Intelligenz: Denken Sie rational?

Rationale Menschen gelten als berechnend, emotionslos, gefühlskalt – so jedenfalls das Klischee. Keine sympathischen Eigenschaften, verglichen etwa mit Empathie und Einfühlungsvermögen, gibt der Rationalitätsforscher Markus Knauff von der Universität Gießen zu. Er wendet aber gleich ein: »Rationales Denken kann helfen, gute Ziele zu erreichen, zum Beispiel, andere nicht durch eine unüberlegte Bemerkung zu verletzen.« Rational denken, das heißt: vernünftig entscheiden, um die gewünschten Ziele zu erreichen. Und das braucht es dringend, um die großen Probleme unserer Zeit zu lösen, wie den Klimawandel, Kriege und die Risiken künstlicher Intelligenz. Doch wie genau macht man das eigentlich: rational denken?
Rationalität ist ein höchst vielschichtiges psychologisches Konzept. Eine Person gilt beispielsweise als rational, wenn sie vernünftige Gründe für ihre Ansichten und Entscheidungen hat, wenn sie aus Fakten die richtigen Schlüsse zieht oder so handelt, dass sie ihre Ziele effizient erreicht. »Rationalität ist nie Selbstzweck«, sagt Knauff. »Sie dient immer dazu, Ziele, Wünsche, Vorstellungen oder Ideale zu verfolgen.«
Ein Trend der vergangenen Jahrzehnte prägt die psychologische Rationalitätsforschung bis heute: Zahlreiche Experimente wollen nachgewiesen haben, dass Menschen im Grunde eher irrational denken und handeln. Regelmäßig und systematisch verletzten Versuchspersonen darin gängige Rationalitätsnormen. Die Forschenden erklären das mit Denkfehlern; in der Fachsprache nennt man so eine kognitive Verzerrung auch »Bias«.
Bei entsprechenden Studien bekommen die Versuchspersonen beispielsweise folgende Logikaufgabe vorgelegt: »Jack blickt auf Anne und Anne blickt auf George.« Wir wissen über Jack, dass er verheiratet ist, George dagegen ist ledig – Annes Beziehungsstatus kennen wir nicht. Die Frage lautet: »Blickt eine verheiratete Person auf eine unverheiratete Person?« Die Antwortoptionen: ja, nein oder »ist damit nicht zu beantworten«.
Scheint einfach, oder? Da wir nicht wissen, ob Anne verheiratet ist, können wir die Antwort wohl nicht wissen. So dachten jedenfalls 86 Prozent der Teilnehmenden einer Studie aus dem Jahr 2002 – und irrten damit kollektiv. Auf die richtige Lösung kommt nur, wer sich die Mühe macht, alle Eventualitäten zu berücksichtigen: Denn entweder ist Anne verheiratet und blickt somit auf den unverheirateten George. Oder Anne ist unverheiratet; in diesem Fall blickt der verheiratete Jack auf die unverheiratete Anne. Die Frage, ob eine verheiratete Person auf eine unverheiratete blickt, hätte man demnach mit Ja beantworten müssen. Diese Antwort gaben jedoch nur 13 Prozent der Probandinnen und Probanden.
Zur Erklärung dieser und ähnlicher Denkfehler ziehen Psychologen häufig so genannte Zwei-Prozess-Theorien heran, denen zufolge das Denken im Kern durch zwei verschiedene Systeme gesteuert wird. Als Standard fungiert dabei das schnellere »System 1«: Prozesse laufen hier automatisch und unbewusst ab, und zwar möglichst einfach, um geistige Anstrengung zu vermeiden. Faustregeln und mentale Abkürzungen (Heuristiken) führen so innerhalb des Systems 1 zu einer schnellen, oft ausreichenden Antwort – aber eben nicht immer zur richtigen.
Um eine Antwort, die intuitiv richtig anmutet, als falsch zu entlarven, muss demnach »System 2« eingreifen, das langsamer agiert und weitgehend bewusst gesteuert wird. Dadurch führt es zu rationaleren Antworten – im obigen Beispiel etwa zur richtigen Ja-Antwort – , erfordert jedoch auch höheren kognitiven Aufwand. Populär wurde diese Unterscheidung der zwei Systeme spätestens mit dem Erscheinen des Buchs »Schnelles Denken, langsames Denken« des inzwischen verstorbenen israelisch-US-amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman, der 2002 für seine Forschung den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt.
