Böse Eltern: »Manche fügen ihren Kindern Schaden zu«

Frau Hanfstingl, es gibt zahlreiche Definitionen von Resilienz. Was verstehen Sie darunter?
Ich sehe Menschen dann als resilient an, wenn sie auch schwierige Lagen bewältigen und dabei weitgehend gesund bleiben. Manche würden von sich nicht einmal sagen, dass sie sich in einer belastenden Situation befinden. Auch auf körperlicher Ebene zeigen sie eine geringere Stressreaktion – etwa im Cortisolspiegel – und erholen sich zudem rascher wieder: Die Werte kehren in den Normalzustand zurück. Das ist für mich die verlässlichste Definition, weil sie messbar ist.
Das klingt recht biologisch. Spielen psychologische Faktoren ebenfalls eine Rolle?
Natürlich. Ganz wesentlich ist, wie jemand mit Emotionen umgeht. Menschen, die gelernt haben, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und zu regulieren, reagieren adäquater auf sie und kommen leichter wieder zur Ruhe. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die sogenannte interozeptive Kompetenz. Das ist ein Maß dafür, wie gut ich den Zustand meines Körpers spüre. Wer merkt, wann er eine Pause braucht, wann etwas zu viel wird, kann rechtzeitig reagieren. Ich glaube, wir unterschätzen stark, wie eng Körper und Psyche zusammenhängen. Beides ist letztlich eins.
Das klingt nach einer Form von Selbstfürsorge. Liegt darin die Stärke resilienter Menschen?
Resilienz bedeutet nicht, keine Bedürfnisse zu haben oder alles auszuhalten, sondern im Gegenteil: zu wissen, was man braucht, und gut mit sich umzugehen. Manche verwechseln Resilienz mit Abhärtung oder Bedürfnislosigkeit. Das ist ein Missverständnis. Wobei es auch diese Idee gibt, etwa im Buddhismus. Dort heißt es, man müsse Bedürfnisse loslassen und überwinden, um ins Nirwana zu kommen. In der Psychologie sehen wir das etwas anders. Hier gilt Bedürfnislosigkeit nicht unbedingt als Zeichen von Stärke. Es geht um etwas anderes: Bedürfnisse wahrzunehmen und sie auf eine Weise zu befriedigen, die einem guttut und anderen nicht schadet.
Entsteht diese Fähigkeit in der Kindheit?
Ein Kind lernt im Idealfall, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden. Wenn es zum Beispiel weint und die Bezugsperson feinfühlig darauf reagiert, entsteht Vertrauen. Wenn es jedoch weint und dafür regelmäßig mit einer Ohrfeige bestraft wird, lernt es: Wenn ich Angst habe, darf ich das nicht zeigen, weil ich sonst bestraft werde. Solche Kinder lernen in erster Linie, negative Gefühle nicht als solche zu artikulieren. Was jedoch fataler ist: Sie lernen auch nicht, Gefühle zu benennen und über sie zu sprechen, sie wichtig zu nehmen und auf diese Weise auf einer sprachlichen Ebene zu regulieren. In der Wissenschaft sprechen wir von der Fähigkeit zum Mentalisieren, dem Zugang zur eigenen und fremden Erlebniswelt. Defizite darin können zur Entstehung psychischer Erkrankungen beitragen.
Was brauchen Kinder dann, um psychisch stark zu werden?
Sie brauchen jemanden, der sie sieht und ihre Emotionen spiegelt. Und sie brauchen Sicherheit. Eltern müssen nicht perfekt sein, aber sie sollten verlässlich und ansprechbar bleiben und nicht mit Liebesentzug strafen. Kinder sollen merken: Ich darf traurig, wütend oder ängstlich sein, all das hält jemand mit mir aus. Daher kann ich es ebenfalls aushalten. Im besten Fall sind Eltern ihren Kindern immer zugewandt, auch wenn sie ihre schwierigen Phasen haben. Aber Achtung: Das heißt nicht, dass man Kindern jeden Wunsch erfüllen soll. Sie müssen gewiss auch mal ein Nein aushalten. Wichtig ist allerdings eine Liebe, die nicht an Leistung oder andere Bedingungen geknüpft ist.
