Psychiatrie in der Kolonialzeit: Der Wahnsinn der anderen

Mohamed S. war 16 Jahre alt, als er seinen Freund auf dessen Wunsch umbrachte. Anschließend wollte er sich selbst töten, doch der Versuch scheiterte. Die beiden jungen Marokkaner waren 1937 Schüler eines kolonialen französischen Lycées und standen kurz vor der Abschlussprüfung. Mohamed S. war bereits zweimal durchgefallen und verzweifelt über seine Unfähigkeit, dem französischen Ideal zu entsprechen: »Wir werden in zwei Richtungen gezerrt. Frankreich hat uns das Licht sehen lassen, hat unsere Seelen erleuchtet«, sagte er seinem Arzt, dem französischen Psychiater André Donnadieu, der ihn im Krankenhaus von Berrechid behandelte, einer Stadt südlich von Casablanca. »Aber wenn unsere Seelen zum Horizont fliegen wollen, entdecken wir, dass wir in unseren Körpern verwurzelt sind, unseren Gebräuchen, unseren Traditionen.«
Mohamed S. litt offenbar unter dem, was der 1961 verstorbene Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon (siehe »Schwarze Haut, weiße Masken«) 15 Jahre später als typischen Fall der »Selbstentfremdung« beschrieb: In einer kolonial geprägten Gesellschaft, die nur Weißen Wert zuspricht, empfänden sich die Einheimischen selbst als minderwertig und gerieten deshalb in psychische Krisen, würden »neurotisch«.
Für Doktor Donnadieu hingegen war der lebensmüde Mohamed S. ein Rätsel. Laut dem Arzt war »der Moslem« gerade kein typischer Neurotiker, da er »Tag für Tag lebt, ohne sich um morgen zu kümmern«. Entsprechend selten seien Muslime und Araber – die Begriffe verwendeten die Ärzte damals synonym – selbstmordgefährdet. Viel häufiger hatten sie seiner Ansicht nach auf Grund ihrer primitiven Natur mit der Gier nach Genussmitteln zu kämpfen: Heroin, Alkohol und Kaffee.
»Schwarze Haut, weiße Masken«
Frantz Fanon wurde 1925 auf Martinique geboren und war ein französischer Psychiater, Philosoph und antikolonialer Denker. Von 1953 bis 1956 war er Chefarzt der psychiatrischen Anstalt im algerischen Blida-Joinville. Fanon kritisierte die westliche Psychiatrie als rassistisch und kolonial geprägt. Seine Bücher »Schwarze Haut, weiße Masken« und »Die Verdammten dieser Erde« lieferten wichtige Einsichten in die psychischen Folgen des Kolonialismus. Bis heute gilt Fanon als zentrale Figur für das Verständnis der Verbindung zwischen Psyche, Identität und kolonialer Unterdrückung.
Das Beispiel von Mohamed S. und seinem Arzt André Donnadieu wirft ein Schlaglicht auf das rund zwei Jahrhunderte währende Projekt der kolonialen Psychiatrie. Durchtränkt von rassistischen Ideen und eingebettet in die Machtstrukturen der Kolonialreiche, versuchten weiße »Irrenärzte« die Andersartigkeit der Einheimischen zu ergründen und zu behandeln.
Der europäische Blick war dabei geprägt von einer Mischung aus Skepsis und Faszination – und das seit Beginn des Kolonialzeitalters im 15. Jahrhundert, als Königreiche wie Spanien, Portugal, Großbritannien und Frankreich sich aufmachten, fremde Gebiete zu erobern und die Bevölkerung auszubeuten. Um Rohstoffe zu gewinnen und Handelswege zu sichern, gründeten sie Kolonien in Afrika, Amerika und Asien – später auch in Australien. Diese Ära hat die Welt nachhaltig geprägt und tiefe Spuren in der Geschichte und Kultur vieler Länder hinterlassen.
