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Psychotherapie: »Wir sind ein Therapie-TÜV«

Psychotherapie in Deutschland basiert auf so genannten Richtlinienverfahren. Nur für sie übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Wann werden neue Ansätze zugelassen? Und welche Therapien haben sich wissenschaftlich bewährt?
Psychotherapie mit Therapeutin und Patientin auf der Couch
Heilsame Gespräche – wie man mit Worten wirklich hilft.

Herr Strauß, die Nachfrage nach Psychotherapie boomt – auch weil die Krankenkassen die Kosten für so genannte Richtlinienverfahren voll übernehmen. Welche Rolle spielt dabei der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie, dem Sie vorsitzen?

Was in Deutschland als medizinische Heilbehandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gilt, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Das ist ein Gremium aus Vertretern der Ärzteschaft und der Krankenkassen, es reguliert das gesamte Gesundheitssystem von der Chirurgie bis zur Orthopädie. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) existiert erst seit 1998 und ist, wie der Name schon sagt, nur für die Psychotherapie zuständig. In diesem Beirat sitzen je sieben ärztliche und psychologische Vertreter der Psychotherapie plus entsprechende Stellvertreter. Unsere Aufgabe ist primär, die Behörden dabei zu beraten, welche Methoden und Verfahren als wissenschaftlich anerkannt und somit als für die Aus- und Weiterbildung geeignet gelten können.

Die öffentlich finanzierte Versorgung mit Psychotherapie hier zu Lande ist international ziemlich außergewöhnlich, richtig?

Ja, eine Regelleistung der Kassen für Psychotherapie gibt es in den meisten anderen Ländern bis heute nicht oder nur teilweise. Die erste Zulassung von Psychotherapie in der GKV bei uns geht auf das Jahr 1967 mit der Anerkennung von Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierten Verfahren zurück. 1987 folgte die Verhaltenstherapie, im Jahr 2022 kam noch die Systemische Therapie als viertes Richtlinienverfahren hinzu.

Bernhard Strauß | Psychotherapieforscher

Bernhard Strauß

geboren 1956 in Nürnberg, studierte Psychologie in Konstanz sowie Hamburg und wurde 1996 auf den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena berufen, wo er bis heute forscht und lehrt. Der ausgebildete Psychoanalytiker ist seit 2006 Mitglied und derzeit Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie.

Unter Psychoanalyse und Verhaltenstherapie können sich viele Menschen inzwischen etwas vorstellen, aber was ist diese ominöse tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?

Diesen Begriff gibt es meines Wissens nur in Deutschland, anderswo würde man wohl von psychodynamischer Psychotherapie sprechen. 1967 hat Annemarie Dührssen, die damals Professorin in Berlin war und eine psychoanalytische Ambulanz leitete, den politischen Erfolg erzielt, Psychoanalyse als Kassenleistung durchzusetzen. Damals stellte sich die Frage, ob nur voll ausgebildete Psychoanalytiker ihre Therapien abrechnen dürfen oder ob man auch Medizinern mit einer geregelten Fortbildung in Psychoanalyse, einschließlich Selbsterfahrung und supervidierter Therapieerfahrung, dies ermöglichen will. Um diese Gruppe mit einzubeziehen, erfand man den Begriff »tiefenpsychologisch fundiert«. Ein Therapieforscher hat einmal ironisch bemerkt, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sei ein Kind von Frau Dührssen und dem Gemeinsamen Bundesausschuss, dem Gremium, das schon damals über Kassenleistungen bestimmte.

Moment, ist das also nur ein bürokratisches Konstrukt?

