen, bis Prothesen – mit Hilfe von BCIs oder durch die Verbindung mit peripheren Nerven – Sinneseindrücke so reproduzieren, dass sie verlorene Arme oder Beine ersetzen. Trotzdem bleiben realistische Gliedmaßen mit echt anmutender Haut für viele Menschen das Ideal. Für Zhenan Bao, Ingenieurin an der Stanford University in Kalifornien, spiegelt das die Spuren wider, die Sciencefiction-Filme wie die aus der Star-Wars-Reihe bei uns hinterlassen haben. Die bionische Hand von Luke Skywalker in »Die Rückkehr der Jedi-Ritter« aus dem Jahr 1983 gilt noch immer als Ursprung der Idee von bionischen, mit synthetischer Haut überzogenen Gliedmaßen, sagt die Materialwissenschaftlerin. Elektronische Häute, auch E-Skins genannt, vereinen Fortschritte in der Neurowissenschaft und Technik und könnten Prothesen weiter verbessern. Obwohl die ersten E-Skins bereits in den 1970er Jahren entwickelt wurden, trat das Forschungsgebiet im Jahr 2023 in eine neue Phase ein, als Bao ein Hightech-Beispiel vorstellte.

»Wir beginnen damit, künstliche Materialien zu entwickeln, die wie Haut aussehen und sich auch so anfühlen. Sie sind nicht nur in der Lage, Informationen aus der Umgebung zu erfassen«, sagt Bao, »sondern sie können außerdem Signale erzeugen, die direkt mit dem Nervensystem kommunizieren und so natürliche Empfindungen hervorrufen.«

Eine Reihe an Labors versuchen, die verschiedenen Komponenten der E-Skins zu verbessern: die Umweltsensoren und die Mikroschaltungen, die sensorische Signale in digitale Ausgaben umwandeln, oder die elektrischen Schnittstellen zur Verbindung der Sensoren mit den peripheren Nerven. Der Neuroingenieur Nitish Thakor von der Johns Hopkins University in Baltimore arbeitet an E-Skins und ist davon überzeugt, dass Fortschritte nur auf Grund von Durchbrüchen in zwei Bereichen möglich waren. Erstens bei Nanomaterialien und Elektronik. Bedeutend war hier die Entwicklung von flexiblen und organischen Transistoren, die wie ein Berührungsrezeptor in der Haut funktionieren und sich selbst heilen können, wenn sie beschädigt werden. Der zweite wichtige Bereich ist Thakor zufolge die Neurowissenschaft: Mittlerweile können sensorische Informationen in digitale Daten umgewandelt werden, die als Impulse das Nervensystem stimulieren.

»So könnte man Prothesen auf einer eher psychologischen Ebene nützlich machen«Rochelle Ackerley, Neurowissenschaftlerin

Am meisten begeistert Bao die Idee, E-Skins für das Erlangen regelrecht übermenschlicher Fähigkeiten zu nutzen. Eine der Studien, an denen sie beteiligt war, zeigte eine elektronische Haut, die so dicht mit mechanischen Sensoren bestückt ist, dass sie an Stelle von einzelnen Buchstaben ganze Wörter in Blindenschrift lesen kann, sofern diese klein genug gedruckt ist. »Man kann sich aber beispielsweise auch Sensoren vorstellen, die es uns ermöglichen, Dinge wie die chemische Zusammensetzung von Gegenständen zu erfassen«, sagt Bao.

Thakor weist jedoch auf ein großes Problem mit E-Skins hin: Bisher wurde noch keine an Menschen getestet oder in Prothesen integriert. Doch das soll sich bald ändern: Innerhalb der nächsten Jahre will Bao kommerziell hergestellte E-Skins an Menschen mit Prothesen testen.

Hürden für Prothesen

Doch so bemerkenswert die Entwicklungen bei BCIs, Neuroprothesen und E-Skins ist: Sie vermögen noch lange nicht, das tägliche Leben der Menschen zu erleichtern. Menschen profitieren von diesen Technologien bislang nur im Rahmen von klinischen Studien, die oft mit intensiven, teuren Labortests verbunden sind. Es ist bislang nicht klar, wie oder wann die Menschen ihre Geräte mit nach Hause nehmen können, ohne dass Wissenschaftler »an den Knöpfen drehen« müssen, wie Gaunt es ausdrückt.