»Wut zuzulassen, ist oft ein wichtiger Schritt in der Psychotherapie«
Sie haben gemeinsam mit der Psychologin Brigitte Jenull das Buch »Böse Eltern« verfasst. Warum dieser Titel?
Weil wir ein Tabu brechen wollten. In unserer Gesellschaft dürfen Mütter und Väter nicht »böse« sein – das widerspricht der Vorstellung, dass Eltern immer das Beste wollen und es zumindest gut meinen, wenn sie es schon nicht gut machen. Aber manche fügen ihren Kindern Schaden zu. Diese Eltern haben manchmal eigene psychische Probleme, sind aber deshalb in vielen Fällen nicht unmündig. Oder sie geben die eigene erlebte Vernachlässigung oder Misshandlung an ihre Kinder weiter. Aber: Sie tragen Verantwortung für ihr Handeln. Wir wollten deutlich machen, dass man darüber sprechen darf – und muss. Der Titel soll für Betroffene befreiend sein, weil er ihre Wut ernst nimmt. Diese Wut zuzulassen, ist oft ein wichtiger Schritt in der Psychotherapie.
Sie haben für das Buch mit sieben Frauen gesprochen, die alle als Kind in ihrer Familie schwer gelitten haben. Können Sie eine der Geschichten erzählen?
Eine Frau wurde ab ihrem siebten Lebensjahr vom Partner der Mutter sexuell missbraucht – im elterlichen Bett, während die Mutter danebenlag und es geschehen ließ. Vermutlich tat die Mutter das aus Angst, den Mann zu verlieren. Das Kind wurde im Grunde dem Familiensystem geopfert. Eine andere Frau wurde als Kind regelmäßig vom Vater mit Schlägen bestraft, im Keller, an einem vorbereiteten Platz. Sie weiß bis heute nicht, was sie falsch gemacht hat. Auch hier wusste die Mutter Bescheid und »übergab« das Mädchen quasi dem prügelnden Vater. Solche Berichte zeigen, wie stark das Bedürfnis, eine brüchige Beziehung zusammenzuhalten, manchmal über das Wohl des eigenen Kindes gestellt wird.
Wie haben diese Frauen es geschafft, überhaupt weiterzuleben?
Alle haben Wege gefunden, sich zu schützen – oft schon als Kinder. Eines der Mädchen schuf sich eine reiche Fantasiewelt und war in ihren Tagträumen im Wilden Westen unterwegs. Das ist eine Form der Dissoziation: ein psychischer Schutzmechanismus, bei dem sich die Aufmerksamkeit von der belastenden Realität löst und in eine innere, oft angenehmere Welt ausweicht. Ein anderes Mädchen hat begonnen zu malen. Heute ist die Frau Künstlerin und stellt ihre Bilder aus. Besonders freut Brigitte Jenull und mich, dass alle sieben Frauen selbst Texte über ihre Erlebnisse und ihre Bewältigungsstrategien für das Buch verfasst haben. Das sind einmalige Berichte aus erster Hand.
Welche Faktoren helfen Kindern noch, solche Erfahrungen zu überstehen?
Zentral ist der Kontakt zu wenigstens einer emotional stabilen Bezugsperson. Das kann eine Großmutter sein, ein Lehrer, eine Nachbarin – jemand, der das Kind sieht und ihm Stabilität gibt. Diese eine Person kann entscheidend sein. Das zeigte schon die berühmte Studie von Emmy Werner über die »Children of Kauai«: Wissenschaftler begleiteten alle Menschen, die 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai geboren wurden, bis ins Erwachsenenalter. Rund ein Drittel der knapp 700 Untersuchten wuchs unter Mehrfachbelastungen auf: Armut, elterliche Gewalt, Alkoholismus, psychische Erkrankungen der Eltern und so weiter. Etwa ein Drittel dieser Hochrisikokinder entwickelte sich dennoch positiv. Trotz aller Widrigkeiten wurden sie psychisch stabil, sozial integriert und beruflich erfolgreich. Ein sehr wichtiger Faktor dieser resilienten Gruppe war mindestens eine warmherzige Person in ihrem Leben, die sie unterstützte und akzeptierte, wie sie waren. Interessant ist: Resiliente Kinder suchen solche Menschen aktiv. Sie spüren, wer ihnen guttut, und finden intuitiv den Zugang zu Schutz und Nähe. Wenigstens einen zu haben, der es gut mit einem meint, hat eine enorme Schutzwirkung auf die Psyche.
