Psychologie der Vergeltung: »Auge um Auge ist dem Menschen noch zu wenig«

Herr Haller, als Gutachter vor Gericht haben Sie etliche Kriminalfälle begleitet. Wie häufig begegnete Ihnen Rache als Motiv?
Rache wird als Motiv unterschätzt. Sie spielt oft eine Rolle, allerdings eher verdeckt. Nehmen wir ein Delikt, das im deutschsprachigen Raum gerade prozentual zunimmt: den Femizid. Meiner Erfahrung nach geht es hier in vielen Fällen um Vergeltung. Die Täter – die ich in keiner Weise entschuldigen will – fühlen sich um Liebe beraubt, um die emotionale Muttermilch sozusagen. Sie rächen sich dafür, dass sie ihre Machtposition verloren haben: dass die Frau sie nach ihrem Empfinden nicht mehr genug anerkennt und wertschätzt. Früher war es häufig so, dass die Täter erst ihre Partnerin getötet haben und dann sich selbst. Heute begehen die Täter seltener Suizid. Die typische Rückmeldung, die man von ihnen bekommt, lautet: Das stand mir zu.
Ist Ihnen ein Fall von Rache besonders im Gedächtnis geblieben?
Der russische Bauingenieur Witali Kalojew verlor bei der Flugzeugkollision von Überlingen am 1. Juli 2002 seine Frau und seine beiden Kinder. Knapp zwei Jahre später reiste er in die Schweiz und erstach den Fluglotsen Peter Nielsen, der zum Zeitpunkt des Unglücks am zuständigen Flughafen Dienst hatte. Er wollte den Mann für entscheidende Fehler bestrafen, die nach Kalojews Meinung zum Zusammenstoß der Maschinen geführt hatten, bei dem insgesamt 71 Menschen ums Leben kamen. Nach Verbüßung der Haftstrafe kehrte Kalojew in seine Heimat zurück und wird dort bis heute als Held verehrt.
Er muss die Tat minuziös geplant haben. Ist Rache emotional oder rational?
Beides. Sie erfasst sowohl das Gemüt als auch den Verstand der Menschen und setzt sich aus einer Mischung von aggressiven Gefühlsimpulsen und strategischem Denken zusammen. Es gibt ein negatives Empfinden, und von diesem will man sich mit der Tat befreien. Es kommt zu Racheüberlegungen, zu permanentem Grübeln und zu zwanghaftem Ausbrüten von Plänen. Manchmal kommt es auch zu gefährlichem Abwarten. Je größer der zeitliche Abstand zwischen erlittener Schädigung und Verwirklichung der Rache, desto stärker tritt das rationale Element in den Vordergrund. Die Ambivalenz ist das Spannende an der Rache. Man sagt, sie ist kaltherzig und heißblütig, kleinlich und in hohem Maß heroisch, man nennt sie teuflisch, aber auch göttlich. Schon in der Heiligen Schrift heißt es: »Mein ist die Rache, spricht der Herr.« In den großen Weltreligionen löst man das Problem mit der Rache also ein Stück weit dadurch, dass man nur Gott dieses Privileg zugesteht. Der Mensch jedoch soll sich nicht rächen, allenfalls im göttlichen Auftrag.
Könnte man sagen, heute ist Rache ein Privileg der Justiz?
Wir haben das Recht auf Rache in gewissem Sinn dem Staat übergeben. Das wird in der Diskussion meines Erachtens häufig übersehen. Gerade in meiner Berufsgruppe hört man oft, Strafen bringt nichts. Doch ganz abgesehen davon, ob die Haft den Täter erzieht, erfüllt die gerichtliche Strafe einen wichtigen Effekt: Sie stillt das Sühnebedürfnis der Bevölkerung.
»Rachedurst hat einen evolutionären Sinn«
Hat der Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Rache?
Es wird bisher relativ wenig zur Rache geforscht. Das ist erstaunlich, wenn man sich überlegt, welche enorme Bedeutung Rachegefühle für das individuelle und gesellschaftliche Leben haben. Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die es zu dem Thema gibt, sprechen allerdings dafür. Schon Vorschulkinder scheinen so etwas wie ein Bedürfnis nach Vergeltung zu haben. In einer Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften von 2017 bezahlten Sechsjährige Geld, mit dem sie sich sonst Spielzeug hätten kaufen können, um weiter zuschauen zu dürfen, wie der Bösewicht in einem Puppentheater verhauen wird. Wie eine gutmütige Figur geschlagen wird, wollten sie hingegen nicht sehen.
