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Trophisches Rewilding: Fressen für den Klimaschutz

Wo große Räuber und Weidetiere fehlen, geraten Ökosysteme aus dem Tritt. Kehrt man den Prozess um, geschieht oft Erstaunliches.
Ein Wisent bewegt sich auf einer Wiese weit oben in einer bergigen Landschaft. Der Himmel ist blau mit einigen Wolken und Kondensstreifen. Im Hintergrund sind schneebedeckte Berge zu sehen.
Wisente waren einst dominante Pflanzenfresser in der europäischen Landschaft. Wo sie zurückkehren, nutzt das auch dem Klima.

In der hölzernen Transportbox ist das aufgeregte Schnauben eines wilden Tiers zu hören. Vorsichtig steigen die Mitarbeiter der Naturschutzgruppe Rewilding Portugal und des European Bison Conservation Center auf das Dach des Behälters, der auf einer Lichtung im portugiesischen Côa-Tal steht. Mit einem kräftigen Ruck ziehen sie das Fallgitter nach oben. Das Tier in der Box – ein junger Wisentbulle – muss rückwärts hinaustreten, zögert einen Moment, wendet sich um und verschwindet dann mit entschlossenen Schritten in die offene Landschaft. Das geschah im Frühjahr 2024 – und zum ersten Mal seit Jahrhunderten leben seitdem wieder Wisente in Portugal. Acht dieser größten Landsäugetiere Europas wurden auf dem Landgut Herdade do Vale Feitoso im Nordosten des Landes ausgewildert.

»Wir betrachten diese Auswilderung als Pilotprojekt«, erklärt Teamleiter Pedro Prata. »Die Wisente werden genau beobachtet, um zu sehen, wie sie sich an die Landschaft und das Klima anpassen.« Die Rückkehr der Tiere markiert einen weiteren Schritt in einer großangelegten Rewilding-Initiative, die das Côa-Tal in einen 120 000 Hektar großen Naturkorridor verwandeln soll.

Hier leben bereits seit 2019 halbwilde Sorraia-Pferde, die durch ihr Grasen die Vegetation niedrig halten und so als »biologische Feuerwehr« gegen die häufigen Landschaftsbrände in der trockenen Region dienen. Neuerdings ergänzen auch robuste Taurusrinder das Mosaik der großen Pflanzenfresser. Sie stammen aus einer Rückzüchtung, die auf die Eigenschaften des ausgestorbenen Auerochsen abzielte, und nehmen als genügsame Weidetiere dessen frühere ökologische Rolle ein. Dabei geht es um mehr als nur Brandschutz: »Unser Ziel ist es, durch diese Tiere die Funktionsweise des Ökosystems zu verbessern – vor allem, indem sie den Kohlenstoffkreislauf beleben«, erläutert Prata.

Die Tiere fressen nicht bloß trockene Pflanzen, die potenziell brennbar wären, sondern hinterlassen auch nährstoffreichen Kot, der das Bodenleben fördert und dadurch Kohlenstoff bindet. Sie verbreiten Samen, aus denen neue Vegetation entsteht, und lockern durch ihr Trampeln die oberste Bodenschicht auf – wodurch Regenwasser besser einsickern kann und Kohlenstoff länger gespeichert bleibt. So verändert sich die Vielfalt der Pflanzenwelt, was wiederum Tiere anzieht, die sich mit ihr austauschen: »Vor allem Bestäuber und Insekten, später auch Vögel, Reptilien und kleine Säugetiere«, sagt Prata. Entscheidend ist für ihn dabei nicht nur die reine Kohlenstoffbindung, sondern auch, dass große Pflanzenfresser die ökologische Komplexität erhöhen: Indem sie Pflanzenfresser, Samenverbreiter und Nährstofflieferanten zugleich sind, sorgen sie dafür, dass Kohlenstoff zwischen Pflanzen, Tieren und Boden immer wieder zirkuliert – und das macht das gesamte Ökosystem widerstandsfähiger und leistungsfähiger für den Klimaschutz.