Ein großes Problem, das Forscherinnen und Forscher zu lösen versuchen, ist die neuronale Schnittstelle. Präzise lokalisierte Empfindungen können sie derzeit nur erzeugen, indem sie den somatosensorischen Kortex stimulieren, einen Teil der Großhirnrinde. Über die Stimulation der peripheren Nerven gelingt es noch nicht. Die Fachleute testen jedoch eine Reihe von aussichtsreichen Techniken. Über Methoden der Optogenetik steuern sie zum Beispiel die Aktivität bestimmter Neuronengruppen mit Licht, und mit hochauflösenden Elektroden können sie einzelne Nervenfasern selektiv stimulieren. Bao selbst arbeitet an solchen Ansätzen. Doch sie gibt zu, dass sich die Entwicklung noch in einem frühen Stadium befindet.

Am meisten begeistert Bao die Idee, E-Skins für das Erlangen regelrecht übermenschlicher Fähigkeiten zu nutzen

Und auch außerhalb des Labors sind noch etliche Probleme ungelöst. Zu den drängendsten gehören ethische Bedenken und die Frage, wer Zugang zur neuen Prothesentechnik bekommt, stellt Jennifer French fest. Sie ist Geschäftsführerin von Neurotech Network, einer Organisation in Saint Petersburg in Florida, die sich für Patientinnen und Patienten einsetzt. »Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt: Wir bewegen uns auf klinische Studien zu, um die Geräte auch an größeren Patientengruppen zu testen. Dabei fehlt uns aber noch das nötige Verständnis, um Risiken und Nutzen der Geräte gegeneinander abzuwägen zu können.« French führt dazu einige komplexe ethische Fragen an: Über welche Wege gelangt man an ein solches Gerät? Auf welches Ziel sollten klinische Studien hinauslaufen? Und wie entscheiden Krankenkassen, ob sie für solche Geräte zahlen?

Eine weitere Frage lautet: Was passiert, wenn die Geräte versagen oder der Hersteller eines Geräts in Konkurs geht? Was ist, wenn die Person dann ohne Support und mit einem funktionsunfähigen Implantat zurückbleibt? »Das ist ein echtes Risiko, und wir haben es schon erlebt«, mahnt Gaunt.

French arbeitet mit Partnern aus dem Bereich der Regulierung wie auch mit Geldgebern, Patientenverbänden und anderen Interessengruppen zusammen, um geeignete Rahmenbedingungen aufzustellen. »Wir brauchen Leitlinien«, sagt sie, »sowohl für Geräteentwickler als auch für die Kliniken. Aber wir haben noch keine Lösungen.«

Scott Imbrie bewertet die Veränderungen positiv, die er seit den ersten Tests seiner BCI erfahren hat. Vor vier Jahren wurde der bionische Arm mit seinem Gehirn verbunden. Die zahlreichen Tests haben ihm sogar geholfen, einige der natürlichen Empfindungen in Teilen seines Körpers neu zu erlernen. »Als ich anfing, fühlte sich meine rechte Seite immer dumpf oder taub an, verglichen mit der linken. Wenn der Arzt jetzt den gleichen Test macht, fühlen sich beide Seiten gleich an«, sagt er. Und diese Empfindungen wirken immer realer. »Ich spüre, wie mein Gehirn umprogrammiert wird, um verschiedene Arten von Reizen wahrzunehmen. Es ist, als wäre ich ein Kind, das den Tastsinn erlernt. Und dabei habe ich die Sprache und die Vorstellungskraft, um zu beschreiben, wie ich die Dinge wahrnehme.«

Hugh Herr teilt Imbries optimistischer Sichtweise. Angesichts der sich abzeichnenden innovativen Schnittstellen zwischen Maschine und Mensch ist er zuversichtlich: Natürliches Gefühl könne bald nicht mehr nur im Labor, sondern auch für Alltagssituationen wiederhergestellt werden.

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  • Quellen

Flesher S. N. et al.: A brain-computer interface that evokes tactile sensations improves robotic arm control. Science 372, 2021

Iberte, F. et al.: Restoration of natural thermal sensation in upper-limb amputees. Science 380, 2023

Song, H. et al.: Continuous neural control of a bionic limb restores biomimetic gait after amputation. Nature Medicine 30, 2024

Valle, G. et al.: Tactile edges and motion via patterned microstimulation of the human somatosensory cortex. Science 387, 2025

Wang, W. et al.: Neuromorphic sensorimotor loop embodied by monolithically integrated, low-voltage, soft e-skin. Science 380, 2023

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