Auch Erwachsene sitzen im Kino und gucken sich Popcorn kauend Rachefeldzüge an. In vielen großen Geschichten geht es darum, vom Nibelungenlied bis zu Kill Bill.
Offenbar haben sogar nicht nur Menschen Lust daran. Bei Schimpansen im Leipziger Zoo beobachtete das Forscherteam etwas Ähnliches: Wurde ein Tierpfleger, der den Schimpansen vorher Futter gegeben hatte, geschlagen, gefiel ihnen das nicht. Bekam aber ein Pfleger, der sich unsozial verhalten und ihnen ihr Futter weggenommen hatte, eins übergebraten, wuchteten die Affen sogar ein schweres Eisentor zur Seite, um sich das Spektakel weiter anschauen zu können. Rachedurst hat womöglich einen evolutionären Sinn. Jene Primaten, die zum Rachegefühl und zu Racheakten fähig waren, konnten sich im Lauf der Evolution anscheinend besser durchsetzen, und soziale Strukturen, in denen Kooperation gefördert und unsoziales Verhalten sanktioniert wurde, waren erfolgreicher. Das ist wahrscheinlich eine Ursache dafür, dass das Gerechtigkeitsempfinden so tief in der menschlichen Psyche verankert ist. Rache gehört zur Grundausstattung unserer Gefühlswelt.
»Die richtige Rache würde die Welt gerechter machen«
Und wenn die Staatsmacht das Bedürfnis nicht stillt, kommt es zur Selbstjustiz?
Ja. Der vielleicht berühmteste Fall der deutschen Justizgeschichte ist die Geschichte von Marianne Bachmeier, deren Tochter von einem Sexualstraftäter ermordet wurde. Die Mutter hat ihn während der Verhandlung erschossen. Offensichtlich hatte sie den Eindruck, hier wird der Gerechtigkeit nicht Genüge getan, und tötete den Täter direkt im Gerichtssaal. Das ist ja in hohem Maß symbolisch. Bachmeier wurde dafür natürlich selbst verurteilt und musste einige Jahre in Haft verbringen. Da sieht man, wie wichtig die Wiederherstellung der Gerechtigkeit für einen Menschen sein kann.
Macht Rache die Welt gerechter?
Ich glaube, die richtige Rache würde die Welt tatsächlich gerechter machen. Aber nicht die Rache, die vielfach praktiziert wird. Denn die sieht so aus: Beide Seiten rächen sich abwechselnd aneinander, und die nächste Rache fällt immer noch stärker aus als die letzte. Bei der Blutrache, in Süditalien auch Vendetta genannt, gibt es Zyklen, die man zurückverfolgen kann bis ins 15. Jahrhundert. Begonnen hat das Ganze vielleicht mit einer Kleinigkeit. Dann gab es verbale Konflikte, verbale Gegenkonflikte, es kam zu Tätlichkeiten, zu Übergriffen und zu Tötungen, für die man sich wiederum rächen musste – es wurde immer grausamer. Blutrache gibt es freilich in vielen Kulturen, nicht nur auf Sizilien. Zum Beispiel auf den Philippinen, dort heißt sie »Rido«. Auch der Nahostkonflikt ist in gewisser Weise ein Rachekonflikt. Genau dort, wo sich jetzt diese großen Rachekonflikte abspielen, hat man zu Zeiten des Alten Testaments das Talionsprinzip gefordert: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dieses Prinzip betrachten wir heute als primitiv. Doch was steckt da eigentlich drin?
Verhältnismäßigkeit?
Genau! Es heißt schließlich nicht zwei Augen um ein Auge, zehn Zähne um zwei. Im Grunde ist das Talionsprinzip ein Schutzmechanismus: Die Rache darf niemals stärker ausfallen als die ursprüngliche Schädigung. Leider sind wir als Menschheit offenbar nicht einmal im Stande, dieses an sich einfache Prinzip einzuhalten, Auge um Auge ist dem Menschen noch zu wenig. Eigentlich sollte das Maß der Rache sogar noch deutlich geringer ausfallen als der ursprüngliche Schaden. So könnte es einen Ausgleich geben, aber Rachezyklen hätten irgendwann auch einmal ein Ende.
»Es geht um die Wiederherstellung des Selbstwerts«
Dafür ist aber doch zu viel gefühlte Wahrheit im Spiel. Der oder die Rachsüchtige müsste ja erkennen: Wie groß ist der Schaden objektiv? Und hat der andere überhaupt in böser Absicht gehandelt?
