Ratten im Wattenmeer: Die Halligen könnten überrannt werden

Das Erste, an das sich Benjamin Gnep erinnert, ist die Stille. »Normalerweise tobt das pralle Leben, wenn man im Frühling auf die Hallig kommt – überall flitzen fiepende Vogelküken herum und ihre Eltern schleppen laut rufend Futter heran.« Als der Ornithologe der Schutzstation Wattenmeer im Frühjahr 2019 zur Kontrolle auf die Hallig Hooge kam, empfing ihn dagegen buchstäblich ein »stummer Frühling«.
Der Grund dafür zeigte sich auf den Videos der Kameras, die die Vogelschützer an den Nestern von Austernfischern, Seeschwalben und Säbelschnäblern aufgestellt hatten, die in den Wiesen der Hallig auf dem Boden brüten: Wanderratten hatten bei nächtlichen Angriffen so gut wie alle Gelege der Vögel zerstört. Eier, frisch geschlüpfte Jungvögel und sogar einige brütende Vogeleltern – aufgefressen von den Nagetieren. Die Saison wurde zur Katastrophe für den Artenschutz. »Der Bruterfolg lag fast bei null«, sagt Gnep.
Der Siegeszug der Wanderratten setzt weltweit die Artenvielfalt von Inseln unter Druck. Seit jenem Tag vor sechs Jahren ist klar, dass er nun auch das Wattenmeer erreicht hat. Die Nager haben Reptilien, Amphibien und Vögel auf allen Kontinenten in Bedrängnis oder gar zum Aussterben gebracht, nun könnten die Seeschwalben, Regenpfeifer und Austernfischer des Nationalparks Wattenmeer zu ihren nächsten Opfern werden. Denn was 2019 auf Hooge geschah, blieb keine Ausnahme. In jeder einzelnen Brutsaison seitdem zählten Fachleute in den ungeschützt auf dem Boden angesiedelten Küstenvogelkolonien Verluste durch Rattenattacken, wenn auch in jeweils unterschiedlichem Ausmaß. Betroffen waren neben Halligen und Inseln auch die ökologisch besonders wertvollen, weil von Menschen so gut wie unberührten Außensände.
Das hat inzwischen gravierende Folgen für die Populationen der dort lebenden Vögel. Brüteten vor 2019 beispielsweise noch bis zu 600 Paare der in Deutschland vom Aussterben bedrohten Küstenseeschwalbe auf Hooge, waren es zwischenzeitlich nur noch rund 120 Paare – ein Einbruch um 80 Prozent, ausgelöst durch die Ratten. Auch Austernfischer, Säbelschnäbler und Zwergseeschwalben schaffen es in den letzten Jahren nicht mehr, ausreichend Jungvögel aufzuziehen, um die Population stabil zu halten. »Die Ratten sind eine akute und existenzielle Bedrohung für die Küstenvögel auf den Inseln und Halligen«, sagt Gnep.
Wo kommen plötzlich die Ratten her?
Dabei sind Ratten auf den Inseln an sich kein neues Phänomen. Für die Einheimischen ist die gelegentliche Anwesenheit der Tiere keine Neuigkeit. Was die Frage aufwirft: Wie konnte das Problem innerhalb weniger Jahre derart hochkochen? Warum wird ein Tier, das auf den Inseln nie richtig Fuß fassen konnte, mit einem Mal zur existenziellen Gefahr für die Vögel des Wattenmeeres?
Bei der Suche nach einer Erklärung sind Fachleute auf deutliche Hinweise gestoßen, was die Ursache für den Umschwung sein könnte. Charleen Hillebrand, die auf Hooge für ihre Masterarbeit in Biologie am Rattenproblem geforscht hat, sieht im Klimawandel einen Teil der Antwort. Immer mildere und eisfreie Winter machten es den Nagern leichter, in großer Zahl zu überleben und frühzeitig mit der Reproduktion zu beginnen, vermutet sie. Auch die in den vergangenen Jahren seltener aufgetretenen großen Landunter im Winter könnten das Überleben der Nager erleichtert haben. Ob es auch eine Folge des Klimawandels ist, dass die Halligen nicht mehr so häufig überschwemmt werden, ist noch ungeklärt. »Fest steht, die Ratten ertrinken und erfrieren nicht mehr«, sagt der Biologe Veit Hennig, der an der Universität Hamburg über das Ökosystem Wattenmeer und seine Vögel forscht. Die veränderten Bedingungen verschafften den ohnehin extrem fortpflanzungsfreudigen Nagern zusätzliche Brutperioden. Bis zu sechsmal im Jahr bekommen Ratten nun Nachwuchs, der schon im Alter von wenigen Wochen seinerseits damit beginnt, sich fortzupflanzen.
