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AKW Fessenheim: Rettete Bor das Kernkraftwerk?

Die Behörden sollen einen schweren Zwischenfall im französischen Kernkraftwerk Fessenheim vertuscht haben. Nur eine Notfallmaßnahme verhinderte womöglich einen Unfall.
Kernkraftwerk (Symbolbild)

Nach Recherchen der "Süddeutschen Zeitung" und des WDR entging Mitteleuropa im April 2014 womöglich nur knapp einem schweren Kernkraftunglück. Damals hatte ein Wassereinbruch im französischen Kernkraftwerk Fessenheim an der Grenze zu Baden-Württemberg die Elektrik geschädigt und die Leit- und Sicherheitstechnik teilweise lahmgelegt, weil 3000 Liter Wasser diverse Schaltschränke überflutet hatten. Dadurch versagte eines der beiden Notabschaltungssysteme, mit denen der Reaktor im Ernstfall schnell heruntergefahren werden kann. Dabei funktionierte offenbar auch das Einfahren der Steuerstäbe nicht, mit denen sich die Leistung des Reaktors regeln lässt und gezielt die Kernreaktion gebremst werden kann. Laut "Süddeutscher Zeitung" waren sie manövrierunfähig. Während des Vorfalls sei die Temperatur des Reaktors für mehrere Minuten unkontrolliert angestiegen, die Leitstelle habe den Reaktor während dieser Zeit quasi "blind gefahren".

Der einberufene Krisenstab entschied letztlich, den Reaktor abzuschalten, was dann mit Hilfe einer so genannten Notborierung gelang: Bei Leicht- und Druckwasserreaktoren wie in Fessenheim verwendet man dazu wasserlösliche Borsäure zur Notabschaltung des Reaktors, wenn die Steuerstäbe nicht mehr einsetzbar sind. Dabei wird der Reaktordruckbehälter mit stark borsäurehaltigem Wasser geflutet, was die Kettenreaktion sehr rasch unterbindet.

Laut Manfred Mertins, einem langjährigen Sachverständigen für Kernkraftwerke und ehemaligen Mitarbeiter der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, ist dies wohl der erste Fall, "wo ein Leistungsreaktor hier in Westeuropa störfallbedingt durch Zugabe von Bor abgefahren werden musste" – so der Experte gegenüber der "Süddeutschen Zeitung". "Das Ereignis zeigt, dass die betriebliche Abschaltung nicht mehr möglich war, so dass andere Mittel in Angriff genommen werden mussten." Mertins schreckte vor allem, dass überhaupt Wasser derart verheerend wirken konnte: Es drang durch die Ummantelung von Elektrokabeln in verschiedene Räume sowie in sicherheitsrelevante Schaltkästen, die nicht gegen Nässe gesichert waren. "Dass ein Strang komplett ausgefallen ist, das geht gar nicht!"

Die französische Atomaufsichtsbehörde (ASN) hatte den Vorfall damals offensichtlich heruntergespielt und wesentliche Details unterschlagen. Demnach habe das Wasser im nichtnuklearen Teil der Anlage zwar eines der zwei separaten Elektroniksysteme für die Notabschaltung zerstört. Das zweite soll jedoch weiterhin funktioniert haben, weswegen die Sicherheit des Reaktors gewährleistet gewesen sei. Das Versagen der Steuerstäbe sowie die Notborierung wurden der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien hingegen verschwiegen. Der Vorfall wurde deshalb auf der siebenstufigen internationalen INES-Skala für nukleare Ereignisse nur mit Stufe 1 und damit sehr niedrig bewertet. Wie weit die Anlage tatsächlich von einem schweren Strahlenunfall entfernt war, lasse sich anhand der Angaben nicht sagen. Die Recherchen beziehen sich auf einen Brief der Atomaufsicht an den Betreiber wenige Wochen nach dem Vorfall.

Fessenheim gilt schon länger als Pannenreaktor. Seine Abschaltung wird von Politikern in Deutschland seit geraumer Zeit gefordert. Er ist das älteste und leistungsschwächste noch in Betrieb befindliche französische Kernkraftwerk und soll womöglich Ende 2017 stillgelegt werden.

Nachtrag der Redaktion: Der Artikel suggerierte ursprünglich, dass man für eine Notborierung auch Borcabid ins Kühlwasser einspeisen könnte. Das entspricht leider nicht den Tatsachen. Borcarbid funktioniert zwar als Neutronenabsorber, allerdings in festen Abschirmungen. Im Kühlwasserkreislauf wird dagegen Borsäure verwendet. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.

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