Jein. Es ist schon etwas mehr als nur eine Etikettierung. Sowohl psychoanalytische als auch tiefenpsychologisch fundierte Behandlungen basieren auf den ursprünglich auf Freud zurückgehenden psychodynamischen Modellen etwa der unbewussten Konflikte und deren Abwehr. Es gibt aber eine Reihe formaler Unterschiede: TP, ich benutze der Einfachheit halber die Abkürzung, ist deutlich kürzer, die Therapiedauer liegt bei zunächst 60 Sitzungen, während man in der Psychoanalyse in der Regel auf bis zu 300 Sitzungen kommt. Ein weiterer Unterschied ist die Frequenz: TP findet gewöhnlich einmal wöchentlich statt, und Klient und Behandler sitzen sich gegenüber, während eine Psychoanalyse üblicherweise drei Sitzungen in der Woche erfordert; dabei liegt der Patient auf der Couch. Das bringt es mit sich, dass die TP fokussierter ist, man definiert häufig präzisere Ziele. In der Psychoanalyse hat man dagegen mehr Zeit und strebt eine »Nachreifung« an, die weniger zielorientiert ist.

»Tiefenpsychologisch fundierte Therapie basiert auf Modellen unbewusster Konflikte und ihrer Abwehr«

Das Kernargument von Frau Dührssen damals war nicht nur die Wirksamkeit der Tiefenpsychologie, sondern auch eine Kostenkalkulation: Sie zeigte, dass die analytische Behandlung unterm Strich billiger ist als andere medizinische Maßnahmen wie Kuren, Entgiftung oder Medikamente. Gilt das immer noch?

In der Tat konnte man damals Kosten-Nutzen-Vorteile von Psychotherapie, etwa eine Reduktion von Fehltagen, belegen – ein Thema, das heute noch relevant ist. In einer eigenen Studie von 2016 mit mehr als 22 000 Versicherten konnte meine Arbeitsgruppe zeigen, dass ambulante Psychotherapie tatsächlich Kosten sparend wirkt.

Nun gibt es viele Arten von Tiefenpsychologie – schon zu Freuds Zeiten spalteten sich Adlerianer, Jungianer, später Gestalt-, Gesprächs- und Körpertherapien ab, um nur einige zu nennen. Sind das alles immer noch präsente TP-Verfahren?

Teilweise. Es gibt nicht mehr allzu viele jungianische Ausbildungsinstitute, aber ja, es gibt sie noch. Eine psychoanalytisch begründete Ausbildung ist genau geregelt, mit einer speziellen Theorie, aber auch einer Praxeologie, also einem Fundus bewährter Techniken. Man muss das theoretische Konzept davon unterscheiden, was konkret damit gemacht wird. Es gibt heute eine Reihe von Ansätzen wie die Mentalisierungsbasierte Therapie, die aus der Psychoanalyse kommt, zudem Methoden, die eher konfliktfokussiert arbeiten, also nach unbewussten Konstellationen suchen, die das psychische Befinden beeinflussen, aber ebenso solche, die eher unterstützend vorgehen.

Heißt das, wenn ich eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie beginne, weiß ich gar nicht recht, was mich erwartet?

Karl Jaspers hat schon 1955 geschrieben: »Wer sich in psychotherapeutische Behandlung begeben will, sollte wissen, was er tut und was er zu erwarten hat.« Das gilt auch für die TP. Wenn Sie eine Therapie aufnehmen, geht es zunächst um die Frage: Was machen wir hier überhaupt? Worin besteht das Problem? Wie sieht eine für den Klienten denkbare Lösung aus? Was sind Erwartungen, Hoffnungen, Sorgen? Man tritt hier im ersten Schritt in eine Art Aushandlungsprozess ein, der von der jeweiligen Theorie oder dem Verfahren zunächst relativ unabhängig ist. Im nächsten Schritt leitet man daraus das Therapieziel ab. Dazu gehört, die eigene »Lehre« und die verwendeten Methoden zu erklären und transparent zu machen. Wenn sich dann eine tragfähige therapeutische Beziehung ergibt, sind die Aussichten recht gut, dass der Klientin oder dem Klienten geholfen werden kann.

Häufig liest man, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie mehr von der persönlichen Chemie abhängt als von der zu Grunde liegende Theorie. Stimmt das?