Das Gute ist also stärker als das Böse?
Ja! Der eine gute Einfluss im Schlechten kann viel ausrichten.
Viele, die als Kind Gewalt, Vernachlässigung und Ungerechtigkeit erlebt haben, sagen später: »Ich wünschte, jemand hätte mir gesagt, dass das falsch ist und dass ich nicht schuld bin.« Wie kann man diese Person sein? Was kann man tun, wenn man heute in der Nachbarschaft oder im Umfeld merkt: Hier stimmt etwas nicht?
Ich empfehle, zunächst das Gespräch zu suchen und die Eltern damit zu konfrontieren, dass es nicht geht, wie sie mit ihrem Kind umgehen. Manchmal reicht schon das Bewusstsein, dass jemand hinschaut und das nicht als normal empfindet. Wenn sich aber nichts ändert oder physische oder auch psychische Gewalt im Spiel ist, sollte man sich unbedingt an das Jugendamt oder die Polizei wenden. Das braucht Mut, weil man damit in ein Familiensystem eingreift. Kinder können sich selbst nicht ausreichend schützen. Teils senden sie Signale der Hilfesuche. Diese können auch indirekt sein. Man sollte sie ernst nehmen und mit Zuwendung beantworten. Ich kenne Fälle, in denen die Schule eingeschritten ist – die Kinder waren damals wütend und wollten keine Einmischung, aber später haben sie gesagt: Das war meine Rettung.
Sie schreiben auch über Parentifizierung, also wenn Kinder und Eltern die Rollen tauschen. Was passiert da genau?
Man unterscheidet zwischen instrumenteller und emotionaler Parentifizierung. Bei der instrumentellen geht es um praktische Aufgaben: Verantwortung im Haushalt übernehmen, kleinere Geschwister betreuen. Das kann im normalen Rahmen hilfreich für das Erwachsenwerden sein. Gefährlich wird es aber bei der emotionalen Parentifizierung: wenn Kinder die Gefühle der Eltern regulieren müssen. Sie verhalten sich dann so, dass der Vater sich beruhigt oder die Mutter nicht ausrastet. Dadurch stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse dauerhaft zurück. Das führt oft dazu, dass sie als Erwachsene zu häufig glauben, für die Emotionen anderer verantwortlich zu sein.
Wie wirkt sich das im späteren Leben aus?
Viele sind stets mehr beim Gegenüber als bei sich. Sie übernehmen weiterhin zu viel Verantwortung für fremde Gefühle, auch in Partnerschaften. Sie neigen dazu, übermäßig darauf zu achten, dass Frieden herrscht, und geben oft nach, um die anderen zu stabilisieren. Wenn das dauerhaft einseitig ist, führt es zu Erschöpfung. Und teils geraten diese Menschen ausgerechnet wieder an Leute, die das für sich gut zu nutzen wissen. Für Betroffene ist es womöglich ein Versuch, die alte Wunde zu heilen, aber er führt oft zu neuen psychischen Verletzungen.
»Ein Kontaktabbruch kann ein wichtiger Selbstschutz sein«
Wie sollten Betroffene als Erwachsene mit ihren Eltern umgehen – Kontakt halten oder Abstand nehmen?
