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Psychogenes Fieber: Die Seele als Brandherd

Manche Menschen entwickeln Fieber ohne körperliche Ursache. Häufig steckt psychische Belastung dahinter. Wie entsteht psychogenes Fieber und wie wird es behandelt?
Eine Person liegt auf einem grauen Sofa und hat ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Neben ihr steht ein Tablett mit einem Glas Wasser, einem Thermometer und Medikamenten. Die Person ist in eine Decke gehüllt und scheint sich auszuruhen. Die Szene vermittelt den Eindruck von Ruhe und Genesung.
Bei psychogenem Fieber entwickeln die Betroffenen in Stresssituationen vorübergehend oder anhaltend hohe Körpertemperaturen – ohne Vorliegen einer Infektion oder Entzündung.

Wieder einmal wird Carolin* nach Hause geschickt, denn das Thermometer der Schulkrankenschwester zeigt 41 Grad Fieber. Ihr ist heiß und sie fühlt sich erschöpft. Zu Hause misst die 15-Jährige erneut: 36,5 Grad Celsius, alles normal. In letzter Zeit treten solche Fieberschübe häufiger auf, jedoch nur in der Schule – kaum daheim angelangt, sinkt die Temperatur jedes Mal wieder. Entzündungszeichen fehlen und fiebersenkende Medikamente schlagen nicht an. Im Gespräch mit dem Arzt betont Carolin, sie wolle zur Schule gehen, sei dort aber angespannt und traurig, weil einige Mitschüler einen Freund von ihr hänselten. Nach einem Schulwechsel verschwinden die Fieberschübe.

Diesen Fall beschrieb Takakazu Oka, Arzt für psychosomatische Medizin und Professor an der International University of Health and Welfare in Ōtawara, Japan. In seiner Forschung und klinischen Tätigkeit beschäftigt er sich mit sogenanntem psychogenem Fieber. Hierbei entwickeln die Betroffenen in Stresssituationen vorübergehend oder anhaltend hohe Körperkerntemperaturen – ohne Vorliegen einer Infektion oder einer Entzündung. 

Dass die Körpertemperatur bei akutem Stress etwas ansteigt, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Man spricht auch von stressinduzierter Hyperthermie. So war in einer britischen Untersuchung die mittlere Mundtemperatur vor Boxkämpfen bei 12- bis 14-jährigen Jungen um 0,8 Grad höher als jene, die normalerweise zur gleichen Tageszeit zu Hause gemessen wurde. Ähnliches fand man vor Prüfungssituationen: Die Achseltemperatur von 22 Assistenzärzten lag fünf bis zehn Minuten vor einer Prüfung durchschnittlich um 0,6 Grad höher als zwei bis drei Wochen später in entspanntem Zustand. Im Gegensatz zum psychogenen Fieber, das bis auf 41 Grad klettern kann, steigen die Temperaturen bei gewöhnlicher stressinduzierter Hyperthermie aber in der Regel nicht über 37,5 Grad.

Laut Christiaan Vinkers ist die leichte Wärmeproduktion eine vorbereitende Reaktion auf eine Bedrohung – unser Körper wärmt sich auf für »Kampf oder Flucht«. Der Psychiater ist Professor für Stress und Resilienz am Amsterdam University Medical Center. »Praktisch jeder akute Stressor kann dies auslösen: sozialer Stress, Neuheit, öffentliches Sprechen, beobachtet werden oder Prüfungssituationen. Selbst das Schauen spannender Filme«, erläutert der Experte.

Auch Tiere fiebern bei Stress

Auch bei Tieren tritt das Phänomen auf. So steigt die Temperatur von Mäusen und Ratten in fremder Umgebung, wenn andere Käfigbewohner entfernt werden oder neue hinzukommen. In der Regel sinken die Werte wenige Stunden später wieder in den Normbereich. 

Aber wie genau entsteht stressinduzierte Temperaturerhöhung physiologisch, und wie unterscheidet sie sich von »echtem« Fieber? Bei Letzterem schütten bestimmte Immunzellen in Leber und Lunge Botenstoffe (Zytokine) aus, die unter anderem das Hormon Prostaglandin E2 (PGE2) freisetzen. Dieses gelangt über das Blut ins Gehirn und wirkt über den Hypothalamus und den Hirnstamm letztlich auf Zellen des Sympathikus im Rückenmark ein. Der Sympathikus, ein Teil des autonomen Nervensystems, regt zum einen das braune Fettgewebe an, Wärme zu erzeugen; zum anderen verengt er die Blutgefäße in der Haut, damit keine Wärme verloren geht.