Das würde ich weitgehend unterschreiben, da es hierfür viel empirische Evidenz gibt. In der psychodynamischen Therapie spielt diesbezüglich die schon von Freud betonte Konstellation aus Übertragung und Gegenübertragung eine zentrale Rolle. Klienten übertragen sehr rasch die Gefühle und Reaktionen, die sie im Umgang mit anderen Personen erworben haben, etwa im Elternhaus, auf den Therapeuten. Dieser wiederum reagiert mit eigenen Emotionen. Daraus entstehen interaktive Prozesse, die im Therapieverlauf von zentraler Bedeutung sind.

Empfahl Freud nicht »Abstinenz«, also dass der Therapeut möglichst distanziert bleibt und selbst keine Gefühle zeigen soll?

Abstinenz bedeutet in erster Linie, dass der Therapeut nicht die Wünsche des Patienten erfüllt. Das wurde oft falsch als maximale Zurückhaltung verstanden, die dann manchmal darin gipfelte, dass der Therapeut nur in jeder dritten Sitzung mal ein »Hm« brummte. (lacht) Das ist heute nicht mehr so. Es hat in der Psychoanalyse einen starken Umschwung hin zu einer relationalen, beziehungsorientierten Therapie gegeben, wobei die TP ohnehin häufig aktiv und auch stärker anleitend ist.

»Wenn sich eine tragfähige therapeutische Beziehung ergibt, kann Klienten gut geholfen werden«

Eine gute Beziehung zur Therapeutin oder zum Therapeuten ist aber nicht mit Freundschaft und Nettigkeit zu verwechseln, richtig?

Ja, es geht um eine wirkliche Arbeitsbeziehung. Die hat drei Komponenten: eine gute Verständigung über das Ziel der Therapie. Dann eine klare Strategie für die Umsetzung, zum Beispiel: immer wieder auftretende, enttäuschende Beziehungserfahrungen durchsprechen. Beispiel: Da wünscht sich der Klient etwas, bekommt es nicht und dann ist er beleidigt und frustriert. Was kann man an diesem Muster ändern? Und drittens eben die Chemie, also eine gemeinsame emotionale Basis. Besonders in herausfordernden Situationen beweist sich, ob eine Therapiebeziehung trägt, ob es beiden Seiten gelingt, an den gefassten Zielen festzuhalten.

Müssen Therapeuten bereit sein, ihren Klienten auf die Füße zu treten, sie mit Dingen zu konfrontieren, die ihnen womöglich nicht gefallen?

Sicher, manchmal auch das. Es gibt einen ganzen Strauß an Anforderungen: Empfinden validieren, reflektieren, mit unangenehmen Einsichten konfrontieren, spiegeln, ein Vorbild sein. Bisweilen zeigt der Therapeut zum Beispiel auf eine bestimmte Verhaltensweise, die für den Patienten typisch ist, und signalisiert ihm dadurch, wie diese auf andere wirkt. So eine Konfrontation kann durchaus erst einmal schmerzhaft sein.

Was ist mit eher exotischen Ansätzen wie Psychodrama, Gestalttherapie oder Bioenergetik: Könnte mir das auch bei einem Tiefenpsychologen begegnen?

Eine wichtige Voraussetzung für die kassenrechtliche Anerkennung war von Anfang an, eine Beliebigkeit in der Vorgehensweise von Psychotherapeuten zu verhindern. Die genannten Ansätze sind alle zumindest kein Bestandteil der psychodynamischen Therapiefamilie. Natürlich gibt es tiefenpsychologisch ausgebildete Therapeuten, die sich vielleicht einmal in Psychodrama oder Gestalttherapie fortgebildet haben und Elemente daraus in ihrer Arbeit einsetzen. Das Fundament ist aber die Psychodynamik und Struktur der Person, der Abwehrmechanismen wie Verdrängung oder Projektion, potenzielle Traumafolgen und so weiter. Auch gibt es ein Inventar von psychodynamischen Techniken. Dagegen entstanden die genannten Methoden in anderen Kontexten und sind bis heute nicht ausreichend evidenzbasiert.

