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Raumfahrt: Rakete auf Abwegen?

Die Entwicklung der Ariane 6, Europas nächster Trägerrakete, kommt gut voran – zumindest aus technischer Sicht. Aber an anderer Stelle lauern große Probleme, die das Projekt noch vom Kurs abbringen könnten. Eine Analyse.
Die Trägerrakete Ariane-6 soll schwere Lasten für Europas Raumfahrt ins All bringen

Der Countdown läuft. Unerbittlich. Nur noch zwei Jahre und nicht einmal mehr zwei Monate, dann soll Europas neueste Rakete zum ersten Mal ins All donnern. Ariane 6 heißt die Neuentwicklung, und geht es nach ihren Konstrukteuren, dann wird sie am 16. Juli 2020 zum Jungfernflug aufbrechen – am 51. Jahrestag des Starts von Apollo 11, der ersten bemannten Mondlandung.

Das Jubiläum ist zwar etwas krumm, aber die Geste zählt. Die Entwicklung, die Tests und der Bau des ersten Prototyps schreiten gut voran, heißt es beim europäischen Gemeinschaftsunternehmen ArianeGroup, das für die Rakete verantwortlich ist. Man liege voll im Zeitplan. Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit: Um nach dem Testflug auch die ersten kommerziellen Raketen zu bauen, um die Ariane 6 zu vermarkten und zu verkaufen, braucht es bis spätestens Ende Juni grünes Licht aus der europäischen Politik. Das allerdings lässt – trotz mehrerer Verhandlungsrunden in den vergangenen Wochen – noch immer auf sich warten.

Europas Anschlussfähigkeit steht auf dem Spiel

Es geht um Geld, um Garantien und um gebrochene Versprechen, um mangelndes Risiko und fehlende Visionen – und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der das US-Unternehmen SpaceX versucht, mit Kampfpreisen und wiederverwertbaren Raketen die Konkurrenz aus dem Markt zu drängen. Die Ariane 6, sie droht zum politischen Sorgenkind zu werden. Für Europa steht dabei nicht weniger auf dem Spiel als der Anschluss im internationalen Raketengeschäft.

Dabei sah es in der Vergangenheit so gut aus. Europas Ariane 5, die 1996 erstmals abgehoben hatte, mauserte sich nach vielen Krisen und noch mehr Subventionen zum Marktführer bei den Satellitenstarts. Sie kann mehr als zehn Tonnen in Richtung des so genannten geostationären Orbits wuchten, jener Höhe von gut 42 000 Kilometern, in der die großen Telekommunikations- und TV-Satelliten unterwegs sind.

Abschied vom Dinosaurier unter den Raketen

Das macht die Ariane 5 allerdings gewissermaßen zum Dinosaurier unter den Raketen: Sie ist schwer, unflexibel und könnte von heute auf morgen verschwinden. Denn der Markt verändert sich. Wurden 2014 noch 29 große Satelliten für den geostationären Orbit bestellt, waren es 2017 nur noch 10. Stattdessen werden die Satelliten kompakter, zudem geht der Trend hin zu Konstellationen aus vielen kleinen Trabanten.

»Niemand schreibt SpaceX vor, einen Teil seiner Raketen in Bayern und einen in Bremen zu bauen«Alain Charmeau, ArianeGroup

Nach erbitterten Diskussionen haben sich 13 Mitgliedsstaaten der europäischen Raumfahrtagentur ESA Ende 2014 daher darauf verständigt, den Bau einer neuen Rakete in Auftrag zu geben, der Ariane 6. Dieses Mal sollte alles anders werden, alles besser: Um die Komponenten der Rakete nicht mehr – wie in Europa zuvor üblich – von vielen konkurrierenden Unternehmen bauen zu lassen, was zwangsläufig Reibungsverluste erzeugt, wurde die ArianeGroup geschaffen. Und um keine steigenden Kosten zu riskieren, wurde eine Entwicklung zum Festpreis vereinbart: 2,4 Milliarden Euro kostet die Ariane 6 den Steuerzahler. Die Industrie beteiligt sich zusätzlich mit 400 Millionen Euro und trägt das Risiko bei Verzögerungen.

Eine Ariane 5 hebt ab | Im Jahr 1996 kam erstmals die neu entwickelte Trägerrakete Ariane 5 zum Einsatz, die nicht mehr auf ihren Vorgängern Ariane 1 bis 4 aufbaute.

Verglichen mit der Vorgängerin ist die Ariane 6 deutlich flexibler. Es gibt sie in zwei Varianten: als Ariane 62 mit zwei so genannten Feststoffboostern, die wie überdimensionale, seitlich montierte Silvesterraketen zusätzlichen Schub verleihen. Oder für die schweren Fälle mit vier Boostern als Ariane 64.