Eine weitere womöglich zentrale Ursache für das Rattenproblem im Wattenmeer sieht Hennig auf Hooges Nachbarinsel Pellworm. Dort wird seit einigen Jahren im großen Stil Mais angebaut, um eine Biogasanlage zu füttern. »Der Mais bietet den Ratten paradiesische Lebensbedingungen«, sagt der Biologe. Auf der Basis von Zählungen auf Probeflächen hat er mit seinen Studierenden ermittelt, dass allein im Grünland der Insel mehr als 30 000 Ratten leben. Hinzu kämen große Bestände in den Maissilos. »Auf einem einzigen Foto haben wir dort 130 Wanderratten gezählt«, berichtet Hennig. Wenn im Herbst der Mais nach der Ernte auf der Insel knapp wird, zieht es die Nager ins Watt, wo sie Muscheln und Schnecken fressen. Bei Niedrigwasser sind es für sie dann nur noch wenige hundert Meter, die sie schwimmend zu überwinden haben, um auf die Halligen oder auf die Sände zu gelangen. Ihren Weg zu den Vögeln finden die Ratten Studien zufolge mit Hilfe ihres guten Geruchssinns. Die Hinterlassenschaften von Möwen und Seeschwalben in ihren Kolonien weisen ihnen eine kaum zu verfehlende Duftspur.
Die letzten Vogelhochburgen Deutschlands wanken
Ökologisch besonders schwerwiegend ist das Rattenproblem, weil die Inseln, Sandbänke und Halligen bisher als letzte sichere Rückzugsräume für die Seevögel an den Küsten Dänemarks, Deutschlands und der Niederlande galten.
Denn auf dem Festland sind entlang der Küste fast alle Vogelkolonien erloschen. Zu viele Füchse, Marderhunde und andere Räuber leben dort. »Ich rechne nicht damit, dass wir am Festland größere Brutbestände von Küstenvögeln erhalten können«, sagt der langjährige Leiter des Wattenmeerbüros der Umweltschutzorganisation WWF Hans-Ulrich Rösner. »Es wird entscheidend sein, ob wir es schaffen, die Inseln und Halligen so weit wie irgendwie möglich frei von Prädatoren zu halten.«
Wie wichtig die Halligen und Inseln als Überlebensraum vieler vom Aussterben bedrohten Vogelarten sind, zeigt eine gemeinsame Analyse aller drei Wattenmeer-Anrainerländer. Experten aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden haben ermittelt, dass inzwischen 75 Prozent aller im Wattenmeer brütenden Vögel ihren Nachwuchs auf den Eilanden großziehen. Sollten diese Bastionen nun durch die Ratten wackeln, wird es für viele Vogelarten, die in Deutschland vom Aussterben bedroht sind, sehr eng. In manchen Jahren brütet beispielsweise mehr als die Hälfte aller Zwergseeschwalben Deutschlands auf der kleinen Sandinsel Japsand vor Hooge. Auf der benachbarten Hallig Norderoog zieht jede zweite der ebenfalls vom Aussterben bedrohten Brandseeschwalben Deutschlands ihre Küken groß. Schon eine einzelne Ratte kann innerhalb weniger Nächte eine ganze Vogelkolonie auslöschen, wie Bilder aus Überwachungskameras und Beobachtungen zeigen. Vor einem einzigen Rattenbau fand Vogelschützer Gnep die Überreste von zwei Dutzend Vögeln, dazu zahlreiche Eierschalen.
Marder, Füchse und Igel machen ebenfalls Probleme
Auch auf den größeren Inseln kämpfen Naturschützer und Behörden gegen Ratten und andere Tiere, die natürlicherweise dort nicht leben. Nicht immer müssen eingeschleppte Arten von anderen Kontinenten stammen, um Probleme zu bereiten. Füchse, Marder und sogar Igel sind eine ebenso große Gefahr. Das liegt daran, dass Halligen und Inseln natürlicherweise frei von Säugetieren sind, die auf dem Festland vorkommen. Entsprechend wenig haben sich die auf dem Boden brütenden Küstenvögel in ihrer Evolution auf diese Gefahr einrichten müssen. Auf Norderney machten bei der Kaninchenjagd entlaufene Frettchen lange Zeit den Vögeln das Leben schwer, auf Borkum waren es verwilderte Katzen, und auf Wangerooge mussten mit viel Aufwand von Menschen auf die Insel gebrachte Igel eingefangen und zur Freilassung auf das Festland verfrachtet werden. Sogar Igelspürhunde wurden eingesetzt. »Wir kämpfen bei der Prädation an vielen Fronten«, sagt der Chef des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer Peter Südbeck.