Apropos, lange hat sich die Psychoanalyse dagegen gewehrt, ihre Wirksamkeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Manche Vertreter behaupteten sogar, selbst wenn es dem Patienten schlechter geht, ist er womöglich doch auf dem Weg der Besserung. Wie ist das heute?

Bezüglich der kritischen Prüfung ist inzwischen schon viel passiert. Mittlerweile gibt es vielfältige Befunde, die eine Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapien für eine Vielzahl von Störungen überzeugend nachweisen. Sicher spielt dabei auch eine Rolle, dass die Vertreter des Verfahrens einsehen mussten, dass eine Kostenübernahme nur bei ausreichender Evidenz beansprucht werden kann.

Warum hat es bis 1987 gedauert, bis die Verhaltenstherapie die Kassenzulassung erhielt?

Nun, die Psychoanalyse hatte 1967 natürlich eine längere Geschichte, die Psychotherapie war zudem lange eine Domäne von Medizinern, die zunächst in erster Linie psychoanalytisch sozialisiert waren. Es musste erst eine genügend große Zahl an Psychologen auf den Markt drängen, die eher lerntheoretischen, am Behaviorismus orientierten oder kognitiven Paradigmen folgten, damit sich diese Ansätze Gehör im Gesundheitssystem verschafften.

»Vielfältige Befunde wiesen eine Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapien nach«

Nur in Deutschland gibt es die genannten vier Richtlinienverfahren. Wie ist die Situation etwa in England oder Frankreich?

Die Versorgung ist tatsächlich von Land zu Land sehr verschieden. Länger dauernde Therapien sind in Deutschland sicherlich am weitesten verbreitet. Hier gibt es ein dichtes Netz von niedergelassenen Therapeuten, das in Europa seinesgleichen sucht. Meist muss man etwa im nationalen Gesundheitssystem in Großbritannien zur Behandlung in eine Beratungsstelle. Häufig zahlen die Kassen in anderen Ländern nur Anteile an der Behandlung. Unser hiesiges System ist berichtsbasiert. Ein Behandler muss nach spätestens 24 Therapiestunden einen Bericht an einen Gutachter schreiben, der dann auf Plausibilität und Wirtschaftlichkeit geprüft wird. De facto werden diese Berichte zwar fast immer anerkannt, und wenn nicht, kann man nachschärfen. Aus Therapeutensicht herrschen hier schon recht paradiesische Verhältnisse.

Ist die Versorgung dadurch bei uns besser?

Das ist schwer zu beurteilen, die Inanspruchnahme von Psychotherapie ist in Deutschland jedenfalls sehr hoch, selbst wenn es immer noch lange Wartezeiten gibt und längst nicht alle, die einer Therapie bedürfen, diese bekommen.

Was auch daran liegt, dass etwa ein depressiver Mensch nicht so schnell auf die Idee kommt, eine Behandlung könnte ihm helfen.

Richtig, manchmal ist es Teil der Pathologie, eine Psychotherapie nicht hilfreich oder unnötig zu finden – denken wir nur an Menschen mit einer narzisstischen Störung. Man muss schon motiviert sein mitzumachen. De facto gehen höher gebildete und besser situierte Menschen viel eher zur Therapie, außerdem gibt es einen starken Überhang bei Frauen, die etwa doppelt so oft eine Behandlung suchen wie Männer. Es ist noch ein langer Weg zur Verteilungsgerechtigkeit.

Was muss passieren, damit ein Psychotherapieverfahren anerkannt wird?

