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Psychopathie : Wenn Kinder keine Reue spüren

Manche Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens fühlen von Natur aus wenig Angst und Mitleid. Ist die Befürchtung begründet, dass sie zu straffälligen Psychopathen heranreifen? Neue Therapien können jungen Menschen helfen, ihre Gefühlskälte zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen.
Ein Plüschbär liegt auf einem Baumstumpf, durch den ein Axtstiel ragt. Der Bär ist seitlich positioniert, und die Szene ist von oben fotografiert. Der Hintergrund zeigt Gras und Erde, was auf eine Outdoor-Umgebung hinweist.
Ständiges Missachten von Regeln sowie Aggression gegenüber Menschen und Tieren kennzeichnen die Störung des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Einige von ihnen fallen zudem durch fehlende Empathie auf. Obgleich hier auch die Gene ursächlich beteiligt sein können, ist Gefühlskälte in jungem Alter gut therapierbar.

Sie ahnte früh, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmte. Im zarten Alter von acht Monaten begann Lillyth Quillans Sohn sie beim Stillen heftig zu beißen. Obwohl sie vor Schmerz aufschrie und ihm für längere Zeit die Brust verweigerte, biss er bei jedem Stillversuch erneut zu und gluckste dabei fröhlich.

Aus dem Kindergarten wurde »Alex« (Name geändert) fast rausgeworfen, weil er immer wieder anderen Kinder wehtat. In der Mittelstufe begann er, Elektrogeräte seiner Eltern zu stehlen und zu verkaufen. Manchmal umarmte Alex seine Mutter, nur um dann mit seinem Kopf unvermittelt heftig gegen ihren zu stoßen. »Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind meine Mutter geschlagen habe«, sagt Alex. »Das hätte ich nicht genießen dürfen, aber damals tat ich es. Warum? Ich wünschte, ich wüsste es.«

Psychologische Beratung, Medikamente, Sonderpädagogik – nichts half

Lillyth Quillan kommt aus einer Künstlerfamilie der oberen Mittelschicht in Nordkalifornien. Bei der Geburt von Alex war sie 22 Jahre alt und praktisch alleinerziehend. Als ihr Sohn fünf war, heiratete sie ihren heutigen Mann, der ihn adoptierte. Das Paar schlug den Jungen nie, aber sonst versuchten die beiden es mit allen erdenklichen Erziehungsmaßnahmen. Sie konsultierten Erziehungsberater, Psychologen und Psychiater; sie investierten tausende Dollar in Hirnscans, erhielten Diagnosen wie ADHS und Asperger-Syndrom, probierten diverse Medikamente aus und setzten auf spezielle Methoden der Sonderpädagogik. Nichts schien zu helfen.

Als Alex 14 war, fragte Quillan die Therapeutin das erste Mal, ob ihr Sohn ein Soziopath sei. Die Behandlerin erklärte, den Begriff würde sie nicht verwenden – aber sie bescheinigte Alex eine »conduct disorder«, eine Verhaltensstörung der Kindheit oder des Jugendalters (in der ICD-10 findet sich eine »Störung des Sozialverhaltens«, Anm. d. Red.). Sie äußert sich unter anderem in fortwährenden Regelverstößen sowie Aggression gegenüber Menschen oder auch Tieren. Die Häufigkeit der »conduct disorder« variiert von Land zu Landin den USA betrifft sie rund zwölf Prozent der Jungen und sieben Prozent der Mädchen.

Als Alex 14 war, fragte Quillan die Therapeutin das erste Mal, ob ihr Sohn ein Soziopath  ist

Alex fiel jedoch zusätzlich durch seine eigenartige Gefühlskälte auf. Diese zählt zu den sogenannten »CU-Eigenschaften« (CU für callous-unemotional, deutsch: gefühl- und emotionslos; der Begriff CU wird auch im Deutschen oft verwendet, Anm. d. Red.), die bei bis zu zwei Prozent dieser Kinder diagnostiziert werden. Es handelt sich um einen eklatanten Mangel an Empathie, gepaart mit fehlender Reue und generell verringerter emotionaler Reaktionsfähigkeit. Derart gravierende affektiv-soziale Defizite entstehen manchmal infolge von Missbrauch oder Vernachlässigung; sie können aber wie vermutlich bei Alex auch genetisch bedingt sein. Insbesondere wenn die Eigenschaften sehr früh auftreten, erfüllen die betroffenen Kinder als Erwachsene wesentlich wahrscheinlicher die Merkmale einer »Psychopathie«.