Ja, Rache entsteht oft aus einer subjektiven Kränkung. Ein extremes Beispiel sind School Shootings, das sind im Grunde gezielte Rachemassaker. Warum machen die Täter das in der Schule? Weil das der Ort der meisten Kränkungen war – von außen betrachtet vielleicht Kleinigkeiten: Man hat das Gefühl, man wurde ungerecht benotet, man hat keine Freundin gehabt wie die anderen, man hat einen Verweis bekommen, wurde nie zu Partys eingeladen. Psychologisch ist das ein zentraler Aspekt: Die ursprüngliche Schädigung betrifft das Selbstwertgefühl, und bei Rache geht es im Kern um die Wiederherstellung des Selbstwerts. Und um Genugtuung. Man will dem Schädiger vermitteln, was er einem angetan hat: Er muss nachfühlen, was ich mitgemacht habe. Dazu wird er durch meine Rache verdonnert. Ob die Rache am Ende wirklich ein Triumph ist und mein Selbstwertgefühl gerettet, ist jedoch fraglich. Denn wer es dem anderen heimgezahlt hat, muss die Tat mindestens vor sich selbst verantworten.
Besonders kränkbar sind Narzissten. Sind sie auch besonders rachsüchtig?
Das glaube ich schon. Der Narzisst hat eine Achillesferse, und das ist sein brüchiges Selbstwertgefühl. Man darf keine Ferndiagnosen stellen, doch bei Donald Trump beispielsweise kann man es nicht anders sagen, als dass er den Narzissmus zumindest inszeniert. Er hat lange angekündigt, an wem er sich alles rächen will, sobald er wieder Präsident ist. Und die Art und Weise, wie er zum Schluss seiner ersten Amtszeit, als er bereits abgewählt war, in aller Eile noch 13 Todesurteile vollstrecken ließ, war sicher ebenfalls eine Art Rache. Mehrere Exekutionen wurden sogar gegen den Willen der Opferfamilien durchgeführt. Auch jetzt hat er bekannt gegeben, dass er von Hinrichtungen nicht abkommen, sondern sie im Gegenteil forcieren wird. Die Todesstrafe ist im Grunde der ultimative Racheakt.
Sie sind auch Psychotherapeut. Wie heilt man Rachsucht?
Das Problem ist, dass die wenigsten ihre Rachegedanken offen teilen, selbst in der Therapie. Über Rachegelüste spricht man nicht, die möchte man lieber für sich behalten. Es wäre aber besser, wenn man es täte. Denn Rachegedanken sind etwas, worunter die Betroffenen selbst teils sehr leiden. Man könnte natürlich einfach sagen, es wäre besser, zu verzeihen. Doch so einfach ist das nicht.
Was ist so schwer am Verzeihen?
Das Loslassen. Rache kann man nur durch Gelassenheit begegnen – ich meine nicht durch Gefallenlassen, sondern durch Gelassenheit. Ich darf allerdings auch daran erinnern, dass buddhistische Meditationen, die diese Art der gelassenen Haltung zum Ziel haben, oft ein ganzes Leben dauern. Manche Menschen schaffen es zu verzeihen, aber sicher nicht alle.
Stellen Sie sich vor, ich käme in Ihre Praxis. Mir wurde Unrecht getan und ich komme nicht darüber hinweg. Mich plagen ständig Rachegedanken, und ich schaffe es nicht mehr, mein Leben zu leben. Was würden Sie mir sagen?
Die Rache hat auch den psychologischen Zweck, kein Opfer mehr sein zu müssen. Man will aus der Ohnmacht heraus und sich aktiv ermächtigen. Damit würde ich arbeiten. Ich verwende hier gern das Bild des Begnadigers. Denn wer darf begnadigen? Der König oder vielleicht der Bundespräsident. Es ist eine sehr souveräne, sehr mächtige Position. Der andere hat etwas Unrechtes getan und er verdient dafür vielleicht wirklich Rache. Ich könnte es ihm heimzahlen, aber ich tue es nicht – weil ich es mir leisten kann. Ich setze mich als Begnadiger sozusagen überlegen darüber hinweg und lasse damit auch die destruktiven Emotionen los. Wenn es gelingen würde, einen Menschen, der unter schweren Rachegefühlen leidet, zu diesem inneren Selbstbild zu bringen, dann wäre das ein guter Schritt. Ich muss aber sagen – aus meiner 40-jährigen Tätigkeit als Psychotherapeut –, das kommt doch recht selten vor.
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