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Interview: Reise durch den Urknall

Wer fragt, was vor dem Urknall war, wird von den meisten Physikern belächelt. Schließlich entstanden vor schätzungsweise 13,7 Millarden Jahren überhaupt erst Zeit und Raum - ein "davor" macht damit also keinen Sinn. Martin Bojowald hat da allerdings eine andere Theorie.
spektrumdirekt: Herr Bojowald, wir haben den Urknall im Lauf der Jahre als "Anfang von Allem" akzeptiert – auch wenn er noch so unvorstellbar sein mag. Sie stellen die moderne Schöpfungsgeschichte nun in Frage. Warum?

Martin Bojowald: Die meisten Physiker hatten immer Probleme mit dieser Anfangsinterpretation. Dennoch wurde sie populär gemacht und ist sicherlich auch ein interessantes Bild. Aber die mathematischen Gleichungen, aus denen man angeblich diese Konsequenz ziehen kann, machen am Urknall selbst auf einmal keinen Sinn mehr: Es ergeben sich Dinge wie unendlich große Dichten oder unendlich hohe Temperaturen. Die Physik würde an diesem Punkt zusammenbrechen – damit liegt aber auch seine Interpretation außerhalb der Theorie. Die Aufgabe war, das jetztige Modell zu erweitern, so dass es zwar immer noch das gleiche Expansionsverhalten nach dem Urknall beschreibt, am Urknall selbst aber nicht zusammenbricht. Mit der Quantengravitation wurde das möglich.

spektrumdirekt: Und wie sieht nun Ihre Alternative aus?

Bojowald: Die Theorie, die ich verwende, ist die so genannte Schleifenquantengravitation, die in den frühen 1990er Jahren entwickelt wurde. Die Theorie ist mathematisch ziemlich kompliziert, da man ja die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik kombinieren muss. Physikalisch ist das Bild dabei, dass man nicht mehr von einer kontinuierlichen Raumzeit ausgeht – wie das Gummituch, das oft als Bild dafür dient. Wegen der Quanteneigenschaften ist die Raumzeit selbst aus diskreten Bausteinen, einer Art Raumzeitatomen, aufgebaut. Auf großen Skalen sind sie nicht bemerkbar, bei kleinen Größen und hohen Dichten wirken sie sich aber entscheidend aus.

spektrumdirekt: Was hätte das denn für Konsequenzen für den Urknall? Gibt es ihn noch?

Martin Bojowald | Der deutsche Physiker Martin Bojowald (geboren 1973) forscht derzeit an der Pennsylvania State University in den USA.
Bojowald: Das Urknallmodell – als weit reichenderes Bild – bleibt im Wesentlichen unangetastet. Denn darunter versteht man nicht nur das, was sich in der allgemeinen Relativitätstheorie als Singularität ergibt, sondern auch die Phase danach, die immer noch sehr dicht ist, aber nicht unendlich dicht. Die Urknallsingularität selbst kann aber zumindest in den Modellen, die wir bisher untersucht haben, automatisch verhindert werden, indem man den diskreten Aufbau der Raumzeit mit in Betracht zieht.

spektrumdirekt: Und was tritt an Stelle der Singularität?

Bojowald: In der allgemeinen Relativitätstheorie ziehen sich zwei Massen immer an. Abstoßungskräfte, wie etwa zwischen zwei gleichnamigen Ladungen, treten dort klassischerweise nicht auf. Die atomare Struktur kann die Gravitationskraft allerdings ändern und insbesondere auch zu abstoßenden Kräften führen. Man kann sich das wie einen Schwamm vorstellen, der zwar Wasser aufnehmen kann, aber nicht beliebig viel. Wenn auch der Raum atomar aufgebaut ist, kann er Energie aufnehmen, aber die Menge ist begrenzt. Dem unendlichen Anwachsen der Energie und insbesondere der Energiedichte, wie man es in der allgemeinen Relativitätstheorie hätte, wird dann in Form von Abstoßungskräften entgegengewirkt. In der rückwärtigen Entwicklung würde es also nicht auf einen einzigen Punkt kollabieren, wie es klassisch der Fall wäre, sondern es gibt eine minimale Ausdehnung, die sehr klein ist, aber nicht null, und wo die Energiedichten sehr hoch sind, aber nicht unendlich. An dieser Stelle würde das Universum von der Kraft praktisch zurückgestoßen und in eine andere Phase vor dem Urknall übergehen.

spektrumdirekt: Es gab also noch eine Zeit vor dem Urknall?

Bojowald: Ja, in diesem Bild gäbe es tatsächlich eine Zeit vor dem Urknall. Das Universum hätte vorher eine kollabierende Phase gehabt – es wäre also nicht ausdehnend wie wir es derzeit beobachten. Stattdessen verminderte sich seine Größe im Lauf der Zeit, womit die Dichte stieg und letztlich zu diesen starken Abstoßungskräften führte. Die Dichte muss dafür natürlich sehr hoch sein – es ist fast unvorstellbar: Sie entspricht etwa einer Billion Sonnenmassen, die auf der Größe eines einzelnen Proton konzentriert sind. Immerhin ist sie nicht unendlich, das heißt, die mathematischen Gleichungen, die wir benutzen, funktionieren immer noch. Sie können damit weiter extrapoliert werden, um zu schauen, wie das Universum vor dem Urknall ausgesehen haben könnte.

spektrumdirekt: Wie genau sind solche Blicke in das "alte" Universum?