Wie groß das Potenzial dieser neuen Wildnis für den Klimaschutz wirklich ist, beginnt die Forschung erst jetzt zu erfassen. Einer, der diesen Wandel entscheidend vorangetrieben hat, ist der kanadische Ökologe Oswald Schmitz von der Yale School of the Environment in den USA, der sich seit Jahrzehnten mit der Rolle von Wildtieren in Ökosystemen und deren Einfluss auf den Kohlenstoffkreislauf beschäftigt. Schmitz' Kernbotschaft klingt einleuchtend: »Tiere beeinflussen die Vegetation. Und wenn die Vegetation Kohlenstoff speichert, dann können Tiere natürlich auch die Kohlenstoffspeicherung beeinflussen.« So harmlos diese Aussage daherkommt, so revolutionär könnte sie für die Berechnungen von Klimazielen sein – und für die Frage, wie man diese Ziele erreicht.

Wanderung der Gnus | Welchen Einfluss die Tierwelt auf die Kohlenstoffspeicherung – und damit den Klimaschutz hat – wurde lange außer Acht gelassen.

Tiere als Klimaschützer

Lange Zeit galt im Klimaschutz die Devise: Entscheidend ist, was auf der Fläche wächst. Was darauf herumläuft, wurde als statistische Randnotiz behandelt. Der Anteil der Tiere am globalen Kohlenstoffspeicher erschien verschwindend gering. Doch Schmitz und eine wachsende Gruppe von Forschenden denken hier inzwischen grundlegend anders. Sie sehen Tiere als »unsichtbare Motoren« im Kohlenstoffkreislauf.

Dieses Prinzip findet sich in den Hügeln Portugals ebenso wie in den Savannen Ostafrikas. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Gnu-Population der Serengeti durch die aus Europa eingeschleppte Rinderpest fast komplett zusammengebrochen. »Ohne Gnus blieb zu viel Gras stehen. Das vertrocknete und brannte dann großflächig ab«, erzählt Schmitz. Die Folge war, dass große Mengen gebundenen Kohlenstoffs in die Atmosphäre entwichen. Mit der Eindämmung der Seuche und der Rückkehr der Gnus wurde das Gras wieder kurzgehalten, die Brände verschwanden – und der Kohlenstoff blieb im Boden. Die Tiere verhindern Feuer, düngen die Böden und fördern neue Vegetation. »So entsteht ein Kreislauf, bei dem Tiere und Pflanzen gemeinsam dafür sorgen, dass das Ökosystem Kohlenstoff aufnimmt und hält«, sagt Schmitz.

Der Ökologe hat sich von dieser Geschichte in seiner Forschung inspirieren lassen. Nun verfolgt auch Rewilding Portugal genau dieses Prinzip mit seinen Wisenten, Pferden und Taurusrindern.

Jens-Christian Svenning, Leiter des internationalen Klimaforschungszentrums ECONOVO an der Universität von Aarhus in Dänemark sieht darin einen Paradigmenwechsel: »Bestimmte große Pflanzenfresser und Raubtiere haben tatsächlich klimarelevante Auswirkungen, insbesondere aufgrund ihres Einflusses auf Feuerregime und des Erhalts offener Ökosysteme. Viele dieser durch Tiere gesteuerten Funktionen sind bislang kaum erforscht.«

Langfristige Kohlenstoffentnahme

Dabei wäre ein besseres Verständnis davon äußerst nützlich. Denn um die globale Erwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius zu halten, wie es das Internationale Klimaabkommen von Paris verlangt, bedarf es zweierlei: Erstens müssen die Emissionen von Treibhausgasen bis spätestens 2050 auf netto null sinken, und zweitens muss ein erheblicher Teil des seit Beginn der industriellen Revolution ausgestoßenen CO₂ wieder aus der Atmosphäre entfernt werden, sonst würde sich der Planet trotzdem um mehr als zwei Grad erwärmen. »Denn es sind immer noch etwa 460 bis 500 Milliarden Tonnen CO₂ in der Atmosphäre – und die müssen wir wieder herausziehen«, sagt Schmitz. Laut Berechnungen seines Teams sind dafür jährlich mindestens 5,6 Milliarden Tonnen CO₂-Entnahme nötig – jedes Jahr bis 2100.