Das hängt sehr von der Situation ab und davon, wie schwerwiegend die Erlebnisse waren. Manche können mit den Eltern sprechen und haben sogar ein gutes Verhältnis, andere brauchen Distanz. Ein Kontaktabbruch kann ein wichtiger Selbstschutz sein, gerade wenn bei den Eltern keine Einsicht möglich ist oder wenn man ständig in die alte Rolle zurückfällt, die einem eigentlich schadet. Aber man kann auch einen Kontakt gestalten, so wie er einem guttut.
Der halbjährliche Besuch zu Kaffee und Kuchen?
Zum Beispiel. Es ist natürlich schön, wenn man es schafft, über die Vergangenheit zu sprechen und sie gemeinsam aufzuarbeiten. Manchmal geht das aber nicht – etwa weil Mutter oder Vater nicht bereit oder in der Lage dazu sind, zu reflektieren, was sie getan haben. In manchen Fällen sind die Eltern zudem schon zu alt und es gibt keine Chance mehr, sich auszusprechen. Man muss nicht alles klären. Man darf Dinge auch stehen lassen und trotzdem respektvoll miteinander umgehen. Ich glaube, es hilft, zu akzeptieren, dass Eltern Menschen sind – mit Grenzen, mit ihrer eigenen Geschichte, die in solchen Fällen oft sehr schwierig ist.
Puh, dann ist das erwachsene Kind aber wieder in der Rolle des Vernünftigen, der alles versteht und verzeiht.
Verzeihen ist keine Pflicht. Es genügt, wenn man innerlich sagt: So war es damals. Und jetzt bin ich erwachsen und sorge für mich selbst.
Kann man das, was als Kind fehlte, als Erwachsener irgendwie nachholen?
Ja, unbedingt. Jede wertschätzende Beziehung ist eine neue Lerngelegenheit. Man kann zum Beispiel in einer Freundschaft die stabile Zuwendung kennenlernen und verinnerlichen, die man als Kind nicht hatte.
Wie merkt jemand, der eine schwere Kindheit hatte, dass er trotzdem resilient ist?
Wenn er sein Leben im Großen und Ganzen im Griff hat – arbeitet, Freundschaften pflegt, vielleicht eine Familie gegründet hat. Resilienz heißt ja nicht, dass man keine Symptome hat. Jeder Mensch hat Krisen, Angst, Traurigkeit. Entscheidend ist, dass man sie übersteht und weitergeht. Schon allein, dass jemand erwachsen wird und lebt, ist in solchen Fällen ein Zeichen großer Resilienz.
Sie arbeiten auch mit sogenannten Risiko-Resilienz-Modellen. Was lässt sich daraus lernen?
Solche Modelle helfen, spezielle Risiken und Schutzfaktoren nebeneinanderzustellen. Bei einer Person, die in der Kindheit Missbrauch erlebt hat, kann man schauen: Welche Resilienzfaktoren haben geholfen? Vielleicht die Fantasie, vielleicht die Kunst, vielleicht eine bestimmte Bezugsperson. Wenn man das sichtbar macht, kann man genau daran therapeutisch anknüpfen. Das ist hilfreicher, als nur auf das Defizit zu schauen.
Entdecken wir unsere Widerstandskraft manchmal erst in der Krise?
Es gibt das Konzept des posttraumatischen Wachstums. Menschen haben oft im Nachhinein den Eindruck, an einer schlimmen Erfahrung gewachsen zu sein. Dieser subjektive Eindruck muss allerdings nicht wahr sein. Er könnte schlicht ein Begleitphänomen einer gelungenen Bewältigung der Erfahrung sein. Eine große Metaanalyse der Psychologin Maike Luhmann spricht dafür, dass man an negativen Erlebnissen nicht eher wächst als an positiven. Denn auch ohne große Krisen berichten Menschen im Laufe ihres Lebens von Entwicklung und Reifung. Mit den Jahren verbesserten sich im Schnitt vor allem der Selbstwert, soziale Kompetenzen und das Gefühl, Herausforderungen bewältigen zu können. Ich denke, man darf Leid nicht romantisieren. Doch in irgendeiner Form gehört es zu jedem Leben dazu. Und es kann eben trotz allem ein gutes Leben sein.
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