Wenn ich einen neuen Ansatz anerkennen lassen will, muss der Wissenschaftliche Beirat prüfen, ob es genügend gute Belege für die Wirksamkeit gibt. Der GBA prüft dann aber noch mal in einem zweiten, unabhängigen Verfahren, ob das auch sozialrechtlich Vorteile bietet. Es gab einen Fall, die Gesprächspsychotherapie nach Rogers, wo der Wissenschaftliche Beirat vor einigen Jahren eine gute Wirksamkeit attestierte, mit ein paar Einschränkungen. Dennoch entscheid der GBA, dass eine kassenrechtliche Zulassung nicht zur Verbesserung der Versorgung beiträgt. Insofern ist das Ansinnen der Gesprächstherapeuten damals gescheitert.

Wie läuft so ein Verfahren genau ab?

Erst einmal stellt man einen Antrag beim WBP oder eine Behörde fragt diesbezüglich an. Voraussetzung ist, dass man tatsächlich eine umschriebene psychotherapeutische Methode oder ein Verfahren vorweisen kann. Das erfordert eine Theorie, eine Krankheitslehre, eine Praxeologie sowie ein Ausbildungssystem. Erst wenn all dies gegeben ist, geht man ins Detail. Dann werden die relevanten Studien herausgesucht, und hier schmilzt der Fundus der brauchbaren, methodisch soliden Belege erfahrungsgemäß stark zusammen.

Weil zum Beispiel Studien ohne Kontrollgruppe durchs Raster fallen?

Ja. Es gibt einen definierten Katalog von Qualitätskriterien, das so genannte Methodenpapier des Beirats. Wenn eine Studie, die als Wirksamkeitsbeleg dienen soll, keine Kontrollgruppe beinhaltet, ist das ungenügend. Das heißt nicht, dass wir uns ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien, so genannte RCTs, ansehen, man kann durchaus gut gemachte Einzelfallstudien hinzuziehen. Aber es sind schon etliche Anträge daran gescheitert, dass die Qualität der eingereichten Studien insgesamt zu dürftig war.

Kann man einen zweiten oder dritten Anlauf nehmen? Sagen wir, wenn die Gesprächstherapie bessere Belege und Argumente gesammelt hat?

Prinzipiell ja. Es gab vor einigen Jahren einen umfangreichen Antrag der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie. Die hat argumentiert, dass unterschiedliche Ansätze, von der existenziellen Psychotherapie über Psychodrama, Gestalt- und Gesprächstherapie bis zur Transaktionsanalyse, in Wirklichkeit ein einheitliches Verfahren darstellen. Hier kam der Beirat zu dem Schluss, dass das nicht nachvollziehbar ist. Das Dach Humanistische Psychotherapie war zu weit. Zudem war die Mehrzahl der eingereichten Studien methodisch ungenügend.

Ein Positivbeispiel ist offenbar die Systemische Psychotherapie.

Richtig, vor gut zwei Jahren ist die Systemische Therapie zum vierten Richtlinienverfahren geworden. Hier war ein wichtiger Punkt, dass Systemiker häufig Paare und Familien behandeln. Damit können auch Probleme adressiert werden, die bei anderen Verfahren seltener im Blick stehen.

Steht aktuell etwas unter Begutachtung?

Derzeit wird wieder ein Antrag geprüft. Dabei geht es um ein Verfahren, das aus der Tradition der Gesprächstherapie nach Rogers kommt, sich aber inzwischen personenzentrierte Therapie nennt und einen Schwerpunkt auf emotionsfokussierte Ansätze legt. Diese haben sich letztlich aus der klientenzentrierten Therapie nach Rogers entwickelt. Da sind wir aber noch mitten in der Prüfung.

Ist der Wissenschaftliche Beirat so etwas wie ein TÜV für Psychotherapie?