Die »edlen Wilden« der neuen Welt schienen den Europäern gleichzeitig unverdorben und barbarisch, naturnah und primitiv. Dieses Bild der Fremde als Reich der Unvernunft zieht sich durch das 18. und 19. Jahrhundert. Den Siedlern selbst blühte dort der »Tropenkoller« – ein angeblich klimatisch bedingtes Syndrom aus Reizbarkeit und Verwirrung, das oft als Rechtfertigung für Gewaltexzesse diente. Sie erlitten fernab der Heimat auch Nervenzusammenbrüche oder verfielen dem Alkohol, so mancher erkrankte an Syphilis oder der mysteriösen Schlafkrankheit.
Nervenärzte wurden also zu einem notwendigen Teil des kolonialen Projekts, etwa im Maghreb. Nachdem Frankreich sich Algerien bereits 1830 militärisch einverleibt hatte und später auch Tunesien (1881) und Marokko (1912) zu Protektoraten umfunktionierte, begannen die französischen Mediziner, sich für die dortigen Kranken zu interessieren, auch für diejenigen, die an Formen von »Wahnsinn« litten.
Der Wahnsinn im Maghreb
Im Maghreb gab es zu Kolonialzeiten schon eine lange Tradition, die islamische Lehren und lokale Praktiken im Umgang mit psychischen Krisen verband. Wie in vielen Teilen der Welt galt die Vorstellung, dass Krankheit allgemein, aber besonders der Wahnsinn, darauf zurückzuführen sei, dass die Person von einem bösen Geist – einem »J'nun« – besessen war. In solchen Fällen wandten sich die Menschen oft an einen Marabout, einen islamisch-sufistischen Heiler, der verschiedene Techniken anwandte, um dem Problem beizukommen. Eine Methode war eine Art sanfter Exorzismus: Vermeintlich Besessene verbrachten mehrere Tage mit dem Marabout, der mit ihnen sprach, für sie sang und andere Rituale durchführte.
Es gab jedoch auch weniger freundliche Maßnahmen. Nicht selten sperrte eine Familie, die sich nicht mehr zu helfen wusste, ein scheinbar von einem J'nun befallenes Mitglied in einen Käfig. Alternativ brachten sie es in ein »Maristan«, eine islamische Heilanstalt. Noch im 16. Jahrhundert waren diese Anlagen Orte der Erholung mit Musik, Verströmen von Aromen, Springbrunnen und Palmen. Spätestens im 19. Jahrhundert waren die meisten jedoch heruntergekommene, überfüllte und alles in allem trostlose Orte, in denen viele Insassen angekettet und geschlagen wurden. Maristans waren nun Sammelbecken für die Unerwünschten der Gesellschaft – für Arme und unheilbar Kranke, Süchtige und Obdachlose.
Geplündert, gebändigt, geheilt?
Damit unterschieden sie sich kaum von den Anstalten, die im 18. Jahrhundert in Europa verbreitet waren und sich erst langsam von Gefängnissen zu Institutionen mit einem Anspruch zu heilen wandelten. Die französischen Ärzte, die im Maghreb Fuß fassten, gaben sich trotzdem entrüstet über die Zustände in den Maristans und machten sich über traditionellen Heilmethoden lustig. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten sie in den Kolonien moderne psychiatrische Einrichtungen und Krankenhäuser, etwa im marokkanischen Berrechid, im tunesischen Manouba und im algerischen Blida-Joinville, das seit der Unabhängigkeit Algeriens wieder nur Blida heißt.
Die Franzosen sahen sich in der Tat so, wie Mohamed S. sie beschrieben hatte: als leuchtende Heilsbringer. Wie die Historikerin Nina Studer von der Universität Hamburg ausführt, schrieben französische Ärzte über »die Muslime« und »die Araber«, als seien sie Kinder – hilfsbedürftig, unschuldig und einfältig. Damit stärkte die Ärzteschaft die europäische Ideologie von der moralischen Pflicht, die kolonisierte Bevölkerung zu erziehen. Diese Pflicht hieß im Englischen »the white man’s burden« (»die Pflicht des weißen Mannes«) und im Französischen »mission civilisatrice« (»zivilisatorische Mission«). Die paternalistische Haltung brachte Widersprüche mit sich. Einerseits rechtfertigte sie die Eroberung der als rückständig betrachteten Gebiete und ihre Eingliederung in das jeweilige Reich. Andererseits beinhaltete sie die Sorge, dass der vermeintliche Zivilisierungsprozess die Bevölkerung auch überfordern könnte.