Das Linda-Problem
In einigen Experimenten verwendeten Kahneman und sein langjähriger Kollege Amos Tversky das so genannte Linda-Problem. Sie legten ihren Versuchspersonen zunächst einen Text über die fiktive »Linda« vor, eine 31 Jahre alte, kluge Singlefrau, die sich während ihres Philosophiestudiums eingehend mit sozialer Ungerechtigkeit beschäftigt und gegen Atomkraft demonstriert hat. Die Frage: Ist es wahrscheinlicher, dass Linda als Bankkassiererin arbeitet – oder dass sie als Bankkassiererin arbeitet und sich in der feministischen Bewegung engagiert?
Laut Wahrscheinlichkeitstheorie kann der zweite Fall nicht mit einer größeren Wahrscheinlichkeit eintreten als der erste, denn der zweite ist eine Teilmenge des ersten. Anders gesagt: Wenn Linda eine feministische Kassiererin ist, ist sie stets auch eine Kassiererin. Doch diese »Konjunktionsregel« wurde von den meisten Versuchspersonen in Kahnemans und Tverskys Studien missachtet. Sie hielten es für wahrscheinlicher, dass Linda mit feministischer Gesinnung kassiert – ein Beispiel für das »schnelle«, unreflektierte Denken.
Inzwischen setzt sich unter Psychologinnen und Psychologen allerdings vermehrt die Meinung durch, dass Zwei-Prozess-Theorien ein allzu simples Bild unserer mentalen Prozesse zeichnen. Sogar Psychologen, die einmal selbst eine solche Theorie entwickelt haben, erkennen mittlerweile an, dass die Vorstellung zweier getrennter Denksysteme zumindest irreführend ist, da sich die Systeme in Wirklichkeit aus einer Vielzahl unterschiedlicher, teils überlappender Prozesse zusammensetzen. Angesichts der Vielfalt kognitiver Entscheidungsprozesse sei eine so große Vereinfachung fast fahrlässig, findet der Psychologe Ralph Hertwig, der den Forschungsbereich »Adaptive Rationalität« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin leitet. »Erst wenn wir die kognitiven Prozesse präziser beschreiben, können wir Menschen dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
Vernunft ist nicht immer logisch
Und auch die Experimente in Tradition von Kahneman und Tversky stehen in der Kritik. »Die meisten experimentellen Paradigmen zwängen Versuchspersonen in ein Korsett, das sie zu Antworten verleitet, die dann als irrational bezeichnet werden«, sagt Markus Knauff. Deshalb entwickelte er gemeinsam mit seiner Kollegin Lupita Estefania Gazzo Castañeda zwei Studien, die den Probanden mehr Spielraum ließen: Anstatt eine von mehreren vorgegebenen Antwortmöglichkeiten auszuwählen, durften die Teilnehmenden ihre Antworten hier frei aufschreiben. Sie bekamen stets eine Regel präsentiert, etwa: »Wenn eine Person Sport macht, dann verliert sie Gewicht.« Im Anschluss sollten sie annehmen, dass eine konkrete Person Sport macht – wird sie Gewicht verlieren?
Bei einer rein logischen Betrachtung der Regel muss man hier schlussfolgern: Die Person wird Gewicht verlieren. Lehnten Versuchspersonen diesen Schluss hingegen ab, begründeten sie ihre Antwort oft mit konkreten Gegenbeispielen: Es könne sein, dass jemand nur unregelmäßig Sport mache, viel und ungesund esse oder dass er viele schwere Muskeln aufbaue. In diesen Fällen sei es absolut vernünftig, dass die Antworten gegen die Regeln der Logik verstoßen, meint Knauff.
»Es gibt keine universalen Kriterien für vernünftiges Verhalten«Ralph Hertwig, Psychologe und Kognitionsforscher
Was also ist die richtige Messlatte, um das menschliche Denken auf Rationalität zu prüfen? Klassischerweise werden die Regeln der Logik, der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Entscheidungstheorie oder der Spieltheorie herangezogen. »Aber es gibt keine universalen Kriterien für vernünftiges Verhalten«, so Hertwig. Vielmehr seien vernünftiges und erfolgreiches Verhalten sehr häufig in der Situation begründet.
Während logische Konsistenz für die Arbeit eines Juristen vielleicht ein zentrales Kriterium darstellt, ist es bei Feuerwehrleuten und Piloten womöglich viel wichtiger, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Politiker und Eltern hingegen sollten ihr Verhalten möglichst transparent begründen – denn eine Entscheidung, die auf Transparenz beruht, werde mitunter selbst dann noch akzeptiert, wenn der Ausgang nicht vollkommen fair ist, erklärt Hertwig.
