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Onkologie: Radikales Leben und Sterben

Radikale sind immer verdächtig - auch in normalen und entarteten Zellen. Sie wegzusperren statt ihre Radikalität zu nutzen, könnte sich allerdings als Fehler erweisen.
Grauzonen sind überall, zum Leidwesen der Vereinfacher und Schubladendenker – und leider auch aller optimistischen Schwarz-Weiß-Maler in Medizin und Zellbiologie. Ihnen kommt das Grau meist pünktlich dann dazwischen, wenn sie ein verflixt kompliziertes Detail des Lebens erfreulich vereinfacht, alle beteiligten Prozesse in gut, böse, schädlich und gesund eingeteilt und ihr Zusammenspiel glauben verstanden zu haben. Der nächste Schritt zu noch höherer Genauigkeit bringt dann zuverlässig wieder Unwägbarkeiten und bestätigt, dass alle bisherigen Vorstellungen etwas zu simpelwaren. Ein aktuelles Beispiel aus der Krebsforschung liefern nun Peng Huang von der Universität von Texas und seine Mitstreiter.

Ihr Thema war eine Eigenart von entartetem Gewebe im Körper, die ganz eindeutig den Stempel "Böse" trug: Krebszellen enthalten oft deutlich größere Mengen von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS). Diese erscheinen als Grundübel und sich selbst verstärkender Schadmechanismus zugleich. Denn zum einen sind die aggressiven Atmungsketten-Fehlprodukte verdächtig, die Krebsentstehung generell zu befördern. Nachweislich geschieht dies etwa in genetisch leicht defekten Mitochondrien, die fehlerhafte Atmungsenzyme liefern, so mehr ROS verschulden und häufiger in Prostata-Krebs-Erkrankten als in Gesunden gefunden werden.

Zum anderen kurbeln mehr ROS in schon wuchernden Krebszellen das Wachstum an – und die Zellen verstärken diesen Prozess offenbar weiter, indem sie die Radikale vermehrt produzieren. Kurz: Wenn etwas wirklich seinen Ruf als Bösewicht verdient, dann die ROS und der mit ihnen einhergehende oxidative Stress in Zellen. Kein Wunder, dass viele Bekämpfer der Krankheit als Endziel anstreben, einmal die Entstehung von Radikalen zu verhindern oder bereits entstandenen ins üble Handwerk zu pfuschen.

So weit, so klar und eindeutig. Eben zu klar, um wahr zu sein, wie nicht erst Huangs Team erkannt hatte. So wirken gleich mehrere der im Augenblick erprobten viel versprechenden Medikamente gegen Tumoren durch einen zunächst gar nicht beabsichtigten Nebeneffekt, der auf den ersten Blick das Gegenteil einer nützlichen Strategie zu sein scheint: Sie senken nicht den oxidativen Stress der Zellen, sie erhöhen ihn. Offenbar ist also auch für Tumorzellen eine hohe ROS-Konzentration nicht nur von Vorteil.

Das Interesse von Huang und Co war geweckt – vielleicht könnten auch Medikamente, die gezielt die ROS-Menge in Krebszellen erhöhen, den Tumoren den Garaus machen? Die Forscher testeten die Idee mit der Chemikalie PEITC, die ohnehin schon auf dem Speisezettel der Krebsvorbeuger stand: Dem Beta-Phenylethyl-Isothiocyanat, das in Gemüsen aus der Kreuzblüterverwandtschaft enthalten ist. Paradoxerweise war es zunächst als Antioxidans angesehen worden, dessen Wirkung auf Tumorzellen auf der Blockade von ROS beruht – unter dem genauen Blick des Huang-Teams sollte es nun schlicht das Gegenteil beweisen.

Getestet wurde PEITC in einer Zelllinie, der chronisch erhöhte oxidative Stresspegel gentechnisch beigebracht worden waren. Dazu hatten die Wissenschaftler wahlweise eines von zwei bekannten Onkogenen angeknipst, Ras und Bcr-Abl, und so die Oxidase-Enzyme von Mitochondrien in Radikalausschuss produzierendes Taumeln gebracht. Das Mehr an ROS führte daraufhin, wie bei Tumorzellen, zu einer verstärkten Zellteilungsrate. Kollateralschäden durch den oxidativen Stress können die Zellen nur dann gerade noch begrenzen, wenn sie gleichzeitig alle antioxidierenden Schutzmechanismen auf vollen Touren laufen lassen – und genau in das Getriebe dieses heißlaufenden Schutzprogramms kegelten Huang und Kollegen nun das PEITC.

Die Substanz blockiert gleich zwei entscheidende Signale, erkannten die Forscher: Zum einen fängt sie das Glutathion-Molekül GSH ab, das den Zell-Befehl zur verstärkten Antioxidation weiterleitet; zum anderen hemmt sie den Rezeptor GPX, der dieses GSH-Signal im Normalfall entgegennimmt, um die Antioxidationsmaschine anzutreiben. Mit PEITC also keine verstärkten Antioxidationsbemühungen – und das hat Folgen für die veränderten Versuchszellen: Der stetig angekurbelte oxidative Stress steigert sich ins nicht mehr Beherrschbare, die Zelle überdreht und stirbt ab. Das klappt auch bei echten Tumorzellen, wiesen die Forscher sogleich nach. Und offenbar auch im lebenden Objekt: Krebskranke Mäuse überlebten länger, wenn sie mit geeigneten Mengen von PEITC behandelt werden.

Bleibt nur die Kardinalfrage – schadet das Ausknipsen des vor Antioxidation schützenden Mechanismus nicht auch ganz normalen Zellen? Anders gefragt: Ist der Einsatz von PEITC nur für Tumorzellen, nicht aber für den Restkörper tödlich? Im Versuch der Forscher scheint dies der Fall gewesen zu sein: Kontrollzellen ohne erhöhte ROS-Konzentrationen benötigten eben auch ihr Antioxidationsprogramm nicht so dringend und konnten dessen Blockade durch PEITC vertragen.

Endlich ein neuer Weg, um auch "hoch maligne Zellen mit erhöhtem oxidativen Stress zu bekämpfen, die gegenüber konventionellen Krebsmedikamenten unempfindlich sind", wie Huang meint? Lohnt zumindest die vorklinischen und alle nachfolgenden klinischen Tests, die der Forscher nun für angebracht hält. Bleibt die Hoffnung, dass sich dabei nur wenig graue Nebenwirkung in die frisch erreichte Eindeutigkeit mischt.

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