»Andere schlagen hierfür technologiebasierte Lösungen vor. Wir wollen lieber die Natur ins Spiel bringen«, meint Schmitz. Denn Ideen wie die Abscheidung von CO₂ direkt aus der Luft sind bislang teuer, unausgereift und schwer auf die Größenordnungen skalierbar, die nötig wären. Trotzdem sind es die Techniklösungen, die die Debatte dominieren. Tiere spielen auch in den großen Kohlenstoffmodellen der UN-Klimaprozesse bislang kaum eine Rolle. Sie gelten als vernachlässigbare Speicher – laut einer Studie aus dem Jahr 2018 machen sie lediglich 0,3 Prozent der globalen Biomasse aus.

Dabei legen einige Beispiele schon seit vielen Jahren den Gedanken nahe, dass auch Tiere für den Kohlenstoffkreislauf viel wichtiger sein können als lange angenommen – etwa im US-Nationalpark Yellowstone. Dort wurden 1995 nach rund 70 Jahren der Abwesenheit wieder Wölfe angesiedelt, mit tiefgreifenden, überwiegend positiven Folgen für das gesamte Ökosystem. Die Raubtiere veränderten das Verhalten ihrer Beutetiere, der Wapiti-Hirsche, die fortan Flussauen mieden. In diesen sensiblen Bereichen konnten sich dadurch Pappeln, Erlen und insbesondere Weiden erholen. So entstanden neue Lebensräume für weitere Arten wie zum Beispiel den Biber.

Yellowstone wurde Zeuge eines ökologischen Dominoeffekts innerhalb des komplexen Nahrungsnetztes, der »trophischen Kaskade«, wie die Fachwelt sagt.

Fressen und gefressen werden | Wapitis haben in Yellowstone den Aufwuchs junger Bäume verhindert. Dann begannen Wölfe ihren Bestand zu kontrollieren.

Wo Wölfe sind, sprießen die Weiden

Studien aus Yellowstone untermauern diese Vorstellung noch einmal mit konkreten Zahlen. Dazu hat ein Forschungsteam unter Leitung des Ökologen William Ripple von der Oregon State University anhand des Wachstums von Uferweiden und zuletzt auch von Espen quantifiziert, welchen Effekt die Anwesenheit der Wölfe hatte. Dies hat die Gruppe anschließend mit anderen Studien solcher Kaskaden weltweit verglichen. Zwischen 2001 und 2020 stieg in Yellowstone demnach das durchschnittliche Kronenvolumen der Weiden um rund 1500 Prozent. »Wir sind überzeugt, dass die Wölfe entscheidend dazu beigetragen haben, den Druck der Wapitis auf die Weiden zu reduzieren.«

Der Effekt zeigte sich vor allem dort, wo andere Umweltbedingungen die Regeneration zusätzlich begünstigten. »Die Kaskade ist keine einfache Ursache-Wirkungs-Kette, sondern ein dynamisches System«, erläutert Ripple. In Yellowstone waren ihre Auswirkungen auf das Wachstum der Weiden um 82 Prozent stärker als bei vergleichbaren Veränderungen im Pflanzenwachstum bei anderen Kaskaden, die die Forscher bewerteten. So helfen die Wölfe laut Ripple auch dem Klima: »Solche wiederhergestellten Uferzonen fördern die Speicherung von Kohlenstoff im Boden – vor allem in Gebieten, in denen das Wachstum der Weiden die Rückkehr von Bibern ermöglicht.«

Deren Dämme verlangsamen den Wasserfluss, wodurch sich organisches Material anreichert. Die Geschichte von Yellowstone erinnere daran, wie das Fehlen eines einzigen Elements das gesamte Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen kann - »sei es ein Prädator, ein Schlüssel-Pflanzenfresser wie der Biber oder eine grundlegende Pflanzenart«, sagt Ripple. 