Kulturschock
Der britische Psychiater John C. Carothers war Arzt im Mathari Hospital in Nairobi, das 1910 von der britischen Kolonialverwaltung gegründet wurde. Carothers befürchtete, dass der zu schnelle »Verlust der alten, gewohnten Ordnung« bei den Kenianern zu psychischen Problemen führen würde. Ihre angeblich primitive Konstitution mache die Schwarzen besonders anfällig. Er benutzte dafür den Begriff »Kulturschock«. Dem seien vor allem Frauen ausgesetzt, da sie bei der täglichen Versorgung der Familie sehr häufig mit westlichen Neuerungen wie Elektrizität in Berührung kämen.
Auch die deutschen Kolonialherren sorgten sich um die negativen Begleiterscheinungen ihres Wirkens. Die erste und einzige »Kolonialirrenanstalt« wurde 1905 gegründet und befand sich in Lutindi, einem kleinen Ort in den Usambara-Bergen Deutsch-Ostafrikas im heutigen Tansania. Drei Jahre später waren hier bereits 80 Einheimische »therapiert« worden. Ziel war, sie in die koloniale Gesellschaft einzugliedern und ihnen den Umgang mit den »Modernisierungszumutungen« zu erleichtern. Dabei kam eine Form der Gewöhnungstherapie zum Einsatz: Schritt für Schritt wurden die Patientinnen und Patienten mit europäischer Kleidung, westlichen Maschinen oder Musikinstrumenten in Kontakt gebracht. Kernstück war jedoch die Arbeitstherapie, durch die »urafrikanische Sitten« mit »deutschem Fleiß und Pflichtbewusstsein« veredelt werden sollten.
Für die Kolonialherren war die Kulturschock-Theorie bequem: Nicht Gewalt und Ausbeutung waren schuld an der oft konstatierten Melancholie ihrer Untertanen. Vielmehr war es deren Rückständigkeit, die den Prozess der »Zivilisierung« leider schmerzhaft machte. Auch für Unabhängigkeitsbestrebungen fanden die Kolonialmächte medizinische Erklärungen. So deuteten britische Psychiater den Aufstand gegen die weißen Siedler in der Kolonie Kenia, der in den Mau-Mau-Krieg (1952–1960) mündete, als Kipppunkt von Krankheit in Aggression.
Die dunkle Geschichte Amerikas
Die Verquickung von Medizin und Politik in der Kolonialzeit wird selten so deutlich wie in der Geschichte der Afroamerikaner. Versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner wurden von Ärzten als besonders geeignet für die Arbeit auf Plantagen erklärt, etwa über phrenologische Schädeluntersuchungen, die sie als »unterwürfig« auswiesen. Ein Argument der Befürworter der Sklaverei war, dass Schwarze nicht zur Freiheit taugten, sie seien mit ihr überfordert und würden an ihr verrückt. Damit nicht genug: 1851, zehn Jahre vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs, stellte der Arzt Samuel A. Cartwright aus Louisiana der Fachwelt neue Diagnosen für schwarze Sklaven vor, darunter die berüchtigte »Drapetomanie«: den zwanghaften Wunsch eines Sklaven, seinem Herrn davonzulaufen. Cartwrights »Heilmittel« war zum Glück für die Sklavenhalter allgemein zugänglich: die Peitsche.