Bojowald: Nun, die Gleichungen sind nicht sehr genau, weil noch einige unbekannte Parameter darin sind, die man noch bestimmen muss – entweder durch Beobachtungen des derzeitigen Universums oder durch genauere Rechnungen. Aber zumindest die groben Eigenschaften können extrapoliert werden. Und man kann einige, wenn auch nicht viele, Eigenschaften des Universums vor dem Urknall erahnen.

spektrumdirekt: Letztlich ist das – zumindest bis jetzt – nichts weiter als mathematische Spielerei. Wie zuverlässig sind die Ergebnisse?

Bojowald: Die Rechnungen sind sehr stark durch Konsistenzbedingungen eingeschränkt. Allein die Kombination von allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie, die wir zunächst einmal mathematisch durchzuführen versuchen, ist so kompliziert, dass es einfach gar nicht viele Möglichkeiten gibt. Wenn man eine umfassende Theorie hat – und derzeit haben wir keine, von der man sagen kann, dass sie die endgültige Theorie der Quantengravitation ist – sind doch viele Eigenschaften bekannt, die auf Grund von Konsistenzbedingungen so sein sollten, wie wir es momentan in den Gleichungen sehen. Und darauf stützen wir uns.
Es ist natürlich immer schwierig, zu sagen, wie genau man sich auf jedes Detail verlassen sollte. Aber die hauptsächlichen Effekte, also zum Beispiel, dass es zu einem abstoßenden Verhalten der Kraft kommt und dass die Dichte nicht unendlich groß gewesen sein kann, das sind Eigenschaften, die man schon auf Grund von allgemeineren Konstruktionen mittlerweile gesehen hat. Aber am Ende ist es natürlich richtig, dass die Rechtfertigung nur von Beobachtungen kommen kann, selbst wenn diese indirekt sind.

spektrumdirekt: Was könnte das zum Beispiel sein?

Der Planck-Satellit | Die Planck-Mission wird gemeinsam mit dem Weltraumteleskop Herschel mit einer Ariane-5-Rakete gestartet. Planck soll die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung mit bisher unerreichter Präzision kartieren.
Bojowald: Es sind im Wesentlichen kosmologische Beobachtungen. Zurzeit gibt es ja schon sehr genaue Aufnahmen der Mikrowellenhintergrundstrahlung, die aus einer Zeit einige hunderttausend Jahre nach dem Urknall kommt, als es für das Licht erstmals möglich wurde, das Universum ungehindert zu durchdringen. Obwohl diese Phase ziemlich lange nach dem dichtesten Umkehrpunkt auftrat, könnten immer noch kleine Spuren darin zu finden sein – insbesondere in Form von Abweichungen gegenüber dem Verhalten, das man auf Grund der rein klassischen Theorie erwarten würde. Die Rechnungen und auch die Beobachtungen müssen noch genauer werden, aber im Prinzip gibt es diese Testmöglichkeiten.

spektrumdirekt: Können Sie abschätzen, wie lange ein möglicher Nachweis dauern wird?

Bojowald: Das ist schwer zu sagen. Es gibt viele Satellitenmissionen, die derzeit in Planung sind. Zum Beispiel der Planck-Satellit, der bald starten soll und auch in einigen Jahren die ersten Ergebnisse liefern wird. Und das wird die derzeitige Datenlage noch viel genauer machen. Man kann schlecht abschätzen, ob es damit schon zu beobachtbaren Konsequenzen kommen sollte.
Eine weitere Größenordnung in der Genauigkeit und vor allem der Zeit, die man zurückblicken kann, käme dann hoffentlich in einigen Jahrzehnten mit Gravitationswellendetektoren, die kleine Schwingungen in der Raumzeit selbst aufnehmen. Anders als Licht können diese Wellen aus weit früheren Zeiten der Urknallphase zu uns vordringen. Wenn es einmal möglich wird, das genaue Spektrum der Gravitationswellen aufzuzeichnen, dann sollten wir die Modelle, die wir derzeit über das frühe Universum machen, sehr viel konkreter machen können.

spektrumdirekt: Sie sind also zuversichtlich im Lauf Ihres Lebens noch zu erfahren, ob Sie Recht haben?

Bojowald: Ich denke schon, dass man zumindest sehr stichhaltige Test erwarten kann in absehbarer Zeit. Und dann könnte sich die Theorie durchaus als falsch erweisen, wenn die Abweichungen von der klassischen Gravitation zu stark sind.

spektrumdirekt: Wie läuft so eine Rechnung überhaupt ab?

