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Wahrnehmung: Rechnen ohne Zahlen

Viele Grundschüler tun sich schwer damit, Rechnen zu lernen. Dementsprechend heftig wird diskutiert, mit welcher Methode Lehrer den Kleinen die abstrakte Welt der Zahlen näher bringen sollen. Womit sich die grundlegende Frage stellt: Welche Vorstellung von Zahlen haben Kinder im Vorschulalter überhaupt?
Mathetest
"Eins, zwei, drei, sechs, acht, neun, zehn" – stolz strahlt Lena ihre Mutter an. So ganz fehlerlos klappt das Zählen bei der Vierjährigen noch nicht, sie wiederholt die Zahlwörter eher wie auswendig gelernte Vokabeln. Dass sie bald fünf Jahre alt wird, weiß sie aber ganz genau – und auch, dass das eins mehr ist als ihr Alter jetzt. Kann die Kleine also schon rechnen, obwohl ihr das abstrakte Zahlenkonzept noch unbekannt ist?

Eine Frage, die nicht nur Mathelehrer in der Grundschule und Schulbuchredakteure bewegt – schließlich sollen sie den Kindern beibringen, dass drei Äpfel plus vier Birnen nicht einfach nur Obstsalat ergeben. Um kompliziertere Additionen auszuführen, ist Sprache und eine Grundkenntnis der Regeln natürlich vonnöten. Aber in zahlreichen Experimenten zeigten schon Affen und noch nicht der Sprache mächtige Kleinkinder, dass sie zumindest im kleinen Zahlenraum bis drei oder vier exakte Vorstellungen von Mengen haben. Bei umfangreicheren Proben verlieren sie zwar an Genauigkeit, doch können sie immer noch besser als zufällig Begriffe zuordnen und Mengen vergleichen.

Rechnen? Kein Problem | Auf einem Bildschirm führten die Wissenschaftlerinnen den kleinen Probanden zunächst eine Gruppe blauer Punkte vor, die dann von einem Balken verdeckt wurden. Anschließend gab es einen roten Punkteregen. Danach sollten die Kinder entscheiden, welche Punktegruppe umfangreicher war.
Nur – was leitet sie? Ist es wirklich das Konzept, dass einzelne Objekte eine Summe bilden, oder sehen sie eher den großen Haufen, für den das Einzelteil keine Rolle mehr spielt? Und was passiert, wenn sie verschiedene Sinne einsetzen müssen? Hilary Barth von der Harvard-Universität und ihre Kolleginnen baten Fünfjährige an den Computerbildschirm, um ihnen bei des Rätsels Lösung zu helfen. Sie präsentierten ihren kleinen Probanden eine gute Sekunde lang eine Sammlung blauer Punkte – zu viele, um sie in dieser Zeit wirklich zu zählen –, ließen diese dann hinter einem Balken verschwinden und zeigten als nächstes rote Punkte. Dann sollten die Kinder sagen, welche Punktmenge größer war. Im nächsten Schritt kamen die blauen Punkte in zwei Portionen hintereinander, und dann folgte erst die rote Menge. Und wieder sollten die Kleinen einschätzen, wovon sie nun mehr gesehen hatten – eine Addition war also fällig.

Auch mit Tönen lässt sich hantieren | Auch über verschiedene Sinne hinweg zeigten die Kleinen ein gewisses Grundrechnen: Sollten sie die Anzahl von Punkten und gehörten Tönen vergleichen, lagen sie in den Ergebnissen besser als der Zufall.
Keine der beiden Aufgaben war ein Problem: In der überwiegenden Anzahl der Fälle lagen die Kinder mit ihren Antworten richtig. Ebenso souverän schnitten sie ab, als sie als Vergleichsmenge keine roten Punkte auf dem Bildschirm zu sehen bekamen, sondern eine bestimmte Zahl von Tönen hörten: Wieder lag die Trefferquote weit über dem Zufall. Es zeigte sich nur in allen Aufgaben die leichte Tendenz, dass die Fünfjährigen umso unsicherer wurden, je näher die absoluten Zahlen der zu vergleichenden Teilmengen beieinander lagen.

Dann aber gingen die Wissenschaftlerinnen zu reinen Zahlen über und schilderten den Kleinen die Aufgaben, beispielsweise als: "Wenn dir deine Mutter zwei Marshmallows gegeben hat und dann noch einmal zwei, hast du dann eher vier oder acht in der Hand?" Eine realistische Frage, wie aus dem Leben gegriffen – entsprechend sicher kamen die richtigen Antworten. Im unrealistischen Bereich jedoch, als die Mengen schon ganze Paketgrößen umfassten, versagte die Rechenkunst der Kleinen denn doch. Ob 33 oder 58 Marshmallows, das war offenbar einfach zu unwirklich.

Die Symbolik von Zahlen ist Vorschulkindern also wohl noch nicht im Ganzen bewusst. Statt riesiger, abstrakter Zifferngebilde brauchen sie schon nicht zu viele, handfeste Objekte wie Punkte oder Töne, wenn sie mit Mengen hantieren sollen. Dabei spielt es nur eine geringe Rolle, ob beispielsweise entsprechend mehr Objekte auch eine größere Fläche einnehmen – dies hatten die Forscherinnen in den Experimenten überprüft.

Dass Äpfel und Birnen mehr als Obstsalat ergeben, lernen Kinder demnach auch ohne Mathematik-Unterricht: Das Konzept "Zahl" und das Prinzip der Addition kennen sie lange vor den Symbolen und Zahlwörtern. Die Herausforderung für Schulbuch-Autoren und Lehrer bleibt daher, den Kleinen den bekanntermaßen schwierigen Sprung in die abstrakte Welt der Zahlen zu erleichtern. Vielleicht gelingt es ihnen, die mathematische Intuition der Kinder besser auszunutzen.

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