»Praktisch jeder akute Stressor kann eine Temperaturerhöhung auslösen. Selbst das Schauen spannender Filme«Christiaan Vinkers, Psychiater

Die beiden letzten Schritte – Wärmeerzeugung im braunen Fettgewebe und Verengung der Blutgefäße – laufen auch bei der Reaktion auf Stress ab. Die Vorgänge werden hierbei allerdings nicht über PGE2 gesteuert. Deshalb wirkt der Prostaglandinsynthese-Blocker Aspirin zwar bei Fieber durch Infektion, nicht aber bei stressinduzierter Temperaturerhöhung, wie Christiaan Vinkers 2009 an der Universität Utrecht an Ratten und Mäusen nachwies. Das angstlösende Benzodiazepin Diazepam hingegen senkte die stressinduzierte Überwärmung und hatte wiederum keinen Einfluss auf einen infektionsbedingten Temperaturanstieg. Andere angstlösende Medikamente, wie Serotoninrezeptor- und Beta3-Adrenorezeptor-Antagonisten, wirken ähnlich.

Wie genau akuter emotionaler Stress die Neurone im Hypothalamus aktiviert, war lange unklar. Eine Arbeitsgruppe um Kazuhiro Nakamura von der Universität Nagoya in Japan identifizierte 2020 solch einen Weg bei Ratten und veröffentlichte ihre Erkenntnisse im renommierten Fachblatt »Science«. Demnach ist die sogenannte DP/DTT-Region im medialen Präfrontalkortex der Haupttreiber des Ganzen, zumindest bei Nagetieren (siehe »Hitzestress«). Das Areal aktiviert den Hypothalamus und erhält seinerseits Impulse aus zwei Regionen im Thalamus: dem Nucleus paraventricularis und dem Nucleus mediodorsalis. Beide sind zusammen mit der Amygdala Teil eines Angst-Stress-Schaltkreises. Damit ergibt sich ein neuronaler Signalweg vom Präfrontalkortex über den Hypothalamus und den Hirnstamm zum braunen Fettgewebe. Ein der DP/DTT-Region der Ratten äquivalentes Hirnareal beim Menschen ist vermutlich der subgenuale anteriore zinguläre Kortex.

Hitzestress | Eine bestimmte Hirnregion namens DP/DTT (dorsal peduncular cortex / dorsal taenia tecta) fungiert bei Ratten als zentrales Steuerelement für die Regulation der Körpertemperatur unter sozialem Stress. Sie wird in psychisch belastenden Situationen von zwei Arealen des Thalamus, dem Nucleus paraventricularis (PVT) sowie dem Nucleus mediodorsalis (MD), aktiviert. Die DP/DTT-Neurone erregen daraufhin den dorsomedialen Hypothalamus (DMH), der wiederum Signale an die rostralen Raphekerne (rMR, rostral medullary raphe) sendet. Diese regen dann das braune Fettgewebe an, Wärme zu produzieren.

Doch warum steigen bei manchen Menschen die Temperaturen derart, dass man von psychogenem Fieber spricht? Die Betroffenen klagen dabei über Hitzegefühl und teilweise über Müdigkeit, Erschöpfung, Kopf- und Bauchschmerzen oder Übelkeit. Bei ihnen reagiert das sympathische Nervensystem möglicherweise stärker auf Stress als bei anderen. Dafür gibt es zumindest indirekte Hinweise: So verändert sich beispielsweise ihre Herzrate stärker beim Wechsel von einer liegenden in eine stehende Körperposition – eine Methode zur Beurteilung der stressinduzierten autonomen Reaktion.

Nicht nur im Zusammenhang mit akutem Stress kann psychogenes Fieber auftreten, sondern auch bei dauerhafter Belastung. So zeigen chronisch gestresste Ratten eine andauernde leichtgradige Hyperthermie oder einen abgeflachten Tagesrhythmus der Körperkerntemperatur. Setzt man sie wiederholt unkontrollierbarer Belastung aus, etwa indem man sie täglich mit einem dominanten Artgenossen konfrontiert, erwärmen sie sich sogar bereits in der Stunde vor der erwarteten Begegnung.

Bei chronischem Stress scheinen etwas andere Mechanismen wichtiger zu sein als bei akutem. Anhaltende psychische Belastung aktiviert Mikrogliazellen im Gehirn, die wiederum entzündungsfördernde Zytokine ausschütten. Diese Botenstoffe erhöhen die Körperkerntemperatur und können depressionsähnliche Symptome auslösen, wie sich etwa an dauergestressten Ratten zeigte. Tatsächlich helfen in solchen Fällen Antidepressiva besser als angstlösende Medikamente. Auch bei Menschen wurde eine positive Wirkung von Antidepressiva wie selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern auf anhaltende leichte Hyperthermie nachgewiesen, was eine Beteiligung des Serotoninsystems nahelegt. Auf neue Belastungen reagieren chronisch gestresste Ratten mit einer stärkeren Temperaturerhöhung, vermutlich bedingt durch eine Vermehrung des braunen Fettgewebes.