Bojowald: Die Hauptarbeit ist eigentlich nicht die eigentliche Rechnung, sondern die Gleichungen aufzustellen und herzuleiten, mit denen man dann die Rechnungen durchführt. Das Problem ist ja, dass die Theorie nicht vollkommen vorliegt. Es ist also nicht so, wie zum Beispiel in der Quantenmechanik, wo strikt geregelt ist, welche Art von Gleichung man für ein bestimmtes Problem benutzen muss. Die Quantengravitation wird aber gerade erst entwickelt. Man muss zunächst überlegen, wie man die Gleichungen eigentlich zu benutzen hat. Das kann sich in manchen Fällen über Jahre hinziehen, bis der entscheidende Einfall kommt. Die Lösung ist dann meist gar nicht mehr so schwierig – in den einfacheren Fällen gibt es Standardmethoden, und der Computer rechnet für einen.

spektrumdirekt: Sind Sie der Erste, dem eine Reise durch den Urknall gelungen ist?

Urknall als Zwischenstadium | Nach bisheriger Auffassung entstanden Zeit, Raum und Materie erst im Urknall, womit sich die Frage nach dem davor erübrigt, denn das gab es schlichtweg nicht. In manchen modernen Theorien stellt der Big Bang hingegen nur ein Zwischenstadium dar – einen Übergang von einem vorherigen zum uns bekannten Universum. So erscheint auch die alte Frage in ganz neuem Licht.
Bojowald: Schon in den 1930er Jahren gab es oszillierende Weltbilder, in denen angenommen wurde, dass das Universum irgendwie durch den Urknall hindurchkäme – das war immer mal wieder populär. Als das Urknallmodell etabliert wurde, vor allem die Expansion des Universums, wurde allerdings weniger Wert auf die Phase vor dem Urknall gelegt. Doch in den 1970er, und intensiver in den 1990er Jahren wurden unterschiedliche Modelle zu diesen oszillierenden Universen aufgestellt. Das Erste, was mit der Schleifenquantengravitation möglich wurde, die ich ja benutze, ist eine wirklich komplette Entwicklung – zumindest im Modellsystem – des Universums durch den Urknall hindurch. Vorher hatte man die Unendlichkeit nicht wirklich verhindern können.

spektrumdirekt: Wie haben Sie es geschafft?

Bojowald: Der Zufall hat sicher eine große Rolle gespielt. Ich habe mir kosmologische Modelle angesehen und versucht, sie mathematisch zu vereinfachen. Auch hier war der längste Teil der Arbeit, die Gleichungen verlässlich aufzustellen. Rund zwei Jahre hat es gedauert, bis ich beginnen konnte, sie zu lösen.
Mit den Lösungen stellte sich dann heraus, dass es das Bild des Universums vor dem Urknall gab, was ich wirklich nicht erwartet hatte. Ich hatte ja keine Annahmen in die Gleichungen gesteckt, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Vielmehr ergab es sich fast zwangsläufig aus den Rechnungen. Das ist meiner Ansicht nach ein wichtiger Gesichtspunkt für die Verlässlichkeit der Resultate: Wenn man auf eine gewisse Eigenschaft abzielt, kann man selten vermeiden, irgendwelche Vorurteile hineinzustecken.
In dem Fall war das Ziel eigentlich ein ganz anderes, vielleicht bescheidener: Ich wollte die Theorie mathematisch testen und dann ergab sich physikalisch diese Konsequenz – zunächst in sehr einfachen Modellen, mit der Zeit dann auch in komplexeren.

spektrumdirekt: Haben sie Ihren Ergebnissen getraut?

Bojowald: Ich habe sie zunächst mal für eine Kuriosität gehalten. Wenn man mit vereinfachten Modellen startet, wie es damals der Fall war, ist nie auszuschließen, ob die Resultate vielleicht eine Konsequenz der starken Vereinfachung sind. Erst als realistischere Modelle untersucht wurden und diese Eigenschaften immer noch auftraten, wurde klar, dass man es als verlässlich ansehen konnte.

spektrumdirekt: Eigentlich ist theoretische Physik alles andere als publikumswirksam. Wie erklären Sie sich, dass das im Fall der Kosmologie nicht zu gelten scheint?

Bojowald: Nun, es ist sicher schwierig, das alles im Detail zu verstehen, selbst für Leute, die jahrelang daran forschen. Aber die Bilder, die man daraus entwickelt, können nach einiger Zeit doch so vereinfacht werden – also auf das Wesentliche reduziert werden –, dass man sie ohne zu viel Vorbildung zumindest einsehen und erahnen kann, welche Konsequenzen sich ergeben. In meinem Fall wäre das zum Beispiel die Reduktion auf die abstoßende Kraft. Dadurch wird alles viel intuitiver, und es fällt leichter Weltbilder herzuleiten, aber auch sie zu vermitteln. Denn wenn das einmal gelungen ist, muss man sich keine Gedanken mehr machen über die quantenmechanische Wellenfunktion, die das ganze Universum beschreiben würde. Das wäre sicherlich viel zu kompliziert.

spektrumdirekt: Herr Bojowald, vielen Dank für das Gespräch.

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