Doch trophische Kaskaden funktionieren nicht nur in eine Richtung. Während in Yellowstone die Rückkehr eines Top-Raubtiers das Ökosystem ins Gleichgewicht brachte, kann das Verschwinden einer Schlüsselspezies an der Spitze der Nahrungskette ebenso dramatische Folgen haben – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert False Bay an der Westkap-Küste Südafrikas. Dort dokumentierte ein Forschungsteam um den Meeresökologen Neil Hammerschlag in einer Studie, was passiert, wenn plötzlich ein zentraler Räuber fehlt: Die Bestände der Weißen Haie, jahrzehntelang die dominierenden Spitzenprädatoren des marinen Nahrungsnetzes, brachen innerhalb weniger Jahre ein – und damit kippte zugleich die Balance des ganzen Ökosystems.

Die Abwesenheit der Weißen Haie führte dazu, dass Arten, die im Nahrungsnetz eine mittlere Position einnehmen, wie Kap-Pelzrobben und Siebenkiemerhaie, deutlich häufiger wurden. Normalerweise werden ihre Bestände durch die über ihnen stehenden Beutegreifer stark reguliert. In der False Bay agierten die Robben und kleinen Haie nun weniger vorsichtig, erschlossen neue Nahrungsquellen und nahmen verstärkt auf ihre eigenen Beutetiere Einfluss. Das Fehlen der Weißen Haie wirkte sich also destabilisierend auf das ganze System aus. Spitzenprädatoren, sagt Hammerschlag, »prägen die Struktur, die Widerstandsfähigkeit und die Funktion des gesamten Nahrungsnetzes«.

Siebenkiemerhai in der False Bay | Je weniger Weiße Haie in ihrer Umgebung lebten, desto mehr dominierten die »Mesoprädatoren« – mit Folgen für das Ökosystem.

Kaskadierende Effekte

Wegen ihrer schieren Größe sind Ozeane von kaum zu überschätzender Bedeutung für die globale Kohlenstoffspeicherung. Darum sind bei ihnen die Effekte der Kaskaden auf den Klimaschutz besonders relevant. Wenn sich zum Beispiel die Bestände pflanzenfressender Fische verändern, beeinflusse dies »Kelpwälder, Seegraswiesen oder Algenteppiche, die wichtige Kohlenstoffsenken darstellen«, erklärt Hammerschlag.

In der Fachliteratur hat sich für die Idee, das aus dem Tritt geratene Ökosystem durch Wiederansiedlung des fehlenden Elements zu stabilisieren, der Begriff »trophisches Rewilding« eingebürgert. Dabei muss es nicht immer Wolf oder Hai sein, der in sein natürliches Nahrungsnetz zurückkehrt. Auch »Spitzenkonsumenten« haben eine erhebliche Wirkung auf das Ökosystem. Die kleine Wisentherde, die künftig durch das portugiesische Côa-Tal stapfen wird, ist ein Beispiel dafür.

Wie effektiv ein Trophisches-Rewilding-Projekt zu werden verspricht, glaubt Yale-Ökologe Schmitz sogar mathematisch berechnen zu können. Dazu hat er gemeinsam mit der Global Rewilding Alliance (GRA) das so genannte Yale/GRA-ACC-Model entwickelt. »ACC« steht dabei für »Animating the Carbon Cycle«, was so viel heißt wie »Belebung des Kohlenstoffkreislaufs«. Die Wissenschaftler betrachten dabei nicht bloß das Pflanzenwachstum, sondern auch den Einfluss von Pflanzenfressern und ihrer Fressfeinde auf Nährstoffflüsse, die Bodenstruktur und selbst das Feuerregime.