Die Vogelschützer im deutschen, dänischen und niederländischen Wattenmeer stehen in ihrem Kampf gegen Wanderratten nicht allein. Überall auf der Erde versuchen Naturschützer gegen den Vormarsch der Nager anzukommen. Der Weltbiodiversitätsrat zählt die ursprünglich aus Asien stammenden und mit der Schifffahrt in alle Welt verschleppten Nager gemeinsam mit anderen invasiven Arten zu den Top-fünf-Ursachen des Artensterbens auf der Erde – in einer Reihe mit Naturzerstörung durch Menschen und dem Klimawandel. Das Wissenschaftsmagazin »Science« sieht die Menschheit sogar in einem »globalen Krieg gegen die Inselratten«. Auf weit über 600 Inseln wurden bislang Programme zur Ausrottung von Ratten unternommen. Die gute Nachricht: Immerhin fast 90 Prozent davon verliefen erfolgreich.
Das aufwändigste Projekt fand auf der kargen, schneereichen Südatlantikinsel Südgeorgien statt. Über Jahre hinweg wurden dort hunderte Tonnen Giftköder aus Hubschraubern abgeworfen, um das einmalige antarktische Ökosystem von den wahrscheinlich auf Touristen- oder Forscherbooten eingeschleppten Nagern zu befreien. In Neuseeland hat die Regierung sich auf die Fahnen geschrieben, die Ratte bis 2050 auszurotten. Sie will so den Kakapo retten, eine flugunfähige Vogelart, die von den Eindringlingen an den Rand der Existenz gedrängt wurde. Und auf La Reunion im Indischen Ozean führen französische Naturschützer seit mehr als einem Jahrzehnt einen Kampf gegen die Nager, um das Überleben des Newton-Raupenfängers zu sichern. Der Tuit-Tuit, wie er im einheimischen Kreolisch genannt wird, ist mit nur noch rund 50 Tieren eine der seltensten Vogelarten der Erde. »Würden wir heute mit der Rattenbekämpfung aufhören, wäre die Art verloren«, sagt Projektkoordinator Damien Fouillot. »Der Tuit-Tuit soll nicht dasselbe Schicksal erleiden wie der Dodo.« Der berühmte Vogel starb 1860 auf der Nachbarinsel Mauritius aus. Heute ist er das wohl bekannteste Beispiel für eine Tierart, die durch menschlichen Einfluss ausgerottet wurde.
Erfolge durch Rattenfallen
Ganz so schlimm wie um Tuit-Tuit, Kakapo oder gar den Dodo steht es um die Vögel des Wattenmeeres noch nicht. Aber auch hier ist der Kampf gegen die Ratten ein Rennen gegen die Zeit, wie die dramatischen Bestandseinbrüche innerhalb weniger Jahre belegen. »Das Problem ist zumindest auf den Inseln immer noch lösbar«, zeigt sich Nationalparkchef Südbeck überzeugt. »Allerdings mit einem riesigen Aufwand.« Den betreiben auch Benjamin Gnep und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Schutzstation Wattenmeer auf Hooge.
Um mehr über das Verhalten der Ratten herauszufinden, haben die Naturschützer dutzende Wildtierkameras aufgestellt. Ein Video dokumentiert, wie ein einziger Austernfischer beim Versuch, sein Nest zu schützen, mehr als 30-mal von einer Ratte attackiert wird, bis sie endlich von ihm ablässt. Andere Vögel, die Nest oder Junge verteidigen, haben weniger Glück. Besonders hilflos sind Seeschwalben. Von den seltenen Vögeln werden häufig das brütende Elterntier und die Eier erbeutet.
Um gegenzusteuern, haben die Naturschützer im Rahmen eines Pilotprojekts auch 150 automatische Fallen installiert. Die Geräte locken die Ratten mit einer Art Schokocreme an und töten sie per Bolzenstoß ins Genick – eine gegenüber gängigen Giftködern tierschutzgerechte und umweltverträgliche Lösung, entwickelt im rattengeplagten Neuseeland.
Schon über 1200 Ratten wurden seit ihrer Installation im Winter 2022 in den Fallen getötet. Doch der Kampf ist damit noch lange nicht gewonnen. Denn während die isolierten Ozeaninseln frei von Nagern gehalten werden können, rücken auf die Eilande der Nordsee immer wieder neue Ratten nach.
In der laufenden Brutsaison 2025 zeigt das Fallenpilotprojekt bisher unübersehbar Wirkung. Anders als auf der Nachbarhallig Langeneß wurde in den vergangenen Wochen auf Hooge noch keine einzige Vogelbrut Opfer von Ratten. Statt erbitterter nächtlicher Kämpfe um Leben und Tod haben die Nestkameras bisher nur fröhlich piepende Vogelküken aufgezeichnet.
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