Psychopathen stecken voller Widersprüche: Sie können kalte, kalkulierte Verbrechen begehen, die sorgfältige Planung erfordern, aber auch impulsiv und aggressiv handeln. Sie vermögen sich gut genug in andere hineinzuversetzen, um deren Gefühle zu manipulieren, aber es fehlt ihnen die intuitive emotionale Empathie, die sie daran hindern würde, anderen zu schaden.

Eine frühe Therapie ist dringend angeraten

Die Behandlung der Psychopathie im Erwachsenenalter ist schwierig. Bei Kindern mit einer Störung des Sozialverhaltens plus CU-Merkmalen wirken Interventionen wesentlich besser. Langzeitstudien zeigen, dass nur etwa die Hälfte von ihnen später eine Psychopathie entwickelt; die anderen führen ein vergleichsweise normales Leben.

Auch Alex, inzwischen 25 Jahre alt, ist seit vier Jahren durchgehend berufstätig und hat heute ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Quillan betont, dass er sich mehrfach bei ihr für sein früheres Verhalten entschuldigt habe. Doch nicht alle Kinder bekommen die positive Unterstützung, die sie benötigen. Eltern, Lehrkräfte oder andere Erziehungspersonen greifen oft ausschließlich auf Bestrafung zurück, um das hochproblematische Verhalten zu unterbinden. Bei Kindern mit CU-Merkmalen hilft das allerdings nicht besonders viel.

»Wir sollten wirklich in eine frühe Intervention investieren«Essi Viding, Entwicklungspsychologin

Die meisten Fachleute halten eine spezielle Behandlung im jungen Alter für dringend angeraten, damit sich das schädliche Verhalten nicht verfestigt. »Wir sollten wirklich in eine frühe Intervention investieren«, sagt Essi Viding, Professorin für Entwicklungspsychopathologie am University College London. Durch eine spezielle Therapie lässt sich die Gefühllosigkeit oft überwinden und die Aufmerksamkeit der Kinder auf konstruktive Ziele lenken. Doch dazu sind kreative Methoden gefragt, die auf den neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu Psychopathie basieren.

Checkliste: Sind Sie ein Psychopath?

Beunruhigenderweise wirken Menschen mit CU-Merkmalen auf den ersten Blick mitunter sozial unauffällig oder sogar charismatisch. Während Fernsehserien sich oft auf sadistische Kriminelle konzentrieren, zeigen einige Studien, dass beispielsweise Führungskräfte und Politiker ebenfalls überdurchschnittlich häufig psychopathische Merkmale besitzen.

Wie andere Persönlichkeitsstörungen rangiert Psychopathie auf einem Spektrum von mild bis schwer. Die schwere Form betrifft schätzungsweise etwa ein Prozent der Allgemeinbevölkerung und tritt bei Männern wiederum deutlich häufiger auf als bei Frauen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2021 erfüllen in US-Gefängnissen bis zu ein Viertel der Männer und bis zu 17 Prozent der Frauen die Kriterien für Psychopathie. Die Diagnose erfolgt in der Regel anhand der Psychopathy Checklist des Psychologen Robert D. Hare, die dieser in den 1970er Jahren entwickelt und seither mehrmals überarbeitet hat. Da Psychopathie oft mit pathologischem Lügen einhergeht, wird der Fragebogen nicht nur anhand der Antworten der betreffenden Person ausgewertet, sondern auch aufgrund der Einschätzungen von Fachleuten, Familienangehörigen oder anderen Menschen aus ihrem Umfeld.