Für die kassentechnische Anerkennung spielen natürlich Kostenfragen und die Versorgungslage eine Rolle. Aber Sie haben Recht, wir prüfen, ob ein Verfahren oder eine Gruppe von Verfahren aus einer wissenschaftlich nachvollziehbaren Konzeption heraus entstanden ist und nicht nur aus einer abstrakten Idee, wie es bei vielen naturheilkundlichen Lehren der Fall ist. Die zweite Frage ist, ob auf dieser Basis ein breiteres Spektrum an Störungen gut behandelt werden kann – und zwar vor allem solche, die eine relevante Verbreitung in der Bevölkerung haben, also besonders Angststörungen, Depression und Sucht. Und ein weiterer Punkt: Welche Schäden und unerwünschte Nebenwirkungen drohen schlimmstenfalls? Das hat man viel zu lange vernachlässigt. Das Thema Patientensicherheit ist zum Glück deutlich stärker in den Fokus gerückt. Insofern ist das schon mit dem TÜV vergleichbar.

Haben die Kassen ein Interesse daran, den Fundus der Verfahren zu begrenzen, um die Kosten zu dämpfen? Nach dem Motto: Selbst wenn Methode X gut wirkt, wollen wir sie nicht genehmigen, um nicht noch mehr bezahlen zu müssen.

Das würde ich dem Gemeinsamen Bundesausschuss nicht generell unterstellen. Trotzdem gibt es natürlich den Kostenaspekt. Nicht umsonst steigen digitale Anwendungen in der Gunst der Kassen, weil diese sehr einfach und kostengünstig anzubieten sind. Dahinter steht die Hoffnung, dass man dadurch Kosten für eine reguläre Therapie reduzieren kann. Zudem können niedrigschwellige Angebote per App sicher auch Leute erreichen, die sonst nie den Weg zum Therapeuten finden würden.

Begegnen Sie manchmal dem Vorwurf, Sie würden Lobbyismus betreiben?

Ja, durchaus. Allerdings sind wir als Beratungsgremium in erster Linie Psychotherapieforscher. Da wir selbst naturgemäß in dem einen oder anderen Richtlinienverfahren zu Hause sind, wird uns jedoch manchmal unterstellt, dass wir nicht bereit seien, konkurrierende Ansätze anzuerkennen, sondern dass wir sie stattdessen von den Trögen der öffentlichen Alimentierung ausschließen. Das ist aber völlig falsch. Ich bürge dafür, dass die Beiratsmitglieder primär ein wissenschaftliches Interesse haben.

Es gibt mittlerweile einen Fundus bewährter Therapieansätze für unterschiedlichste Problemlagen. Das heißt doch auch, es wird immer schwieriger, noch neue aufzunehmen und eine Nische zu finden – denn man braucht ja nicht immer mehr desselben, oder?

In gewisser Weise muss man tatsächlich genauer hinschauen. Es gab immer wieder Neuerungen, wie etwa EMDR bei Posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich denke, dass wir von solchen störungsspezifischen Ansätzen in Zukunft noch mehr sehen werden. Deren Anerkennung setzt allerdings voraus, dass diese Methoden eine gewisse Eigenständigkeit haben und nicht einfach unter einem bereits anerkannten Verfahren subsumiert werden. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Schematherapie oder bei CBASP, die letztlich einfach als Fortentwicklung der Verhaltenstherapie gelten und daher nicht gesondert beantragt und geprüft wurden.

Es bleibt die Erkenntnis: Nicht alles, was wissenschaftlich taugt, bekommt auch das Gütesiegel der Kasse.

Sicher, ein Verfahren muss nicht nur grundsätzlich wirken, es muss alltagstauglich sein und einen Vorteil bieten, zum Beispiel eine Lücke in der Versorgung schließen.

Nun werden Verfahren fast immer nur von ihren Anwendern selbst geprüft. Und die haben ein Eigeninteresse: Die eigene Behandlungsmethode muss ja etwas taugen. Ist das ein Problem?

Das ist genau der Sinn so einer Institution wie des Beirats. Natürlich wollen Anwender zeigen, dass ihr eigener Ansatz gut und effizient funktioniert, aber es gibt eben auch methodische Standards dabei zu beachten. Der Beirat ist der Wissenschaft verpflichtet und macht bestmöglich deutlich, welche potenziellen Interessenkonflikte einzelne Mitglieder haben könnten.

