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Kristallografie: Rätselhafte Substanz

Als ein einfallsreicher Forscher im 19. Jahrhundert grüne, nadelförmige Strukturen im Hundeurin entdeckte, war er sich bestimmt nicht der weit reichenden Folgen bewusst: Rund 150 Jahre lang nutzten Chemiker seine Entdeckung - konnten sie aber nicht erklären.
Herapathit-Struktur
Auf höchst ungewöhnliche Weise hatte William Herapath 1852 das Mineral Herapathit entdeckt. Sein Assistent tropfte Jodtinktur in Hundeurin, nachdem das Tier zuvor mit Chinin gefüttert worden war. Das Ergebnis: Es bildeten sich grün funkelnde, nadelförmige Kristalle. Der englische Arzt wurde aufmerksam und untersuchte die Kristalle unter dem Mikroskop. In verschiedenen Winkeln übereinander gelegt stellten die Kristalle etwas Sonderbares mit dem Licht an, erkannte Herapath verblüfft: Manchmal waren sie transparent, überlagerten sich die Nadeln jedoch in bestimmten Winkeln, erschienen sie plötzlich schwarz.

Herapath erkannte, dass die Kristalle Licht polarisierten: Sie filterten es so, dass austretende Wellenlängen nur eine ganz bestimmte Schwingungsrichtung hatten. Das Mineral könnte bald kostspielige Polarisatoren ersetzen, vermutete der Forscher schnell – etwa den Schmuck- und Halbedelstein Turmalin und das Nicolsche Prisma, ein Prisma aus Kalkspat.

Solche Polarisatoren benutzen Optiker schon zu Zeiten Herapaths beispielsweise in der Mikroskopie. Und tatsächlich, bereits ein gutes halbes Jahrhundert später hatte sich sein Hundeurin-Kristall in vielen technischen Innovationen bewährt. Die Firma Polaroid etwa wäre ohne Herapathit unbedeutend: 1928 war es Grundlage ihres ersten erfolgreichen Produkts, einem Polarisationsfilter. Er bestand aus parallel ausgerichteten, winzigen Herapathit-Kristallen (Chininsulfatperiodid), die auf einer transparenten Polymerfolie eingebettet waren. Anwendung fand der Polarisator in Sonnenbrillen, in Filtern für die Fotografie und Mikroskopie, in Autoscheinwerfern sowie in Flugzeugfenstern, wodurch die Wirkung von blendendem Licht verringert werden sollte.

Erstaunlich genug: Zwar wurden die Eigenschaften des Kristalls demnach früh profitabel verwertet – die Grundlagen des Kristallverhaltens aber blieben mysteriös, der genaue Aufbau der Struktur unbekannt. Herapathit, soviel war klar, ist ein dichroitischer Kristall: Orientiert man ihn in die Polarisationsrichtung, so lässt er zwei verschiedene Farben durch. Sophus Jørgensen hatte 1877 immerhin schon die chemische Formel der Verbindung aufgeklärt: 4 ChininH22+ mal 3 SO42- mal 2I3- mal 6H2O. Und noch einmal 60 Jahre später hatte Charles West festgestellt, dass das Mineral "orthorhombische" Kristalle ausbildet, eine der sieben Modellformen der Kristallografie.

Jetzt endlich wollten Wissenschaftler um Bart Kahr von der University of Washington in Seattle das Geheimnis des Herapathit-Aufbaus mit modernen Methoden endgültig enträtseln. Per Röntgenkristallographie ermittelten die Chemiker zunächst die genaue Anordnung der Atome innerhalb des Kristallgitters, die für die außergewöhnlichen optischen Eigenschaften des Minerals verantwortlich sind.

Kristallstruktur von Herapathit | Die aufgereihten Iodid-Ionen (violette Kugeln) liegen etwa parallel zu der Kette von Chininmolekülen entlang der so genannten b-Achse. Die sonst vertikale b-Achse wurde hier um 90 Grad gedreht und ist horizontal abgebildet.
Orthorhombische Kristalle sind ähnlich wie ein Würfel aufgebaut, jedoch sind beim Kristall die "Kanten" (Länge, Breite und Höhe) ungleich groß. Im Herapathit bilden die Chininmoleküle stets eine Reihe entlang einer der drei räumlichen Hauptachse der würfelförmigen Kristallgrundstruktur. Ungefähr parallel dazu liegen jeweils die zwei Triiodid-Ionen (I3-). Diese Achse ist auch entscheidend für die Lichteigenschaften – besonders die an ihr entlang einstrahlenden Wellen werden absorbiert.

Im Gegensatz zu vielen anderen Kristallen enthält Herapathit kein sichtbares Chromophor, also keine einzelne chemische Gruppe, die das Licht absorbiert und dadurch die Färbung des Minerals hervorruft. Die Farbeigenschaften des Kristalls verursacht stattdessen die besondere Anordnung aller Iodid-Ionen, die mit den verlängerten Molekülketten der Hauptachse wechselwirken – ein ähnlicher Effekt wie bei der bekannten Färbung in Stärke-Iod-Komplexen. Die Elektronen der einzelnen Teilchen entlang der Kette beeinflussen sich dabei gegenseitig, und bestimmen so das Absorptionsverhalten des Herapathits und dementsprechend seine Farbigkeit. Die besonderen optischen Eigenschaften des Minerals beruhen demnach darauf, dass die Elektronen im Kristallgitter geordnet an einer Achse delokalisiert sind und sich über sie in einer Ladungswolken verteilen.

Das Rätsel des Herapathits dürfte demnach als aufgeklärt gelten, glauben Kahr und Kollegen am Ende der Analysen – endlich. Herapath, der Namensgeber des Kristalls, hätte kaum vermutet, dass dieser Erfolg bis ins nächste Jahrtausend auf sich warten lassen sollte.

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  • Quellen
Kahr, B. et al.: Herapathite. In: Science 10.1126/science.1173605, 2009.

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