Im Jahr 2009 schlugen die Psychologen Christopher Patrick, Don C. Fowles und Robert F. Krueger erstmals das »triarchische Modell der Psychopathie« vor, das heute weithin akzeptiert ist. Es unterteilt die psychopathischen Merkmale in drei Bereiche. Im Deutschen werden sie oft bezeichnet als Gemeinheit, Enthemmung und Kühnheit. Um die Kriterien für Psychopathie zu erfüllen, muss jemand Eigenschaften aus allen drei Bereichen aufweisen. Enthemmung (also impulsives Verhalten ohne Rücksicht auf Konsequenzen) beobachtet man zwar auch bei anderen psychischen Erkrankungen. Alle drei Merkmalsgruppen kombiniert finden sich jedoch nur bei der Psychopathie.

Eine stigmatisierende Diagnose

Interessanterweise ist Psychopathie nicht im amerikanischen Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) enthalten. Uneinigkeit über die Natur der Störung sowie die Sorge, dass zu viele Menschen eine solche zweifellos stigmatisierende Diagnose erhalten könnten, verhinderten vor mehr als 30 Jahren die Aufnahme in das amerikanische Handbuch.

Es listet allerdings die antisozialen Persönlichkeitsstörung (APS, das ICD10 die dissoziale Persönlichkeitsstörung). Fast alle Menschen mit einer Psychopathie erfüllen deren Kriterien; umgekehrt trifft das nicht zu. Menschen mit APS überfallen vielleicht eine ältere, gebrechliche Dame, um an Geld für Drogen zu kommen. Aber viele von ihnen würden sich danach schuldig fühlen und so etwas nicht tun, könnten sie ihre Impulse besser kontrollieren. Menschen mit einer Psychopathie scheinen es dagegen mitunter sogar zu genießen, Wehrlose zu verletzen. Zusätzlich verwirrend ist der Begriff der Soziopathie, früher als Folge sozialer Faktoren wie Kindesmissbrauch betrachtet. Er wird oft synonym zu Psychopathie verwendet, ist aber nicht allgemein anerkannt.

Frappierende Schmerzunempfindlichkeit

Die affektiv(gefühlsmäßig)-sozialen Defizite bei der Psychopathie hängen mit sichtbaren Veränderungen im Gehirn zusammen. Diese Anomalien beeinträchtigen besonders die Fähigkeit, negative Empfindungen und Emotionen bei sich selbst zu erleben beziehungsweise bei anderen wahrzunehmen. Betroffene sind beispielsweise oft auffallend schmerzunempfindlich. Quillan berichtet, wie Alex nach einem Sturz im Krankenhaus am Kopf genäht werden musste. Die Ärztin geriet in Panik, als sie beim Nähen bemerkte, dass sie ganz vergessen hatte, die Stelle vorher zu betäuben. Doch Alex sagte, es tue nicht weh, sie solle ruhig weitermachen.

2012 zeigten Jean Decety und sein Team an der University of Chicago erstmals, dass Jugendliche mit CU-Merkmalen eine höhere Schmerzschwelle besitzen und zudem eine abnormale Hirnaktivität zeigen, wenn sie andere Schmerzleidende beobachten. Die Studie verglich 13 jugendliche Straftäter mit gravierenden affektiv-sozialen Defiziten, 15 inhaftierte Jugendliche ohne diese Eigenschaften sowie 15 weitere Kontrollpersonen. In einem Teil des Experiments legten die Teilnehmer ihre Hände in ein Gerät, das allmählich steigenden Druck ausübte. Bei den CU-Jugendlichen dauerte es deutlich länger, bis sie Schmerzen meldeten.

Anormale Hirnwellen in Schmerzversuchen

Das Team maß zudem die Hirnströme, während die Jugendlichen Bilder von Menschen betrachteten, die augenscheinlich starke Schmerzen litten. Jene mit hohen CU-Werten schätzten den Schmerz anderer als geringer ein als Kontrollpersonen. Dazu passend zeigten die EEG-Messungen bei ihnen weniger Aktivität in den schmerzverarbeitenden Hirnbereichen. Eine in »Science Reports« veröffentlichte Studie von 2025 bewies, dass auch Erwachsene mit ausgeprägten psychopathischen Merkmalen schmerzunempfindlicher sind und weniger Empathie gegenüber Schmerzleidenden empfinden.