Auch in Rumänien helfen Wisente beim Klimaschutz

Im rumänischen Tarcău-Gebirge unterzogen die Wissenschaftler ihr Modell einem ersten Praxistest. Dort wurde ebenfalls eine Herde Wisente ausgewildert, die fast ohne menschliches Management gut zurechtkommt. »Wir haben ausgerechnet, wie viel sie fressen, wie viel Biomasse sie umsetzen, wie dies das Pflanzenwachstum ankurbelt und wie viel davon als Kohlenstoff letztlich im Boden landet«, erläutert Schmitz. Dann wurden Gebiete mit Wisenten mit Kontrollgebieten ohne Wisente verglichen. Das Resultat: »Im Tarcău-Gebirge lässt sich mit den dort lebenden Wisenten etwa das 1,6- bis 2-Fache an Kohlenstoff im Boden speichern, verglichen mit grasbewachsenen Flächen ohne diese Tiere.«

Bestätigt fühlt er sich auch durch die erstaunlich ähnlichen Ergebnisse eines Projekts aus Tschechien. Dort hatte eine Studie der Universität von Südböhmen gezeigt, dass ganzjährige Beweidung durch große Huftiere wie Wisente und Exmoor-Ponys die Speicherung organischer Substanz im Boden erhöht, die Wasserspeicherung verbessert und die Wechselwirkungen zwischen Vegetation und Bodenmikroben stärkt. »Das dort gemessene Plus an Kohlenstoff deckt sich mit unseren Vorhersagen«, sagt Schmitz.

Vielfältiges Potenzial

Die Global Rewilding Alliance hat weltweit über 60 sogenannte Schlüsselarten identifiziert, deren Rückkehr sehr vielversprechend für Kohlenstoffbindung und Biodiversität erscheint – darunter Wildrinder, Wale, Haie, Otter, Flughunde und große Prädatoren wie Tiger und Wölfe. Ziel ist es, gemeinsam mit Partnern »Hotspots« auszuweisen, in denen Rewilding besonders starke Wirkung entfalten kann. Wie groß das bislang ungenutzte Potenzial tatsächlich ist, zeigen die aktuellen Modellrechnungen von Oswald Schmitz und anderen Fachleuten: Demnach tragen Gnus, Seeotter, Moschusochsen, Wölfe, Haie und vor allem Meeresfische bereits heute dazu bei, jährlich etwa 8,8 Milliarden Tonnen CO2 in der Biosphäre zu speichern – beinahe so viel, wie laut aktuellem Stand pro Jahr entfernt werden müsste, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Diese Zahl beruht allerdings vor allem auf Hochrechnungen, die noch durch weitere empirische Studien bestätigt werden müssen.

Nach Angaben von Magnus Sylvén, einem Direktor der Allianz, sind derzeit neben der Untersuchung im Tarcău-Gebirge fünf weitere Feldstudien im Gange, darunter zu Waldelefanten im Kongobecken oder zu Jaguaren und Capybaras in Argentinien. »Die größte Herausforderung ist, die Modellprognosen mit realen Felddaten zu überprüfen«, sagt Sylvén. Nur wenn sich die Übereinstimmung regelmäßig belegen lasse, seien Investoren und politische Entscheider bereit, auf tiergestützten Klimaschutz zu setzen.

Einige Fachleute warnen allerdings davor, trophisches Rewilding zu sehr auf seinen Beitrag zum Klimaschutz oder die Kohlenstoffbindung zu verkürzen.

Ethan Duvall (Cornell University) und Andrew Abraham (ECONOVO, Universität Aarhus) begrüßen grundsätzlich das Prinzip des trophischen Rewildings, warnen aber davor, den Wert von Wildtieren bloß noch nach ihrem potenziellen Beitrag zur Kohlenstoffbindung oder Klimabilanz zu bemessen. In einem Kommentar für »Nature Climate Change« schreiben sie, dass eine solche Verengung dazu führen könne, dass die vielfältigen ökologischen Funktionen von Tieren – etwa für Biodiversität, Resilienz oder Nährstoffkreisläufe – außer Acht gelassen werden.

