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News: Rentiere halten sich nicht an Regeln

Wenn es kalt wird, haben große Tiere es leichter als kleine. Aufgrund des besseren Oberflächen-Volumen-Verhältnisses verlieren sie weniger Wärmeenergie an die Umgebung. Folglich sind arktische Tiere größer. Diese Bergmannsche Regel ist jedem Biologen wohl bekannt. Nur scheinen die Rentiere vor einigen Zehntausenden Jahren noch nichts davon gewußt zu haben. Zumindest haben sie sich nicht strikt danach gerichtet.
Wer das Leben der Rentiere erforschen möchte, begibt sich mit Kamera und Notizblock nach Finnland oder Kanada. Schwieriger ist dies, wenn die Rentiere in der letzten Eiszeit lebten und vor 10 000 oder gar 100 000 Jahren gestorben sind. Jacobo Weinstock-Arenovitz vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart blieben zur Erforschung der eiszeitlichen Rentiere nur kistenweise alte Knochen. Für seine Dissertation am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen hat der Archäozoologe kürzlich den ersten Romina-Förderpreis erhalten.

Etwa 10 000 Rentierknochen hat Weinstock-Arenovitz vermessen, um die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf den Knochenbau von größeren Säugetieren im Jungpleistozän zu erforschen. Das Klima schwankte damals, 130 000 bis 10 000 Jahren vor der heutigen Zeit, zwischen Kalt- und Warmzeiten. Rentiere waren zu dieser Zeit über weite Teile von Europa verbreitet. "Die Rentiere im Jungpleistozän eignen sich besonders gut als Forschungsobjekte, weil sie von den prähistorischen Menschen gejagt wurden und an einzelnen Fundstellen zahlreiche Knochen als Abfälle zurückblieben", sagt Weinstock-Arenovitz. Daher lassen sich mit Untersuchungen an eiszeitlichen Rentieren auch Aussagen über die Geschichte unserer menschlichen Vorfahren treffen.

Bis nach Spanien und Frankreich, England und in die Schweiz ist der Rentierforscher gereist, um die in Sammlungen und Museen vorhandenen Knochen aus unterschiedlichen Gebieten Europas zu untersuchen. An großen Fundstellen lagerten bis zu 1 800 Rentierknochen. "Es ist wichtig, bei vielen Überresten von einem Ort Länge, Dicke und Tiefe zu messen, wenn man statistische Vergleiche über die durchschnittliche Körpergröße unter verschiedenen Bedingungen anstellen will. Denn in einer Population gibt es stets große und kleine, dicke und dünne Tiere", erläutert der Rentierforscher. Hinzu komme, daß bei den Rentieren Bullen und Kühe stark unterschiedlich groß sind, die männlichen Tiere sind auch in den heutigen Herden teilweise um die Hälfte schwerer als die weiblichen. Nicht jeder Knochen verrät, ob er zu einer Rentierkuh oder einem männlichen Jungtier gehörte.

Als Standard für seine Messungen an Rentierknochen hat Weinstock-Arenovitz eine Fundstelle in Schleswig-Holstein gewählt, Stellmoor in der Nähe von Hamburg. Vor 10 000 Jahren gab es dort ein enges Tal, das mit dem Schmelzwasser von Gletschern gefüllt war. "Die Rentiere haben den See bei ihren Wanderungen durchquert und wurden von den prähistorischen Menschen gejagt", erzählt Weinstock-Arenovitz. 20 000 Rentierknochen blieben im See zurück und wurden in dem feuchten Boden über die Jahrtausende gut konserviert, so daß Weinstock-Arenovitz aus den Körpergrößen zahlreicher Rentiere einen Durchschnitt errechnen konnte. Diese "Standardrentiere" dienten ihm als Bezugsgrößen, um die Rentiere aus anderen Gebieten bei unterschiedlichem Klima zu vergleichen.

"Die Klimadaten zu den verschiedenen Knochenfundstellen sind zum Teil aus anderen Untersuchungen bekannt, aber auch die Knochen selbst verraten einiges über das Klima", erklärt Weinstock-Arenovitz. Parallel zu seinen Messungen untersuchte daher die Urgeschichtlerin Dr. Elisabeth Stephan vom Institut für Mineralogie, Petrologie und Geochemie die Zusammensetzung der Rentierknochen, wofür ihr jeweils ein Gramm Knochenmaterial genügte. Die Verteilung unterschiedlich schwerer Sauerstoffatome im Knochen läßt Rückschlüsse auf die Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit zu Lebzeiten des Rentiers zu.