Alex hielt es als Kind manchmal für ein Spiel, seine Mutter zu schlagen. »Wenn sie Aua sagte, dachte ich nicht, dass es echt war. Wissen Sie, wenn Sie meine Hand anschnipsen, sage ich auch Aua, aber es tut ja nicht weh.« Alex nahm den Schmerz seiner Mutter buchstäblich nicht »wahr«.

»Wenn meine Mutter Aua sagte, dachte ich nicht, dass es echt war. Wissen Sie, wenn Sie meine Hand anschnipsen, sage ich auch Aua, aber es tut ja nicht weh«Alex, Name geändert

Schmerzunempfindlichkeit bedeutet natürlich nicht, dass jemand automatisch zum Psychopathen wird. Personen mit genetischen Erkrankungen, die keinerlei Schmerz spüren, können ein sehr unterschiedliches Maß an Empathie aufweisen. Zwar reagieren sie nicht so stark auf Bilder von Gliedmaßen in schmerzhaften Situationen, etwa eine in der Autotür eingeklemmte Hand. Aber ihre Reaktion auf schmerzverzerrte Gesichter kann normal sein. Ihr Empathieniveau sagt voraus, wie sehr sie sich um jemanden sorgen, der verletzt ist – nicht ihre genetische Schmerzunempfindlichkeit.

Menschen mit CU-Merkmalen haben dagegen oft Schwierigkeiten, Gesichtsausdrücke von Angst und Leid überhaupt zu erkennen. Forscher fanden bei ihnen Veränderungen in der Inselrinde, die an der intuitiven Wahrnehmung eigener und fremder emotionaler Zustände beteiligt ist. Solche und andere Anomalien deuten auf Schwierigkeiten damit hin, intuitiv Empathie zu empfinden und sich in andere hineinzuversetzen.

Wahrnehmung von Angst und Freude

Bevor Alex korrekt diagnostiziert wurde, hatte man ihn fälschlicherweise als autistisch eingestuft; er besuchte daher eine auf Autismus ausgerichtete sonderpädagogische Schuleinrichtung. In der 4. Klasse erhielten die Kinder täglich Arbeitsblätter, die ihnen helfen sollten, Emotionen in Gesichtsausdrücken zu erkennen – eine Fähigkeit, die auch bei Menschen mit Autismus manchmal beeinträchtigt ist. Alex' Fehlerquote bei negativen Emotionen wie Angst lag laut seiner Mutter bei 100 Prozent.

Eine Forschungsübersicht aus dem Jahr 2012 von einem Team um Amy Dawel von der Australian National University zeigt, dass CU-Merkmale auch mit Defiziten beim Erkennen positiver Emotionen wie Freude verbunden sein können. Aber der Zusammenhang mit Angst und Traurigkeit ist am stärksten. Das dürfte verletzendes Verhalten begünstigen: Wer nicht erkennt, dass er anderen Angst macht oder ihnen wehtut, kann es nicht so gut vermeiden.

Hinsichtlich ihrer Aufmerksamkeitssteuerung fallen CU-Kindern ebenfalls auf. Sobald sie sich auf etwas konzentrieren, das sie wollen, verengt sich ihr Blick so stark, dass sie die möglichen Gefahren für sich oder andere gar nicht mehr wahrnehmen. »Eine Art ultrafokussierte Aufmerksamkeit auf das Ziel«, nennt es der Neuropsychologe Inti Brazil von der Radboud-Universität in den Niederlanden. Er erinnert sich dabei an ein Kind, das aus einer Art obsessivem Interesse heraus immer wieder Enten tötete.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Autismus

Ähnlich wie autistische Kinder neigen die Betroffenen zu starren Verhaltensmustern und haben oft Schwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen. Doch nach dem aktuellen Stand der Forschung sind Autismus und Psychopathie in vielerlei Hinsicht gegensätzlich. Autistische Kinder werden von den Gefühlen anderer berührt, aber sie fühlen sich diesen oft nicht gewachsen. »Dass man früher Menschen im Autismus-Spektrum für nicht empathisch hielt, lag eher daran, dass sie oft etwas tun, das gefühlskalt wirkt«, sagt Essi Viding. Wenn etwa ein autistisches Kind eine weinende Person einfach stehen lässt, erscheint das gefühllos. Aber letztlich flüchte es nur aus der belastenden Situation, weil es damit nicht umgehen kann.