Den indigenen Völkern Kanadas, etwa den so genannten First Nations, erging es kaum besser. Nach der Ankunft der Europäer massakriert, vertrieben und in kleinen Reservaten zusammengepfercht, wurden die Überlebenden reihenweise depressiv oder alkoholabhängig. Einer davon war Charley Wolverine, ein Indigener und Angehöriger der Dakelh in British Columbia im Westen Kanadas. Im Herbst 1941 irrte der taube und fast blinde Mann immer öfter verwirrt durch das Reservat. Ein Polizist sperrte ihn ein, zwei Ärzte erklärten ihn für verrückt und wiesen ihn gegen seinen Willen in eine Anstalt im weit entfernten Essondale ein. Sein Zustand verschlechterte sich rapide, während seine Familie verzweifelt versuchte, ihn nach Hause zu holen. Seine Frau Martha schrieb: »Wir wollen, dass Sie Charley zurückschicken. Wir wollen alle, dass er zurückkommt, wenn es ihm nicht besser geht, dann wollen wir, dass er nach Hause kommt und hier in seinem Zuhause sterben kann.« Der Wunsch wurde Charleys Familie verweigert. Er starb neun Monate nach seiner Einlieferung in die Klinik und kehrte erst im Sarg heim.
Charley steht stellvertretend für tausende First-Nations-Mitglieder, deren erster Kontakt mit der westlichen Psychiatrie in Polizeizwang und unfreiwilliger Inobhutnahme bestand. Wie in den Maristans des Maghreb waren viele Kolonialanstalten kaum mehr als Gefangenenhäuser, in denen die Ausgestoßenen der Gesellschaft bis zu ihrem häufig verfrühten Tod verwahrt wurden. Die damals weit verbreitete Diagnose »criminally insane« zeigt die enge Verbindung zwischen Psychiatrie und Strafjustiz.
Ambivalente Figuren
Trotz allem verstanden sich viele Kolonialärzte als positive Kraft im Leben ihrer Patientinnen und Patienten. Wer die Heil bringende Rolle seines Vaterlands ernst nahm, setzte sich mitunter vehement für Verbesserungen in den Anstalten ein. Ein Beispiel dafür ist der britische Mediziner Edward Mapother, Direktor des Maudsley Hospital in London. 1937 bereiste er verschiedene Anstalten im Raj, wie die Kolonie Britisch-Indien damals hieß, und in Ceylon, dem heutigen Sri Lanka. Mapother war ein überzeugter Verfechter der Ideale der Aufklärung und wollte die Krankenhäuser in den Kolonien auf das Niveau seiner Heimat anheben.
Seit dem 18. Jahrhundert hatte Großbritannien in Indien Irrenanstalten errichtet, die im 19. Jahrhundert jedoch überwiegend mit britischen Insassen belegt waren: Die britische Kolonialverwaltung wollte ihre eigenen Obdachlosen und Trunkenbolde von den Straßen holen, um das Bild der weißen Überlegenheit nicht zu beschädigen. Als Mapother die Anstalten besuchte, waren sie schon länger auch für indische Patienten geöffnet, wobei sich die Unterbringung von Weißen und Nichtweißen stark unterschied. Indische Patientinnen und Patienten mussten auf engstem Raum leben, unter schlechten hygienischen Bedingungen und ohne nennenswerte Privatsphäre, von Therapiemöglichkeiten ganz zu schweigen. Die Sterblichkeitsrate durch Tuberkulose war in allen damaligen Anstalten weit höher als in der übrigen Bevölkerung. Entsprechend kritisch fielen Mapothers Berichte aus, die er an die Regierungen in Ceylon, im Raj und in London schickte. Die Zustände seien eine Schande für die zivilisierte Gemeinschaft. Er forderte mehr Platz, eine bessere Bezahlung und Ausbildung der Pflegekräfte sowie Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Kranken. Manches davon wurde sogar umgesetzt.