Die Take-the-Best-Strategie
Hertwig gehört zu den Vertretern eines ökologischen Rationalitätsansatzes, der ein sehr viel positiveres Bild von Heuristiken vermittelt als ehemals das Modell von Kahneman und Tversky. Galten Heuristiken traditionell als potenzielle Fehlerquelle, so stellen sie hier sparsame, adaptive Entscheidungsregeln dar, die durchaus auch zu rationalen Ergebnissen führen können, insbesondere unter Zeitdruck oder wenn es an Informationen oder Verarbeitungskapazitäten mangelt.
Eine dieser Entscheidungsregeln ist die sogenannte »Take the Best«-Heuristik. Sie kann zum Beispiel helfen einzuschätzen, welche von zwei Städten die größere ist. Kennt man nur eine der beiden – womöglich Wuppertal, aber nicht Oppenau – , sollte man stets die bekannte wählen. Für den Fall, dass einem beide Städte bekannt sind – etwa Darmstadt und Chemnitz – , muss man auf etwaiges Wissen über die Städte zurückgreifen, beispielsweise Merkmale, die etwas über die Größe einer Stadt verraten. Ist eine der beiden Städte Landeshauptstadt? Da das nicht der Fall ist, heißt es weitersuchen: Hat eine der Städte ein einstelliges Autokennzeichen? Das könnte ein Hinweis sein: Tatsächlich besteht das Kfz-Kennzeichen von Chemnitz nur aus dem Buchstaben »C«, im Gegensatz zum Darmstädter Kürzel »DA«. Man könnte deshalb vermuten, dass Chemnitz größer ist – in diesem Fall die richtige Entscheidung!
»Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Verstand und weniger Bauchgefühl«Markus Knauff, Psychologe und Kognitionswissenschaftler
Simulationsstudien konnten zeigen, dass die Take-the-Best-Strategie in gewissen Situationen ähnlich gute oder sogar bessere Vorhersagen macht als eine rechenaufwendige statistische Regression: zum Beispiel beim Abschätzen, welche von zwei US-Städten die höhere Obdachlosenquote hat oder welches von zwei Fischweibchen mehr Eier legt. Auch Markus Knauff erkennt an, dass Heuristiken wie die Take-the-Best-Strategie häufig hilfreich sein können, er warnt jedoch, sie würde Vorurteilen und Stereotypen ähneln. Auch diese seien durch Vereinfachung und Weglassen von Informationen gekennzeichnet. Knauff plädiert daher für mehr Verstand und weniger Bauchgefühl: »Häufig ist es nützlich, sich um weitere Informationen und ein differenzierteres Bild zu bemühen und erst auf dieser Grundlage eine Entscheidung zu treffen.«
Dieses Vorgehen gehört auch zu einer der Strategien, die ein Team um Hertwigs Doktorandin Shahar Hechtlinger zusammengetragen hat. In einem 2024 erschienenen Forschungsartikel untersuchte das Team systematisch die großen Entscheidungen im Leben, die einen Menschen nachhaltig verändern können, etwa in ein anderes Land auszuwandern oder Kinder zu bekommen. In solchen Fällen können, je nach Art des Entscheidungsproblems, verschiedene Strategien weiterhelfen. Scheut man beispielsweise vor einer Entscheidung zurück, weil sie sich nicht wieder rückgängig machen lässt, passt die »Testing the Waters«-Strategie: erst mal probeweise einen Fuß ins Wasser halten und zum Beispiel die Kinder der großen Schwester hüten. Wenn man erwägt, den Job zu wechseln, aber befürchtet, es eines Tages zu bereuen, dann kann es hilfreich sein, mit Menschen zu sprechen, die einen gut kennen und einschätzen können oder die eigene Erfahrungen mit beruflichen Veränderungen haben.
Wer sich vor allem fragt, ob er eine Entscheidung später womöglich anders bewerten wird, dem könnte auch ein Gedankenexperiment helfen: Wie sehr würde es das zukünftige Selbst bereuen, sich gegen etwas entschieden zu haben, also eine Chance verpasst zu haben? Diese Frage soll sich auch der Unternehmer Jeff Bezos vor der Gründung von Amazon gestellt haben. Bezos war klar, sein 80 Jahre altes Alter Ego würde es bereuen, die Firmenidee nicht verfolgt zu haben. Bei der Unternehmensgründung gescheitert zu sein, hätte er an seinem Lebensende hingegen kaum bedauert.