Autisten sehnen sich oft nach menschlicher Verbundenheit. Sie sorgen sich um andere, haben jedoch Probleme, Freundschaften zu pflegen. Menschen mit CU-Merkmalen dagegen schließen oft leicht Bekanntschaften und wirken sogar zunächst charmant. Sie sehen Beziehungen aber eher als Mittel zum Zweck, nicht als seelische Verbindung. Ein weiteres gegensätzliches Merkmal: Autistische Kinder sind oft von Gerechtigkeit fasziniert und empören sich über Heuchelei, wogegen CU-Kinder bewusst Regeln brechen. »Unsere genetisch fundierten Zwillingsstudien zeigen, dass das genetische Risiko für Autismus und Psychopathie fast vollständig getrennt ist«, sagt Viding.

»Unsere genetisch fundierten Zwillingsstudien zeigen, dass das genetische Risiko für Autismus und Psychopathie fast vollständig getrennt ist«Essi Viding, Entwicklungspsychologin

Zudem wirken Menschen mit CU-Merkmalen eher unerschütterlich, während autistische Menschen oft ängstlich sind. Studien zeigen typische Veränderungen in ihrer Amygdala (Mandelkern), die unter anderem Angst verarbeitet. Eine Studie von 2015 unter Leitung von Leah Lozier an der Georgetown University ergab: Je weniger der Mandelkern eines CU-Kindes auf ängstliche Gesichter reagierte, desto wahrscheinlicher war es, dass es selbst grundlos aggressiv handelte. Alex findet Gefahr auch heute noch eher aufregend als beängstigend. Als Kind liebte er riskante Aktivitäten wie BMX-Stunts und Skateboarden; heute fährt er Motorrad. »Ich war immer ein Adrenalinjunkie«, sagt er.

Hier offenbart sich ein möglicher Vorteil von psychopathischen Merkmalen. Psychopathen besitzen oft eine auffallend niedrige Ruheherzfrequenz, die selbst in psychischen Belastungssituationen nicht ansteigt. Ebenso neigen CU-Kinder zu einem geringeren Ruhepuls. Das macht sie vermutlich resistenter gegen Stress.

Die Wurzel der Kaltblütigkeit

Nick Thomson, Psychiatrieprofessor an der Virginia Commonwealth University, hat dafür eine Erklärung. Normalerweise arbeitet bei Angst der Sympathikus genannte Teil des autonomen Nervensystems auf Hochtouren: Erregung, Puls und Blutdruck steigen und die Aufmerksamkeit verengt sich auf die unmittelbare Reaktion. Erst nach dem Ende der Gefahr wird der parasympathische Teil aktiv, der uns beruhigt und eine langfristige Planung ermöglicht. »Bei CU-Kindern werden beide Systeme gleichzeitig aktiviert. Sie reagieren zwar auf Angst, aber auf eine Weise, die furchtlos erscheinen kann«, sagt Thomson. »Sie bleiben ruhig und entspannt durch den parasympathischen Teil, sind aber wach und aufmerksam durch den sympathischen.« Das ist wahrscheinlich die optimale Reaktion, wenn überlegtes Handeln unter extremem Stress gefragt ist, etwa bei gefährlichen Einsätzen von Feuerwehr oder Polizei.

Höhere Ruheherzfrequenzen korrelieren dagegen mit Angst- und Stressanfälligkeit. Eine Studie von David Farrington an der University of Cambridge von 2021 zeigte: Kinder, deren Herz mit acht Jahren schneller als der Durchschnitt schlug, wurden trotz widriger Kindheitserfahrungen wie harter Bestrafung, einem inhaftierten oder depressiven Elternteil im Erwachsenenalter seltener psychopathisch.

Warum die Diagnose der Verhaltensstörung wichtig ist

Eine weitere Besonderheit von Menschen mit CU-Eigenschaften: Sie reagieren kaum auf Bestrafung. Psychopathen begehen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis oft erneut Straftaten. Möglicherweise lernen sie schlecht aus Bestrafung – teils, weil sie wenig Angst empfinden, teils wegen Abweichungen in ihrem Striatum, einem Teil der Basalganglien tief im Innern des Gehirns. Diese Bereiche spielen unter anderem bei Motivation und Belohnungsverhalten eine wichtige Rolle.