Doch selbst wo europäische Ärzte gute Absichten hegten, waren ihre Taten mehr als zweifelhaft. Egal ob in Lutindi, in Berrechid oder im Mathari Hospital, betrachteten sie die Einheimischen als Versuchskaninchen für ihre Forschung. John Carothers etwa war wie viele seiner Zeitgenossen davon überzeugt, dass sich an der vermeintlich primitiven Bevölkerung hervorragend beobachten ließe, wie eine »ursprüngliche« Seele auf die Zivilisation reagiere. Davon erhoffte man sich unter anderem Rückschlüsse auf die Entstehung psychischer Störungen im Heimatland. Diese Forschung, die oft aus bloßer Beobachtung bestand, fand an Menschen statt, die Gefangene dieses Systems waren. Ein Pionier auf dem Gebiet war Antoine Porot mit der von ihm gegründeten Algerischen Schule der Psychiatrie. Porot, zuvor Professor für Psychiatrie in Lyon, war die treibende Kraft hinter der Gründung des Krankenhauses von Blida-Joinville. Er war ein Anhänger der Theorie des Primitivismus, wenn nicht sogar ihr Vordenker. Er war aber auch ein Innovator: In einer kleinen Klinik in Tunis, die er 1911 gründete, setzte er ein offenes Konzept durch – ohne Zwangsjacken und Verwahrung. Porot sah im Maghreb die Chance, fernab der verstaubten Traditionen Forschung zu betreiben, die die Psychiatrie revolutionieren könnte.
Er und seine Schüler waren davon überzeugt, dass alle Formen des »Wahnsinns« eine biologische Grundlage haben. Dementsprechend erprobten sie im Maghreb die neuesten pharmazeutischen und invasiven Therapien (siehe »Die Heilmethoden der Kolonialherren«). Vor allem muslimische Patienten wurden auf diese Weise behandelt, während die weißen Siedler meist in den Genuss sanfterer sozialtherapeutischer Maßnahmen kamen. Europäer verbrachten im Schnitt auch deutlich weniger Zeit in den Anstalten als Einheimische.
Die Heilmethoden der Kolonialherren
In den psychiatrischen Anstalten der Kolonialzeit kamen Behandlungsmethoden zum Einsatz, die in Europa zu dieser Zeit ebenfalls verbreitet waren. Doch auch neuere, wenig erforschte Therapien wurden dort erprobt. Teils waren sie innovativ, teils gefährlich.
Unruhige Patienten erhielten in den Anstalten oft Barbiturate, potente Beruhigungsmittel, die erstmals 1864 synthetisiert wurden. Ab ihrer Einführung 1903 dienten sie zur Behandlung von Schlafstörungen und Angst, führten jedoch bei Überdosierung häufig zum Tod. In den 1960er Jahren begann der Niedergang der Barbiturate, als sicherere Alternativen wie Benzodiazepine auf den Markt kamen. Heute verschreibt man Barbiturate fast nur noch bei schwer behandelbarer Epilepsie.
Alkoholkranke therapierten die europäischen Ärzte mit dem Medikament Disulfiram. Es verändert die Art, wie Alkohol verstoffwechselt wird, und verstärkt so seine Nebenwirkungen. Wer unter Disulfiram-Einnahme trinkt, reagiert mit heftigen Kopfschmerzen, Hitzewallungen, Herzrasen und Erbrechen. Dadurch sollten Alkoholkranke eine Abneigung gegen ihr Suchtmittel entwickeln und langfristig nüchtern bleiben. Disulfiram wird, wenn auch kontrovers diskutiert, bis heute eingesetzt. Eine 2014 erschienene Metaanalyse nennt das Präparat sicher und wirksam bei der Unterstützung der Abstinenz, vor allem wenn der Patient sich bewusst für diesen Weg entscheidet und dabei eng begleitet wird. In den frühen Jahren der Anwendung und besonders in den Kolonien war das nicht der Fall. Teils dosierten die Ärzte das Mittel damals falsch, was bei einigen Patienten zum Herzinfarkt führte.
Neben Medikamenten setzten die Klinikärzte in den Kolonien auf frühe Formen der Elektrokrampftherapie, bei der gezielte Stromstöße die Aktivität des Gehirns verändern. Die heute anerkannte Methode wurde 1938 von den italienischen Ärzten Ugo Cerletti und Lucio Bini zur Behandlung von Psychosen entwickelt. Allerdings fehlte noch das Wissen über die richtige Dauer und Stärke der Stromstöße. So kam es häufig zu erheblichen Nebenwirkungen. Ihren Ruf als martialische Methode hat die Elektrokrampftherapie nicht zuletzt durch brutale Szenen in Filmen wie »Einer flog über das Kuckucksnest« oder »Requiem for a Dream« behalten. Die moderne Elektrokrampftherapie wird jedoch fein dosiert und unter Narkose durchgeführt. Sie gilt als schmerzlose und wirksame Therapie vor allem bei schweren Depressionen.