Intelligent, aber nicht rational
Noch eine weitere Erkenntnis setzt sich in der Psychologie allmählich durch: Rationales Denken und Entscheiden sind klar von Intelligenz zu unterscheiden. »Es ist möglich, ein schlauer und zugleich ein sehr unvernünftiger Mensch zu sein«, weiß der Psychologe Tobias Richter von der Universität Würzburg. Das belegen auch Studien aus dem Forschungsteam des US-amerikanischen Psychologen Keith Stanovich: Zum Beispiel fiel es intelligenten Menschen ähnlich schwer wie weniger intelligenten, die richtige Antwort auf das eingangs erwähnte Unverheirateten-Problem zu finden. Dem Linda-Problem unterlagen Studierende mit hoher Punktzahl im SAT, einem Studierfähigkeitstest, sogar etwas häufiger als solche mit niedriger Punktzahl. Bei anderen kognitiven Verzerrungen zeigte sich dagegen das umgekehrte Muster, also ein Intelligenzvorteil. Insgesamt scheint Intelligenz in niedrigem bis mittlerem Ausmaß mit rationaler Denkfähigkeit zusammenzuhängen.
Stanovich hielt es deshalb für notwendig, zwischen dem Vermögen, rational zu denken, und der Tendenz, dies auch wirklich zu tun, zu unterscheiden. Nur Ersteres deckt sich demnach mit den klassischen Vorstellungen von Intelligenz; dagegen soll die Veranlagung, rationale Denkprozesse einzuleiten, weitgehend unabhängig von Intelligenz sein. Wer rational denken will, braucht also beides – die Befähigung dazu und eine gewisse Neigung zu kognitiver Reflexion.
»Es ist möglich, ein schlauer und zugleich ein sehr unvernünftiger Mensch zu sein«Tobias Richter, Psychologe
An diesem Rationalitätsmodell orientierte sich auch Richter, der gemeinsam mit seiner Doktorandin Johanna Grimm die Rolle von rationalem Denken an Hochschulen erforscht. Zuletzt fanden die beiden Psychologen Belege dafür, dass ein höheres rationales Denkvermögen mit besseren Noten im Studium einhergeht, selbst wenn man statistisch die Intelligenz der Teilnehmenden kontrolliert. Offenbar trug rationales Denken also zu einem Teil des Erfolgs bei – einem Teil, der nicht durch Intelligenz erklärbar ist. Basierend auf weiteren Analysen betrachten Richter und Grimm rationales Denken als eine zeitlich relativ stabile, allgemeine kognitive Fähigkeit. Trotzdem lasse sich rationale Denkfähigkeit isoliert trainieren, sagt Richter, etwa durch konkrete Übungsaufgaben oder Tipps wie dem, sich beim Urteilen Zeit zu lassen.
Da sich Menschen in ihrem Ausmaß an rationalem Denkvermögen zu unterscheiden scheinen, arbeiten Keith Stanovich und seine Kollegen an einem Rationalitätsquotienten, einem »RQ«, angelehnt an den IQ, den Intelligenzquotienten. Grimm und Richter halten es für eine sinnvolle Idee, die Rationalitätsforschung auf diese Weise in die Praxis zu bringen: »Ein Rationalitätsquotient könnte eine gute Ergänzung zur Intelligenzdiagnostik sein, ohne sie dabei zu ersetzen«, sagt Grimm.
Ob sich Menschen in Zukunft tatsächlich auf ihren RQ testen lassen werden, hängt wohl auch davon ab, ob Forschende einen praktikablen Test dafür entwickeln. Um den Prototyp von Stanovich und seinem Team zu bewältigen, braucht es derzeit noch mehr als zwei Stunden. Und längst nicht alle begeistert die Idee: Ralph Hertwig findet es weder informativ noch hilfreich, die vielen Dimensionen von Rationalität auf eine einzige Zahl zu reduzieren. »Ich bin mir sicher, dass jede Person Lebensbereiche hat, in denen sie sich besonders rational und erfolgreich verhält, und andere Bereiche, in denen sie weniger rational und erfolgreich handelt.« Er hält eine andere Frage für drängender: wann Menschen rational handeln – und unter welchen Bedingungen ihnen das nicht gelingt.
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