Die Behandlung von Kindern mit CU-Merkmalen erfordert Methoden, die auf ihre spezifischen Eigenschaften zugeschnitten sind. Dafür braucht es zuerst eine präzise Diagnostik. Leider vermeiden viele Fachleute die Diagnose einer Verhaltensstörung. Die Vorbehalte sind nachvollziehbar: Auf Kinder mit diesem stigmatisierenden Etikett reagieren Erwachsene in ihrem Umfeld eher umso strenger und weniger unterstützend. Doch Eltern wie Quillan und einige Experten argumentieren, dass eine falsche oder gar keine Diagnose noch mehr Schaden anrichten kann. Familien bleiben dann ohne Hilfe, erhalten ungeeignete Therapien und geraten in die Mühlen des Strafrechts. »Ich bin für eine klare Diagnose, weil wir wissen müssen, womit wir es zu tun haben«, sagt Quillan.

»Die Eltern, die zu mir kommen, fragen nie: ›Wie unterstütze ich mein Kind, mit diesem stigmatisierenden Etikett klarzukommen?‹«Abigail Marsh, Psychologin

»Die Eltern, die zu mir kommen, fragen nie: ›Wie unterstütze ich mein Kind dabei, mit diesem stigmatisierenden Etikett klarzukommen?‹«, bestätigt Abigail Marsh, Psychologieprofessorin an der Georgetown University. »Was sie wollen, ist konkrete Hilfe. Deshalb denke ich, dass eine korrekte Diagnose der einzige Weg zur richtigen Behandlung ist.«

Die stationären Einrichtungen, in denen viele CU-Jugendliche im Teenageralter üblicherweise landen, sind leider tatsächlich oft kontraproduktiv. Nach mehreren Festnahmen und Aufenthalten in Jugendhaft wurde Alex mit 16 Jahren von einem Richter in ein solches Heim in Kalifornien geschickt. Das Programm dort bot wenig. Es gab keine Therapie, lediglich ein einfaches Punktesystem, das gutes Verhalten belohnte, Regelverstöße bestrafte und offenbar leicht zu manipulieren war. Alex stand noch auf der Warteliste für einen Psychiater, als er die Einrichtung nach fast zwei Jahren verließ.

In zweifelhafter Gesellschaft

Zudem treffen dort Jugendliche mit unterschiedlichen psychischen Störungen und traumatischen Erlebnissen aufeinander, die sich dann aneinander orientieren. Ein Mitschüler von Alex hatte beispielsweise seine Mutter schwer verletzt, weil er eine Bombe mit Splitterwirkung im Backofen platziert hatte. Er bot Alex an, ihm zu zeigen, wie man so einen Sprengsatz baut – zum Glück interessierte der sich nicht für die technischen Details.

Ein anderes Erlebnis in einer stationären Einrichtung in Kalifornien beeindruckte Quillans Sohn dagegen nachhaltig. Während er auf seinen eigenen Anruf wartete, hörte er, wie ein anderer Jugendlicher (laut Alex ein »hartes« Gangmitglied) mit seiner Mutter telefonierte. Aus dem Gespräch schloss Alex, dass die Frau nicht nur den Geburtstag ihres Sohnes vergessen hatte, sondern nicht einmal wusste, wie alt er war.

Alex rief seine Mutter an und entschuldigte sich zum ersten Mal aufrichtig bei ihr. Er hatte immer gedacht, seine Eltern seien absichtlich gemein zu ihm, weil sie ihn so unerbittlich disziplinierten. Ihre Beziehung war von Konflikten geprägt. Nun begann er zu erkennen, dass sie sich so verhielten, weil sie sich um ihn sorgten. Alex erklärte seiner Mutter, er wisse, sie würde seinen Geburtstag oder sein Alter nie vergesse, und es tue ihm leid, dass er ihre Strenge für Lieblosigkeit gehalten habe.