Ein hingegen längst ausrangiertes Werkzeug im Methodenkoffer der Psychiatrie ist die Insulinschocktherapie. Sie kam erstmals 1933 zum Einsatz und etablierte sich schnell in den Kolonialanstalten. In der Klinik im algerischen Blida wurde sie 1940 mehr als 4500-mal angewandt. Dabei versetzten die Ärzte die Patienten mit einer Überdosis Insulin in ein künstliches Koma und holten sie nach wenigen Minuten mit dem Gegenmittel Glukagon zurück. Das Koma und die Krampfanfälle, die oft auftraten, sollten ähnlich wie bei der Elektrotherapie eine heilende Wirkung entfalten. Tatsächlich aber führte die extreme Unterzuckerung durch das Insulin zu schweren Komplikationen. Die Methode, die bei vielen Menschen Hirnschäden verursachte und einige das Leben kostete, war von den 1930er bis in die 1950er Jahre auch in Europa im Einsatz. Zeitweise galt sie sogar als Standardtherapie bei Schizophrenie.
Die Bevölkerung blieb allerdings nicht völlig passiv. Die Bewohner des Maghreb waren mitunter durchaus bereit, die Angebote der psychiatrischen Kliniken zu nutzen. So ließen muslimische Familien kranke Angehörige, um die sie sich nicht mehr kümmern konnten oder wollten, einweisen und holten sie nie wieder ab. Manchmal war die westliche Medizin auch die letzte Hoffnung für Verzweifelte. So etwa im Fall der 55-jährigen Algerierin Fatma K., die 1937 in Blida-Joinville eingeliefert wurde. Wegen starker Kopfschmerzen hatte sie zuvor eine Zaouia, eine sufistische Vereinigung, aufgesucht und sich dort einer Trancetherapie unterzogen. Weil diese erfolglos blieb, wandte sie sich an verschiedene Marabouts, wurde den Kopfschmerz aber nicht los. Als sie sich deshalb das Leben nehmen wollte, brachten Verwandte sie für eine westliche Behandlung nach Blida. Danach verliert sich ihre Spur.
Ohne Worte, ohne Wahl
Im Miteinander zwischen einheimischen Patienten und europäischem Personal kam es oft zu Konflikten – nicht zuletzt, da sie keine gemeinsame Sprache hatten, in der sie sich verständigen konnten. Nur die wenigsten Pflegekräfte konnten Arabisch, ganz zu schweigen von den Ärzten. Eine Ausnahme war die Krankenschwester Suzanne Taïeb, die in den 1930er Jahren in Blida-Joinville arbeitete und dokumentierte, was ihre Patienten zu sagen hatten. Beispielsweise Zohra Y., die darauf bestand, von einem J'nun besessen zu sein. Da Zohra Y. zu arm war, um einen Marabout zu bezahlen, war sie nach Blida-Joinville gegangen, wo die Therapie nichts kostete. Dort angekommen, war sie schockiert, wie man mit ihr umging. Nicht nur ihr wurde Unrecht getan. Die Ärzte aus Europa deuteten den kulturell verbreiteten Glauben an einen J'nun als Zeichen schwerer Geisteskrankheit und hielten die Patienten gegen ihren Willen fest.
Im Gegensatz zu Mohamed S. bestand der »Fehler« von Zohra Y. nicht darin, dem französischen Ideal allzu willig nachzueifern, sondern darin, an den Erzählungen festzuhalten, die sie kannte. Die Menschen in den Kolonien konnten nur verlieren. Erst mit dem langsamen und gewaltvollen Niedergang der Kolonialreiche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endete die Kontrolle weißer Ärzte über die Kranken der Kolonien. Geprägt hat sie die Länder und ihre Menschen aber noch weit darüber hinaus.
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