»Es existiert ein wilder Markt an Angeboten, die überhaupt keine fachliche Prüfung durchliefen«

»Psychologischer Berater«, »Heilpraktiker für Psychotherapie« oder einfach »Psychotherapeut« sind keine geschützten Bezeichnungen, im Grunde darf sie jeder nutzen. Das ist alles nicht Ihr Beritt, richtig?

Genau. Inzwischen ist der geschützte Begriff der des Fachpsychotherapeuten. Das kann entweder ein Arzt oder ein Psychologe sein, der zusätzlich eine anerkannte therapeutische Aus- oder Weiterbildung absolviert haben muss. Daneben existiert jedoch ein wirklich wilder Markt an Angeboten, die überhaupt keine fachliche Prüfung durchliefen. Darunter sind irgendwelche Privatlehren von Coaches oder Heilpraktikern oder esoterische Heilsversprechen. Das ist vollkommen unreguliert, und hier gibt es nicht nur haarsträubende, sondern auch gefährliche Dinge. Es ist nicht auszuschließen, dass darunter einzelne Naturtalente sind, die einigen Menschen helfen oder jedenfalls subjektiv Erleichterung verschaffen. Mit wissenschaftlich geprüfter Heilbehandlung hat das aber nichts zu tun, und wir als Beirat können und wollen uns damit gar nicht beschäftigen.

Beispiel Homöopathie: Manche Kassen bieten solche Leistungen an, einfach weil viele Leute darauf schwören. Ist es in der Psychotherapie nicht ebenfalls denkbar, dass einzelne Kassen, um eine Nische am Markt zu besetzen, etwa die anthroposophische oder die Urschreitherapie in ihr Angebot aufnehmen?

Ich halte das auf Grund der geltenden Regeln für ausgeschlossen. Aber ja, es gibt eine bedenkliche Tendenz, Dinge als Kassenleistung zu adeln, weil es eine Lobby dafür seitens der Anbieter und der Nutzer gibt. Als Herr Lauterbach damit liebäugelte, hier bezüglich der Homöopathie zu intervenieren, was er als Gesundheitsminister durchaus kann, gab es einen enormen Aufschrei der Entrüstung. Ich sehe solche Entwicklungen für die Psychotherapie derzeit zum Glück nicht.

Wird KI die Psychotherapie gefährden oder ergänzen?

Es gibt bereits vielfältige virtuelle Angebote, bei denen eine KI individualisiert auf Patientenanfragen reagiert. Da ist das Besondere, dass hier keine Standardantworten abgespult, sondern wirklich relativ originäre Antworten und Hinweise gegeben werden. Teils ist das erstaunlich empathisch und solide. Ich glaube, um solche Anwendungen wird man in Zukunft nicht herumkommen. Ganz sicher werden so genannte »blendend therapies« zunehmen, also eine Kombination aus Unterstützung durch einen realen Therapeuten plus KI-Chatbot. Da stehen wir erst noch am Anfang.

Erstaunlich ist, wie schnell wir Beziehungen selbst zu Maschinen aufbauen und uns empathisch aufgehoben fühlen bei Algorithmen, die lediglich wahrscheinliche oder plausible Reaktionen simulieren. Wie gefährlich ist das?

Was einerseits eine Hilfe ist, kann sich andererseits auch als Fluch entpuppen – vor allem wenn die KI letztlich doch nur Gemeinplätze produziert oder generell verfügbare Tipps nachbetet.

Bis zu einem Antrag der KI-Therapie beim Wissenschaftlichen Beirat wird es also noch dauern?

Davon gehe ich aus!

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  • Quellen
Altmann, U. et al.: Outpatient psychotherapy reduces health-care costs: A study of 22,294 insurants over 5 years. Frontiers in Psychiatry 7, 2016

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