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Chronobiologie: Rentiere am Polarkreis stellen innere Uhr anders

Rentier
Eine innere Uhr hat sich bei Lebewesen auf der Erde bewährt: Sie bereitet den Körper sinnvoll auf die üblichen rhythmischen Tag- und Nachtwechsel vor und erlaubt so, die Stoffwechselaktivitäten mit dem Wechsel von hell zu dunkel sinnvoll zu synchronisieren. Das macht aber nur Sinn, wenn im Lebensumfeld eines Organismus tatsächlich ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus vorherrscht, meinen nun Andrew Loudon von der University of Manchester und seine Kollegen – und eben deshalb würden die alljährlich in winterlicher Dauerdunkelheit am Polarkreis lebenden Rentiere auf den üblichen inneren Tageszeitgeber verzichten.

Das Team belegte dies mit Messungen der Melatoninkonzentration in Rentieren (Rangifer tarandus), die sie einem alle 2,5 Stunden wechselnden Licht-Dunkel-Rhythmus unterzogen. In Säugetieren wie auch dem Menschen wird Melatonin normalerweise unter der Kontrolle der inneren Uhr jeden späten Nachmittag vermehrt ausgeschüttet – der Hormonanstieg bereitet den Körper zum Beispiel beim Menschen physiologisch darauf vor, bald ins Bett zu gehen und einzuschlafen. Die Rentiere im Experiment produzierten dagegen im Versuch immer sofort Melatonin im Dunkeln und stoppten die Produktion im Hellen nach 2,5 Stunden sogleich wieder. Offenbar reguliert also ausschließlich der Lichtwechsel die Hormonproduktion, ohne dass ein übergeordneter, zirkadianer 24-Stunden-Tagestaktgeber dies kontrolliert. Mäuse im selben Versuch würden dagegen auch bei ständigem Lichtwechsel weiter alle rund 12 Stunden, in einer von der inneren Uhr angenommenen "Nacht", Melatonin produzieren.

Verantwortlich für den Ausfall der inneren Uhr der Rentiere sind offenbar die zwei Uhrenproteine Bmal1 und Per2, deren rhythmische Oszillation normalerweise den Takt der Zellen bestimmt. Anders als bei anderen Säugetieren geben diese beiden Proteine in den Rentieren keinen geregelten zirkadianen Rhytmus vor, belegten die Wissenschaftler mit Gentransferexperimenten.

Dass nur Lichtwechsel die Melatoninmenge beeinflusst, passt auch zu Beobachtungen der Rentiere in ihrem natürlichen Lebensraum. Denn anders als andere Tiere zeigen sie kaum an einen 24-Stunden-Takt angepasste Verhaltensmuster – mit zwei auffälligen Ausnahmen: in den Wochen um die Tag-und-Nacht-Gleiche in den hohen Breiten, an denen nicht die lange winterliche Polarnacht oder der sommerliche Polartag andauert, sondern sich heller Tag und dunkle Nacht abwechseln. Dies führe nun auch im Rentier zu zyklisch abwechselnden Melatoninkonzentrationen im Körper; und diese Phase der Hormonschwankung könnte den Startschuss für einen langfristigen saisonalen Zyklus geben und Basis einer "zirkaannualen Uhr" sein, die zum Beispiel die jährliche Paarungszeit festlegt, vermuten Loudon und Kollegen.

Die innere Uhr fast aller Säugetiere wird von zwei unabhängigen Systemen eingestellt: den Uhrenproteinen im suprachiasmatischen Nucleus des Hypothalamus – der eigentlichen inneren Uhr – und bestimmten Fotopigmenten, die die Umgebungshelligkeit wahrnehmen und den 24-Stunden-Rhythmus wo nötig feinjustieren. So können Informationen der Fotopigmente im Falle eines Falles – etwa nach einer Reise eines Menschen über mehrere Zeitzonen – die innere Uhr darüber informieren, den Beginn des 24-Stunden-Zyklus dezent herauszuzögern oder zu beschleunigen. Bei Rentieren – und vielleicht anderen Tieren des Polarkreises – funktioniert offenbar nur dieses zweite System. (jo)

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  • Quellen
Lu, W. et al.: A Circadian Clock Is Not Required in an Arctic Mammal. In: Current Biology 0.1016/j.cub.2010.01.042, 2010.

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