Der Weg zu mehr Gefühl

Ausgerechnet die Tatsache, dass Alex' Zustand vermutlich überwiegend genetisch bedingt ist, bedeutet, dass man ihm helfen kann, sogar leichter als Kindern mit traumabedingter Gefühlslosigkeit. »Wir haben eine Behandlung für solche Kinder entwickelt, mit dem Ziel, Psychopathie zu verhindern«, sagt Eva Kimonis, Psychologieprofessorin an der University of New South Wales in Australien. Sie leitete zusammen mit Georgette Fleming eine Therapiestudie mit 45 Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren, teils mit mutmaßlich primären (angeborenen), teils mit sekundären (erworbenen) CU-Merkmalen.

Alle Familien nahmen an einer Eltern-Kind-Interaktionstherapie teil, die Kimonis' Team speziell für die Behandlung gefühllosen Verhaltens angepasst hatte. In 21 einstündigen wöchentlichen Sitzungen interagierten Eltern und Kind in einem speziellen Raum. Ein Elternteil (meist die Mutter) trug ein Headset; eine Therapeutin, die das Geschehen über einen Einwegspiegel beobachtete, gab ihr Hilfestellung und lenkte so das gemeinsame Spiel. »Beide Gruppen verbesserten sich«, sagt Kimonis, »aber die primäre CU-Gruppe behielt ihre Fortschritte bei, während die sekundäre sich später wieder verschlechterte.«

Alex war im Teenageralter davon überzeugt, dass seine Mutter ihn hasse. Solche Muster soll die Interaktionstherapie früh durchbrechen. Sie zielt daher vor allem darauf ab, eine liebevolle Beziehung wiederherzustellen. Fachleute betonen, dass schlechtes Verhalten schon allein aus Fairness gegenüber anderen Kindern weiterhin konsequent sanktioniert werden muss. Dennoch liegt der Fokus erst einmal darauf, positives Verhalten zu belohnen.

Es ist außerordentlich schwer, ein Kind liebevoll zu erziehen, das einem bewusst wehtut und sogar augenscheinlich Freude daran hat

Die ersten Sitzungen dienen dazu, die Famile wieder in gute Interaktion miteinander zu bringen, indem die Eltern dem Kind die Führung beim fantasievollen Spiel überlassen. CU-Kinder mit warmherzigen Eltern, die jedoch klare Grenzen setzen, haben bessere Chancen, ihre Merkmale zu überwinden. Es ist allerdings außerordentlich schwer, ein Kind liebevoll zu erziehen, das einem bewusst wehtut und sogar augenscheinlich Freude daran hat. Die Therapie soll verhindern, dass Eltern zwischen harter Bestrafung und eigenem Rückzug schwanken. Geschulte Therapeutinnen helfen den Eltern, kleine Fortschritte zu schätzen und ihre eigenen positiven Emotionen auszudrücken.

In späteren Sitzungen verschiebt sich der Schwerpunkt teilweise auf diszipliniertes Verhalten, wozu auch konsequent Auszeiten eingesetzt werden können. Aber vor allem bekommen die Eltern erklärt, wie man mit möglichst vielen Belohnungen arbeitet, die individuell auf die Interessen des Kindes abgestimmt sind. Eltern üben mit ihm, Leid in Gesichtern und Stimmen zu erkennen. Und sie werden dazu ermutigt, auf liebevolles und mitfühlendes Handeln des Nachwuchses zu achten und dieses besonders zu würdigen. Agiert das Kind wütend oder aggressiv, identifizieren sie zusammen mit den Therapeuten die Auslöser und bringen ihm konstruktive Bewältigungsstrategien bei. »Wir versuchen herauszufinden, was ein Kind motiviert«, sagt Kimonis. »Wie können wir es für das positive Verhalten belohnen, das wir sehen wollen – etwa, dass es auf die Eltern hört und nicht aggressiv reagiert?«

»Wie können wir das Kind für das positive Verhalten belohnen, das wir sehen wollen?«Eva Kimonis, Psychologin

Der Erfolg der angepassten Interaktionstherapie kann sich sehen lassen: 58 Prozent der Kinder mit primären affektiv-sozialen Defiziten erfüllten drei Monate nach Studienende nicht mehr die klinischen Kriterien für CU-Merkmale. »Vorher hörten sie vielleicht in 20 Prozent der Fälle auf die Eltern – danach in 80 Prozent«, sagt Kimonis und weist darauf hin, dass sich mit der Abnahme des destruktiven Verhaltens auch die Eltern-Kind-Beziehung verbesserte, was den Teufelskreis unterbrach.