Da sich die Oberstufe der Rakete, die fürs Aussetzen der Nutzlast verantwortlich ist, nun wiederholt zünden lässt, kann die Ariane mehrere Satelliten mitnehmen und in unterschiedlichen Bahnen platzieren. All das soll die Kosten eines Starts um 40 Prozent drücken. »Das Projekt kommt sehr gut voran«, betont ArianeGroup-Chef Alain Charmeau. »Wir beschäftigen uns längst nicht mehr mit Papierkram, sondern bauen und testen die ersten Komponenten.«

Es hakt auf politischer Ebene

Dafür hakt es auf politischer Ebene: Allen Beteuerungen einer möglichst schlanken, reibungsfreien Organisation zum Trotz setzte Deutschland 2014 durch, dass die Hälfte der Boostergehäuse – eigentlich eine italienische Spezialität – in Augsburg gefertigt wird. Doch die Deutschen, so ist zu hören, bekamen die delikate Kohlefasertechnologie nicht in den Griff, und die Italiener taten alles, um daran nichts zu ändern. Um das Projekt zu retten, wird die Boosterproduktion nun komplett nach Italien verlegt. Im Gegenzug darf Deutschland Sauerstoffpumpen bauen und bekommt einen Entwicklungsauftrag für eine neuartige, deutlich leichtere Oberstufe – ausgerechnet aus Kohlefasern.

Immerhin: Mitte Mai konnten sich die ESA-Staaten auf die Neuvergabe der Aufträge einigen, nachdem dies zuvor an der fehlenden Zustimmung des Wirtschaftsausschusses im Bundestag gescheitert war. Andere Knackpunkte sind nicht so weit: Um 2014 überhaupt ausreichend Geld für den Start der Entwicklung zusammenkratzen zu können, musste auf die obligatorische Planungsreserve verzichtet werden. Die ist aber unabdingbar, um eventuelle Preissteigerungen abzufangen. Von einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag ist die Rede.

Verzweifeltes Warten auf das politische Okay

»Im Prinzip wird die Planungsreserve von den Staaten unterstützt«, sagt Daniel Neuenschwander, ESA-Direktor für den Bereich Raketen. Dennoch ist die Entscheidung zuletzt immer wieder vertagt worden. Beim nächsten Treffen Mitte Juni 2018 soll nun die Finanzierung beschlossen werden, wie auch bei anderen noch immer offenen Punkten. Die Zeit drängt. »Wir brauchen das unbedingt bis Ende Juni, sonst haben wir ein substantielles Problem«, so Neuenschwander. Denn ohne das politische Okay kann die ArianeGroup ihre Raketen weder bauen noch vermarkten. »Die Industrie ist bereit, die Produktion des Prototyps läuft bereits«, stellt Alain Charmeau fest. »Doch ohne einen Vertrag müsste ich die Fabrik schlimmstenfalls dichtmachen.«

»Immer nur die altbekannten Ansätze zu verfolgen, ist kostspielig und letztlich wenig überzeugend«Johann-Dietrich Wörner, ESA-Direktor

Vor und hinter den politischen Kulissen tobt derweil ein ganz anderer Kampf. Um garantiert auf ihre Kosten zu kommen, verlangt die Industrie, dass ihr europäische Institutionen wie die ESA, die Europäische Kommission oder Länder wie Deutschland und Frankreich über sechs Jahre hinweg jeweils fünf Raketen abkaufen – für so genannte institutionelle Starts. Nur so könne die ArianeGroup im internationalen Wettbewerb mithalten, unterstreicht Charmeau: »Schaut man in Richtung USA, dann haben wir hier keine fairen Bedingungen.« Amerikanische Regierungseinrichtungen würden ihre Missionen ausschließlich mit amerikanischen Raketen starten, und das zu offenbar großzügigen Preisen.

SpaceX bietet in Europa Kampfpreise an

SpaceX, so wird berichtet, knüpft der NASA für die gleiche Rakete 100 Millionen Dollar ab, die auf dem europäischen Markt für 50 Millionen Dollar verscherbelt wird – und für die sich offenbar Abnehmer finden: Da für Europas Regierungen günstige Preise wichtiger sind als Patriotismus, startet die Bundeswehr ihre nächsten drei Aufklärungssatelliten namens SARah zum Beispiel mit SpaceX. Auch der BND hat für einen Späher namens Georg angeblich ein Dumpingangebot aus Kalifornien vorliegen. »Es ist schade, um nicht zu sagen ein Fehler, dass unsere Raumfahrtorganisationen keinen institutionellen Markt koordinieren können – und das für eine Trägerrakete, deren Entwicklung sie selbst bezahlen«, bedauert Charmeau.

Synchronlandung | Die beiden Booster von SpaceXs Falcon-Heavy-Rakete landen nach dem Start am 6. Februar 2018 unbeschadet nahe der Startrampe in Cape Canaveral – für viele Beobachter ein Moment, der in die Raumfahrtgeschichte eingehen wird.

