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Zehn-Martini-Problem: So entstehen die Quanten-Fraktale der Schrödingergleichung

Mathematiker haben nach jahrzehntelangen Bemühungen das Zehn-Martini-Problem vollumfänglich gelöst. Es erklärt die fraktalen Energiemuster von Elektronen in Magnetfeldern.
Ein roter Schmetterling, der aus einer spritzenden Flüssigkeit in einem Glas geformt ist. Die Flügel des Schmetterlings bestehen aus der Flüssigkeit, die in dynamischen Tropfen und Spritzern dargestellt ist. Der Hintergrund ist dunkel, was den Kontrast zur leuchtend roten Farbe des Schmetterlings und der Flüssigkeit verstärkt. Kunstvolle Darstellung von Bewegung und Form.
Das Zehn-Martini-Problem dreht sich um den Hofstadter-Schmetterling, ein Fraktal, das in der Quantenphysik auftaucht.

Im Jahr 1974 brach Douglas Hofstadters Doktorvater für ein Sabbatical nach Regensburg auf. Der junge Doktorand aus den USA schloss sich ihm an, in der Hoffnung, sein Deutsch zu verbessern. Die beiden stießen zu einer Gruppe theoretischer Physiker, die sich mit einem hartnäckigen Problem aus der Quantentheorie herumschlugen: Sie wollten die Energieniveaus von Elektronen eines Kristallgitters in einem Magnetfeld bestimmen.

Damals konnte Hofstadter den Gedankengängen seiner erfahreneren Kollegen nicht folgen. Im Nachhinein ist er froh darüber. »Ein Teil meines Glücks war, dass ich nicht mit ihnen mithalten konnte«, sagt er. »Sie haben Theoreme bewiesen, aber die hatten nichts mit dem Kern der Sache zu tun.« Deshalb beschloss er, einen bodenständigeren Ansatz zu wählen. Anstatt sich komplizierten mathematischen Theoremen zu widmen, wollte er konkrete Ergebnisse berechnen. Er nutzte dafür einen HP 9820A-Tischrechner – eine computerähnliche Maschine, die fast 20 Kilogramm wog und sich programmieren ließ.

Hofstadter brauchte sie, um eine bestimmte Variante der Schrödingergleichung zu lösen, die den Kern der Quantenmechanik bildet. Die Gleichung beschreibt, wie sich ein Elektron in einer bestimmten Umgebung verhält. Insbesondere geben ihre Lösungen Aufschluss darüber, wie viel Energie das Elektron haben kann.

Der Doktorand interessierte sich für einen Sonderfall, bei der die Schrödingergleichung eine Variable namens Alpha enthält: das Produkt aus der Magnetfeldstärke und der Fläche, die benachbarte Atome im Kristallgitter eingrenzen. Alpha enthält somit Informationen über die elektromagnetischen Kräfte, die auf das Elektron einwirken.

Die deutschen Forscher wussten, dass sich die Schrödingergleichung für rationale Werte von Alpha (also wenn Alpha eine Bruchzahl ist) lösen lässt – wenn auch nur sehr mühsam. Falls Alpha aber irrational ist, das heißt Werte wie die Wurzel aus zwei annimmt, die sich nicht als Bruchzahl darstellen lassen, gab es keinen Lösungsansatz mehr.

Anstatt sich wie seine Kollegen mit dem irrationalen Fall herumzuschlagen, beschränkte sich Hofstadter zunächst auf die lösbaren Versionen. Er programmierte seinen Tischrechner so, dass der für einen rationalen Wert von Alpha die erlaubten und verbotenen Energieniveaus des Elektrons ausgab und auf Papier druckte.

Jeden Abend ließ Hofstadter seinen Rechner die Nacht über durcharbeiten. Am nächsten Morgen fand er eine lange Liste mit erlaubten Energien für verschiedene rationale Werte von Alpha vor. Daraufhin klebte er mehrere Seiten Millimeterpapier aneinander und zeichnete mit einem Filzstift die Energiewerte ein. Das sich ergebende Bild ist inzwischen als Hofstadter-Schmetterling bekannt.

Hofstadter-Schmetterling | Als der damalige Doktorand Douglas Hofstadter die erlaubten Energiewerte von Elektronen in einem Magnetfeld für verschiedene Werte von Alpha aufzeichnete, fand er fraktale Strukturen vor, die ihn an einen Schmetterling erinnerten.

Hofstadters Kollegen sahen keinen Sinn in diesem mühsamen Ansatz. Sie scherzten, er versuche, Stroh zu Gold zu spinnen, und nannten seine Rechenmaschine »Rumpelstilzchen«. Sogar sein Betreuer tat die Bemühungen als »Numerologie« ab und drohte damit, Hofstadters Finanzierung zu streichen. »Er unterstellte mir, ich sei abergläubisch und rede Unsinn«, erinnert sich Hofstadter, »weil ich in Zahlen Bedeutung und Muster suchte, die es gar nicht gäbe.«

Aber der Schmetterling, der sich auf dem Millimeterpapier entfaltete, faszinierte den Doktoranden. Die erlaubten Energien der Elektronen wurden für jeden Wert von Alpha durch lange Strecken mit verbotenen Werten unterbrochen. Je komplizierter die Bruchzahl Alpha, desto zahlreicher erschienen die Lücken. Die Energiewerte bildeten ein auffälliges Muster, das an ein Fraktal erinnerte. Hofstadter erkannte es: Es war die Cantor-Menge.