Wie sich psychogenes Fieber durch chronischen Stress beim Menschen äußern kann, beschrieb Takakazu Oka in einem weiteren Fallbeispiel. Eine 56-jährige Pflegedienstleiterin litt seit mehr als drei Monaten an erhöhter Temperatur (bis 38 Grad Celsius). Körperliche Ursachen konnten nicht festgestellt werden und Fiebersenker wirkten nicht. Wie in Gesprächen deutlich wurde, war sie psychisch und körperlich sehr belastet. So pflegte sie ihren demenzkranken Vater, ihre Schwester hatte Brustkrebs, und auf der Arbeit musste sie für eine ausgefallene Kollegin einspringen. Obwohl die Temperaturerhöhung nur leicht war, fühlte sie sich unwohl und müde. Sie wurde daraufhin freigestellt, doch auch nach drei Monaten normalisierte sich ihr Zustand nicht. Ein antidepressiv wirkender selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer half ihr schließlich.

Fehlende Diagnosekritkerien 

Da beim psychogenen Fieber spezifische Biomarker fehlen, bleibt es jedoch häufig unbemerkt. Diagnostische Kriterien wurden noch nicht festgelegt, und so hängt die Entdeckung von der subjektiven Einschätzung behandelnder Ärzte sowie von ihrem Wissen über psychosomatische Zusammenhänge ab. Ungefähr 20 bis 30 Prozent aller ungeklärten Fieberfälle erhalten nach Untersuchung keine Diagnose. Ob es sich hierbei um psychogenes Fieber handeln könnte, wollte eine Arbeitsgruppe um Fumio Otsuka von der Universität Okayama in Japan herausfinden und richtete am Universitätskrankenhaus eine Ambulanz für FUO (englisch: fever of unknown origin) ein. 2024 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse: Hinter 30 Prozent der untersuchten FUO-Fälle steckte psychogenes Fieber. Und am häufigsten waren Frauen zwischen 20 und 40 Jahren betroffen.

Zuvor hatten Studien berichtet, dass Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich oft erkranken. Laut Otsuka und seinem Team fällt Fieber bei Jüngeren möglicherweise stärker auf, da sie dabei oft höhere Temperaturen erreichen als Erwachsene. Die Fachleute stellten außerdem fest, dass Betroffene mit psychogenem Fieber zuvor häufiger Psychiater konsultierten. Daher könne von einem höheren Anteil an psychischen Störungen in dieser Gruppe ausgegangen werden.

»Die Patienten berichten oft von erheblichem Leid, Angst oder Trauma in der Vorgeschichte«Christiaan Vinkers, Psychiater

Bereits 1976 hatten die Psychiater Rémy Meyer und Dieter Beck an der Abteilung für Innere Medizin und der psychosomatischen Abteilung der Universität Basel 13 Menschen mit psychogenem Fieber genauer untersucht. Alle litten zusätzlich an psychischen Symptomen wie Phobien, depressiver Verstimmung und zwanghaftem Verhalten oder funktionellen Organbeschwerden wie Schmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung, Schwindel, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Sie kamen aus belasteten Familienverhältnissen, hatten Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen und teilweise eine starke Aggressionshemmung. Nur drei der Untersuchten ließen sich auf eine längere Psychotherapie ein. Ihr Fieber verschwand innerhalb einiger Monate.

Auch Christiaan Vinkers ist in seiner klinischen Tätigkeit Personen mit andauernd leichtem Fieber oder Temperaturschwankungen begegnet, für die keine medizinische Erklärung zu finden war. »Diese Patienten berichten oft von erheblichem Leid, Angst oder Trauma in der Vorgeschichte«, schildert er.

Neben Psychotherapie setzt Takakazu Oka bei der Behandlung seiner Patienten auch Techniken wie Psychoedukation, Entspannungstraining oder Medikamente ein (siehe »Behandlung von psychogenem Fieber nach Takakazu Oka«). »Es fehlen jedoch systematische Studien und klinische Rahmenkonzepte, um stressbedingte Temperaturschwankungen beim Menschen eindeutig zu diagnostizieren und zu behandeln«, erklärt Vinkers. »Das ist der springende Punkt: Wir wissen einfach nicht genug. Anhaltendes, unerklärliches Fieber ohne Entzündungszeichen ist nach wie vor nicht genau verstanden.

* Name frei erfunden

Behandlung von psychogenem Fieber nach Takakazu Oka

Psychotherapie und Psychoedukation
Förderung des Bewusstseins für die Interaktion zwischen Körper und Geist
Bewältigungsstrategien erlernen
Lebensstiländerungen
Angst- und Stressreduktion
Bewusstmachung unterdrückter Emotionen und Konflikte

Entspannungstechniken (zum Beispiel autogenes Training)
reduzieren Angst und dämpfen den Sympathikus

Medikamente
Benzodiazepine
Serotoninrezeptor-Agonisten
Antidepressiva, insbesondere serotonerge Trizyklika und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

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  • Quellen

Kataoka, N. et al., Science 10.1126/science.aaz4639, 2020

Lkhagvasuren, B. et al., Psychotherapy an Psychosomatics 10.1159/000360999, 2014

Oka, K. et al., Journal of Clinical Medicine 10.3390/jcm13030889, 2024

Vinkers, C. et al., Physiology & Behavior 10.1016/j.physbeh.2009.04.004, 2009

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