Die Ergebnisse der Knochenmessungen klingen zunächst wenig spektakulär: "Die kleinsten Tiere lebten vor 18 000 Jahren in Südwestfrankreich in einer kalten Eiszeitperiode. Generell waren die Rentierkühe in Norddeutschland, Großbritannien und Belgien deutlich größer als in Süddeutschland, der Schweiz und Südfrankreich, bei den Bullen waren die Größenunterschiede zwischen Nord und Süd dagegen nur gering", faßt Weinstock-Arenovitz zusammen. Doch stellt dieses Ergebnis eine zentrale Regel der Zoologie in Frage, die sogenannte Bergmannsche Regel. Nach herrschender Lehrmeinung sollten bei verwandten Tieren oder innerhalb einer Tierart größere Tiere in kälterem Klima begünstigt sein und dort häufiger vorkommen. Diese Regel baut auf der Überlegung auf, daß der Stoffwechsel und die Wärmeproduktion bei Tieren mit Zunahme der Körpergröße im Verhältnis zur Körperoberfläche viel stärker steigen. Da die Wärmeabgabe aber nur von der Körperoberfläche abhängt, haben größere Tiere in kaltem Klima Vorteile. Die Bergmannsche Regel läßt sich bei heutigen Arten an Pinguinen zeigen: Die metergroßen Kaiserpinguine kommen in der Antarktis vor, die mit 50 Zentimetern nur halb so großen Galapagos-Pinguine leben in der Nähe des Äquators.

Welche Schlüsse zieht Weinstock-Arenovitz aus seinen Forschungsergebnissen? Der Wissenschaftler vermutet, daß die Größenunterschiede der Tiere nicht, wie in der Bergmannschen Regel angenommen, durch Anpassungen an die Temperatur zustande kommen, sondern daß das Klima nur indirekt Einfluß auf die Körpergröße der Tiere nimmt. "Mit unterschiedlichen Temperaturen und wechselnder Luftfeuchtigkeit ändert sich die Vegetation und daher auch die Art und Menge der Nahrung für die Rentiere, dies ist entscheidend für die Körpergröße", erklärt Weinstock-Arenovitz. Er zieht Vergleiche zu heute lebenden Rentieren, die vor allem im Sommer wachsen, wenn die Nahrung proteinreich ist. "Wenn bei heutigen Rentieren in Norwegen die Nahrung knapp wird, erreichen die Rentierkühe nur eine Mindestgröße und investieren die Energie dann in den Nachwuchs. Sie selbst wachsen nur weiter, wenn die Nahrung nach der Jungenaufzucht üppig ist", erklärt Weinstock-Arenovitz. Im Norden war das Nahrungsangebot im Jungpleistozän offenbar günstiger für Rentiere. Bullen und Kühe fressen prinzipiell das gleiche – vor allem Flechten. Doch müssen sich die Bullen bei Kämpfen untereinander beweisen, schwere und große Tiere haben dann Vorteile. Während die Körpergröße bei Rentierkühen keine große Rolle spielt, ist sie bei den Bullen durch die Selektion über Kämpfe entscheidend.

Aber die alten Rentierknochen geben noch mehr her. Ganz nebenbei hat Weinstock-Arenovitz einiges über die Menschen zu dieser Zeit herausgefunden. "Bei den Knochenfunden in Stellmoor war die Verteilung von alten und jungen Rentieren, von Bullen und Kühen gleich wie in einer heutigen Herde", erläutert Weinstock-Arenovitz. Der Forscher zieht daraus den Schluß, daß die prähistorischen Menschen vor 10 000 Jahren, die Nachfolger der Neandertaler, bei der Jagd mit Pfeil und Bogen nicht selektiv vorgegangen sind: Alles was ihnen vor die Pfeile kam, wurde erlegt. "Die Menschen lebten bei Stellmoor im Überfluß, denn sie haben die Knochen nur selten aufgeschlagen, um an das Knochenmark zu kommen. Dagegen haben die Menschen auf der Schwäbischen Alb alles Eßbare verwertet", gibt Weinstock-Arenovitz Einblick in das Leben früherer Menschen. Ob die prähistorischen Menschen auf die Körpergröße ihrer Jagdbeute geachtet haben, ist nicht überliefert. Bei ihnen waren jedenfalls große Geweihe von Rentierbullen begehrt, weil sich daraus am besten Werkzeuge herstellen ließen.

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