Cantor-Menge | Die Menge ist nach dem Mathematiker Georg Cantor benannt, der sie 1883 mit einer einfachen Regel erzeugte: Man nehme ein Liniensegment, teile es in drei gleiche Abschnitte und entferne das mittlere Drittel. So bleiben zwei durch eine Lücke getrennte Segmente übrig. Nun kann man das mittlere Drittel jedes dieser Segmente entfernen und immer so weitermachen. Führt man diese Prozedur unendlich oft durch, ergibt sich eine unendliche Menge von Punkten, die sich wie Staub auf der Zahlengeraden verteilen.

Irrationalität verboten

Hofstadter übergab der Rechenmaschine niemals einen irrationalen Wert für Alpha. Denn solche Zahlen können nicht als Bruch ausgedrückt werden: Man bräuchte unendlich viele Ziffern im Zähler oder Nenner, was der Tischrechner unmöglich verarbeiten konnte. Doch der Doktorand stellte fest, dass die Menge der zulässigen Energiewerte – die Streifen in jeder Zeile seines Schmetterlingsbilds – der Cantor-Menge umso stärker ähnelt, je näher Alpha an eine irrationale Zahl herankommt. So stellte er die Vermutung auf, dass die Energien für irrationale Alpha eine echte Cantor-Menge bilden.

Einige Jahre später kamen zwei renommierte Mathematiker durch einen völlig anderen Ansatz zu demselben Schluss. Barry Simon und Mark Kac untersuchten damals »fast periodische Funktionen«. Während sich eine periodische Funktion wie die Sinusfunktion immer wiederholt, kommen fast periodische Funktionen einer Wiederholung nur sehr nahe.

1981 trafen sich Kac und Simon zum Mittagessen und diskutierten über die Version der Schrödingergleichung, die Hofstadter und seine Kollegen zu lösen versuchten. Wenn Alpha irrational ist, wird die Gleichung zu einer fast periodischen Funktion. Basierend auf dem, was sie über solche Funktionen wussten, kamen sie zum gleichen Schluss wie Hofstadter: Die zulässigen Energieniveaus sollten eine Cantor-Menge bilden, wenn Alpha irrational ist. Allerdings konnten Simon und Kac es nicht beweisen – genauso wenig wie Hofstadter.

Kac sagte, er würde jeder Person, die die Vermutung beweisen kann, zehn Martinis ausgeben. So wurde das Problem in der Mathewelt schließlich als Zehn-Martini-Vermutung bekannt.

Im Lauf der Jahre arbeiteten viele Mathematikerinnen und Mathematiker daran und konnten die Vermutung für bestimmte irrationale Werte von Alpha bestätigen – aber nicht für alle. Simon lieferte im Jahr 1982 ein Zwischenergebnis. Kac bot ihm dafür drei Martinis an. Als Kac zwei Jahre später starb, war das Problem noch ungelöst. Ein Beweis, der alle zehn Martinis wert war, erschien erst zwei Jahrzehnte später.

Eine unrealistische Lösung

2003 hatte die Mathematikerin Svetlana Jitomirskaya ihr langjähriges Ziel, die Zehn-Martini-Vermutung zu beweisen, gerade aufgegeben. Denn ein Jahr zuvor hatte ihr Kollege Joaquim Puig die Vermutung für alle irrationalen Alpha – bis auf wenige Ausnahmen – bewiesen. Und er hatte dafür Techniken verwendet, die sie zuvor veröffentlicht hatte. »Ich habe mich sehr geärgert«, sagt sie. »Die ganze harte Arbeit steckte in meinem Beweis, und dann kommt er mit diesem schönen Argument.«

Daher war sie überrascht, als ein 24-jähriger Mathematiker namens Artur Avila an sie herantrat und vorschlug, an den verbleibenden Werten von Alpha zu arbeiten. »Ich sagte ihm, dass das sehr schwierig und zeitaufwändig sein würde und niemanden interessieren würde«, erinnert sie sich.

Doch sie irrte sich. Es hat die Leute interessiert. Ihr Beweis, den sie 2005 veröffentlichten, wurde in den »Annals of Mathematics« veröffentlicht, dem renommiertesten Journal des Fachs. Avila gewann später eine Fields-Medaille, unter anderem für seine Arbeit an diesem Problem.

Aber der Beweis war nicht ganz zufriedenstellend. Jitomirskaya und Avila hatten eine Methode verwendet, die nur für bestimmte irrationale Werte von Alpha gilt. Durch die Kombination mit einem vorangegangenen Zwischenergebnis konnten sie das Problem bewältigen. Dieser zusammengesetzte Beweis war jedoch nicht elegant: Es war eine Art Flickenteppich aus verschiedenen Argumenten. Außerdem löste er die Vermutung nur in ihrer ursprünglichen Formulierung – mit vereinfachten Annahmen über die Umgebung des Elektrons. Realistischere Szenarien unterscheiden sich aber davon. Die Atome in einem Festkörper sind in komplizierteren Mustern angeordnet, und die Magnetfelder sind nicht konstant.