Die Abnahmegarantie sei 2014 sogar Geschäftsgrundlage für den Entwicklungsauftrag gewesen, heißt es bei den Raketenbauern. Bei Daniel Neuenschwander, dem ESA-Raketen-Direktor, klingt das anders: »Die Markteinführung ist Vertragsbestandteil der Industrie.« Immerhin: Als »öffentliche Beteiligung an der Lernkurve« sollen sieben der ersten 14 Ariane-6-Raketen für institutionelle Missionen gebucht werden. Fest vereinbart, abgesegnet und unterschrieben ist aber auch das noch nicht. Und nach 2023 soll es gar keine Garantien mehr geben.

Europa träumt von einem hiesigen SpaceX

Die Situation ist verfahren. Sie ist geprägt von unrealistischen Erwartungen auf der einen Seite und fehlender Risikobereitschaft auf der anderen: Die europäischen Regierungen träumen von einem europäischen SpaceX, das sich nach einer Anschubfinanzierung nicht nur selbst trägt, sondern ihnen auch preisgünstige Raketen baut. Nur: So funktioniert Europa nicht, schon allein wegen eines der Grundprinzipien der ESA. Das Geld, das die Staaten in ein gemeinsames Projekt stecken, muss stets im gleichen Verhältnis durch Industrieaufträge zurück in die jeweiligen Länder fließen, wo es dann weiterverteilt wird. »Niemand schreibt SpaceX vor, einen Teil seiner Raketen in Bayern und einen in Bremen zu bauen, einen in Flandern und einen in der Wallonie«, sagt Charmeau. »Wenn Europa das so will, muss es auch die finanziellen Konsequenzen tragen.«

Die ArianeGroup beharrt ihrerseits darauf, den angepeilten Preisvorteil der Ariane 6 in Höhe von 40 Prozent nur dann zu erreichen, wenn die Rakete auch in großen Stückzahlen geordert wird. Doch statt nun zu versuchen, neue Märkte zu erschließen oder Projekte anzustoßen, für die solche Starts benötigt werden, zieht sich die Industrie darauf zurück, dass sie ihren Teil ja geleistet habe: durch eine neue Firmenstruktur und 400 Millionen Euro aus eigener Tasche. Und statt die Wiederverwendbarkeit der Rakete massiv voranzutreiben, dadurch auf lange Sicht billiger zu werden und so neue Aufträge zu generieren, heißt es: Bei elf oder zwölf Starts pro Jahr, die bislang der Maßstab sind, lohne sich das doch eh nicht.

Unternehmerisches Risiko oder gar Innovation sieht anders aus. »Immer nur die altbekannten Ansätze zu verfolgen, ist kostspielig und letztlich wenig überzeugend«, kritisiert ESA-Chef Johann-Dietrich Wörner in seinem Blog. Neue Lösungen würden dringend benötigt, darunter – ein beliebtes Schlagwort aus dem Silicon Valley – disruptive Ideen.

Europa fehlt eine klare Vision

Stattdessen wird in Europa nach dem Staat gerufen. Doch SpaceX ist nicht deshalb so erfolgreich, weil das Unternehmen viele NASA-Dollar bekommt – die Finanzspritzen haben Firmenchef Elon Musk in der Vergangenheit lediglich davor bewahrt, selbst Geld vorstrecken zu müssen oder andere Investoren zu finden. SpaceX ist erfolgreich, weil es Risiken eingeht, weil es sich und seine Raketen ständig neu erfindet, vor allem aber, weil es eine klare Vision hat.

Bei Musk lautet diese: Die Menschheit soll eine interplanetare Spezies werden und alsbald den Mars besiedeln. Man mag darüber schmunzeln (was in Europa gerne getan wird). Aber genau das treibt SpaceX an. Und was ist die Vision der ESA? Ein beherztes »Weiter so«?

Statt sich auf solche Diskussionen einzulassen, spielt Alain Charmeau bewusst eine andere Karte: »Es geht doch im Grunde gar nicht um Wiederverwendbarkeit oder Konkurrenz zu SpaceX«, urteilt der ArianeGroup-Chef. »Es geht um die Frage: Will sich Europa einen eigenen Zugang zum Weltraum leisten?« Charmeaus Antwort ist klar: Gerade in politisch weniger stabilen Zeiten dürfe man sich bei kritischen Raumfahrtprojekten wie der Navigation und der Telekommunikation nicht von anderen Staaten abhängig machen.

»Wenn Europa das genauso sieht, dann finden wir auch eine Lösung«, sagt Charmeau. Die lautet dann, zumindest in den Augen der Industrie: Europäische Raketen sind so wichtig, dass sie gerne auch etwas mehr kosten dürfen. Es ist keine Vision. Aber es ist immerhin ehrlich.

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