Soziales Training in der Virtualität

Ein anderer vielversprechender Ansatz, entwickelt von Nicholas Thomson, nutzt virtuelle Realität. Teenager trainieren hier in einem spielerischen Rahmen, Emotionen zu erkennen und zu regulieren. Sie tauchen dabei ein in eine Geschichte mit sozialen Situationen wie Partys und Spiele, die belohnungsorientiert soziale Fähigkeiten fördern. »Sie haben keine Ablenkung durch ihr Handy oder anderes. Sie sind mittendrin«, erklärt Thomson. Die Aufgaben werden dabei individuell angepasst, sodass sie herausfordernd und spannend bleiben, aber nicht überfordern und frustrieren.

Laut Thomson fanden 98 Prozent der CU-Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren das Programm gut. Das ist bedeutend, da viele von ihnen Gesprächstherapien ablehnen. In einer Studie von 2025 verbesserten sie sich im Erkennen aller Emotionen, besonders von Traurigkeit und Angst. Die Fortschritte gehen einher mit weniger aggressivem Verhalten, weniger Regelverstößen und einer Abnahme der CU-Merkmale. Sollte sich die Beobachtung durch weitere Daten bestätigen, wäre der virtuelle Ansatz in vielerlei Hinsicht günstig: Er bringt die Kinder nicht in problematischen Gruppen zusammen, ist weniger aufwändig als die Eltern-Kind-Interaktionstherapie und kann ortsungebunden zum Einsatz kommen.

Als Alex mit 18 die stationäre Jugendhilfeeinrichtung verließ, verstand er sein eigenes Verhalten besser, aber es lag immer noch ein großes Stück des Wegs vor ihm. Mutter und Sohn sind sich einig, dass sein Job in einer Werkstatt den Wendepunkt darstellte. Hier fand Alex ein Vorbild und einen Mentor in dem Mann, der ihn in seinem Kfz-Betrieb einstellte. Der Werkstattbesitzer war in seiner Gemeinde und Kirche hoch angesehen.

Die Macht der Vorbilder

Alex erkannte: Wollte er von anderen so wie sein Chef akzeptiert werden, musste er sich genauso ehrenhaft verhalten. Alex beschreibt die Freude, die er empfand, wenn er für gute, harte Arbeit gelobt wurde. »Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich ehrlich gemeint war – nicht nur als Kompliment, weil jemand etwas von mir wollte«, sagt er. Wenn er Fehler machte, stand er jetzt dazu, weil er die Menschen, die er schätzte, nicht belügen wollte.

Auch die Zeit dürfte geholfen haben. Studien zeigen, dass der präfrontale Kortex erst in den frühen bis mittleren Zwanzigern vollständig ausgereift ist. Er wird unter anderem für die Impulskontrolle benötigt. Diese verzögerte Entwicklung könnte erklären, warum kriminelles und antisoziales Verhalten in der späten Jugend und im frühen Erwachsenenalter seinen Höhepunkt erreicht.

Alex zeigt heute immer noch jene fokussierte Zielstrebigkeit, die ihn früher zu riskantem Verhalten trieb. Er weiß, dass er sich weiterhin bemühen muss, den richtigen Kurs beizubehalten. Doch anders als früher (und manchmal zu seinem Leidwesen) fühlt er heute mehr. Seine Gelassenheit unter Drucksituationen möchte er nutzen, um beim Militär oder in der Polizei zu arbeiten. »Ich glaube, ich habe einfach meinen Kompass neu ausgerichtet.«

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  • Quellen

Atanassova, D.V. et al., Scientific Reports Reports 10.1038/s41598–025–87892-x, 2025

Cheng, Y. et al. , Developmental Psychopathology 10.1017/S095457941200020X, 2012

Fleming, G.E, et al., Behavior Therapy 10.1016/j.beth.2022.07.001, 2022

Thomson, N.D. et al. Frontiers in Psychiatry 10.3389/fpsyt.2025.1484938, 2025

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