Für wirklichkeitsnahe Situationen muss man den Teil der Schrödingergleichung ändern, in dem Alpha auftaucht. Und wenn man das tut, funktioniert der Zehn-Martini-Beweis nicht mehr. »Das hat mich immer gestört«, sagt Jitomirskaya. Die schönen fraktalen Muster, die Cantor-Mengen, der Hofstadter-Schmetterling: All das würde verschwinden, sobald man die Schrödingergleichung an realistische Verhältnisse anpasste, so die Befürchtung.

»Plötzlich wurde es vom mathematischen Hirngespinst zu etwas Realem«Svetlana Jitomirskaya, Mathematikerin

Ohne einen Lösungsansatz wandten sich Avila und Jitomirskaya anderen Forschungsthemen zu. Auch Hofstadter zweifelte an der Realitätsnähe seiner Ergebnisse. Wenn ein Experiment jemals seinen Schmetterling nachweisen würde, so schrieb er 1979 in seinem Buch »Gödel, Escher, Bach«, wäre er der überraschteste Mensch auf der Welt.

Doch 2013 fand ein Team an der Columbia University diesen vor: Als die Forschenden zwei dünne Graphenschichten in ein Magnetfeld führten und die Energieniveaus der Elektronen maßen, kam der Hofstadter-Schmetterling zum Vorschein. »Plötzlich wurde es vom mathematischen Hirngespinst zu etwas Realem«, sagt Jitomirskaya, die nicht an der Studie beteilgt war.

Die Physikerin wollte das unbedingt erklären. Und ein neuer Kollege hatte eine Idee, wie das gelingen könnte.

Die Mathematik der realen Welt

2019 stieß Lingrui Ge zu Jitomirskayas Forschungsgruppe. Der Mathematiker ließ sich von Avilas Arbeit und weiterführender Forschung inspirieren. Anstatt sich mit den zusammengesetzten Ansätzen zu begnügen, die zum Verständnis fast periodischer Funktionen genutzt wurden, hatte Avila eine »globale Theorie« entwickelt: eine Methode, um eine übergeordnete Struktur in allen Arten von fast periodischen Funktionen aufzudecken. So sollten sich ganze Klassen von Funktionen auf einmal lösen lassen.

Dafür ordnete Avila einer fast periodischen Funktion ein geometrisches Objekt zu und untersuchte dessen Eigenschaften. Er erkannte, dass einige dieser geometrischen Eigenschaften es ermöglichen, die ursprüngliche Funktion zu lösen. Das klappt allerdings nur für bestimmte Arten von Funktionen. Die Art von Berechnungen, die das Zehn-Martini-Problem erfordert, gehört nicht dazu. Und es war unklar, ob sein globaler Ansatz für diesen Fall anwendbar wäre.

Denn um die Zehn-Martini-Vermutung zu beweisen, muss man die Schrödingergleichung zunächst in eine verwandte Gleichung umwandeln, das sogenannte Dual, und diese dann lösen. Avilas Theorie sagte jedoch nichts über die übergeordnete Struktur des Duals aus – zumindest dachte Avila das.

Als Ge zu der Forschungsgruppe kam, war er fasziniert von Avilas geometrischen Objekten. Er vermutete, dass andere Eigenschaften dieser Objekte noch mehr Informationen verbargen – Informationen, die Aspekte der Dualgleichung beleuchten könnten.

Zusammen mit Jitomirskaya und ihren Kollegen Jiangong You und Qi Zhou von der Universität Nankai in China fand er einen Weg, Avilas geometrisches Objekt neu zu interpretieren und es auf das Dual anzuwenden. Dadurch wurde die globale Theorie viel leistungsfähiger. Außerdem konnten Ge, Jitomirskaya und You einen zusammenhängenden Beweis formulieren, der gleich mehrere Versionen des Zehn-Martini-Problems für viele verschiedene Situationen löst.

Das Ergebnis belegt, dass der Hofstadter-Schmetterling tatsächlich ein reales Phänomen ist. Damit hören die Bemühungen der Mathematiker aber nicht auf. Mit ihrer erweiterten Version von Avilas globaler Theorie haben sie inzwischen zweiweitere Probleme auf diesem Gebiet gelöst. Und das soll nur der Anfang sein – die Forschenden gehen davon aus, dass sie mit Hilfe der globalen Theorie viele weitere Geheimnisse der Mathematik lüften können.

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  • Quellen

Avila, A., Jitomirskaya, S., Annals of Mathematics 10.4007/annals.2009.170.303, 2009

Ge, L. et al., ArXiv 10.48550/arXiv.2306.16387, 2023

Ge, L. et al., ArXiv 10.48550/arXiv.2308.09321, 2023

Kim, P. et al., Nature 10.1038/nature12186, 2013

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