Moschusochse in der Tundra | Ihre Wirkung auf den Kohlenstoffkreislauf ist je nach Lebensraum unterschiedlich: In Mooren können Moschusochsen zur Kohlenstoffbindung beitragen, in anderen Tundragebieten auch das Gegenteil bewirken.

Zudem sei die genaue Wirkung von Wildtieren auf den Kohlenstoffhaushalt eines Ökosystems wissenschaftlich schwer zu erfassen: Tiere beeinflussen Kohlenstoffflüsse sehr unterschiedlich, und für viele Arten ist unklar, ob ihr Effekt tatsächlich positiv, neutral oder lokal sogar negativ ausfällt. Das zeigen zum Beispiel Studien zu Moschusochsen: In arktischen Mooren fördern sie die Kohlenstoffspeicherung, in der Tundra jedoch eher nicht.

Ein weiteres Problem sei das Tempo: »Wie schnell können Tierpopulationen realistisch wiederhergestellt werden, und wann werden sich ihre Effekte auf die Kohlenstoffspeicherung tatsächlich bemerkbar machen?«, fragt Duvall. In vielen Fällen dauere es Jahrzehnte bis Jahrhunderte, bis sich Bestände erholen – viel zu langsam, um die kurzfristigen Klimaziele zu erreichen.

Und schließlich sehen Duvall und Kollegen Risiken darin, Wildtiere über Kohlenstoffmärkte zu »monetarisieren«. Werden Tiere zu reinen CO₂-Einheiten, könnten Gelder, die eigentlich für Klimaschutz gedacht sind, fehlgeleitet werden – und wichtige Naturschutzziele aus dem Blick geraten.

Die Langfristperspektive im Fokus

Die Befürworter des Konzepts sehen das naturgemäß anders. Bei der Ermittlung der Kohlenstoffleistung wilder Tiere gehe es ihm gar nicht nur um das, was durch Rewilding zusätzlich erreicht werden könne, sagt Oswald Schmitz, sondern auch darum, was die bereits existierende Tierwelt bewirke. »Wir setzen im Moment doch gerade auf naturbasierte Lösungen wie Wälder. Auch ein Wald braucht sehr lange, um zu wachsen und große Mengen Kohlenstoff aufzunehmen.« Besonders wenn es nach Erreichen von »netto null« darum geht, weiterhin CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, könne trophisches Rewilding seine Vorzüge ausspielen. Denn dafür müsse und dürfe dann auch in längeren Zeiträumen gedacht werden.

»Außerdem«, sagt Schmitz, »kann es durchaus schnell gehen. Die Huftierstudie in Tschechien zeigte, dass nach dem Rewilding in den Gebieten mit Tieren 1,6-mal mehr Kohlenstoff gespeichert wurde – und das war messbar nach nur sechs Jahren.«

Um Ausgleich bemüht sich Jens-Christian Svenning, der sowohl das ECONOVO-Institut leitet, an dem Kritiker Abraham forscht, als auch in gemeinsamen Veröffentlichungen mit Schmitz ein stärkeres trophisches Rewilding für den Klimaschutz forderte. »Tiere sollten nicht auf bloße Kohlenstoffeinheiten reduziert werden. Ihre ökologischen Rollen sind vielfältig, und ihr Wert lässt sich nicht allein durch Kohlenstoffflüsse erfassen«, sagt er und fordert zugleich einen differenzierten Blick: »Ein sinnvoller Weg nach vorn besteht darin, Rewilding aus einer multifunktionalen Perspektive zu betrachten – also Biodiversität und umfassende Prozesse der Biosphäre, einschließlich Klimaresilienz, als ebenso wichtige Ziele anzuerkennen«, findet Svenning.

Genau so versteht Pedro Prata auch das Rewilding-Projekt in Portugal: »Es gibt keine Wunderwaffen. Es geht nicht ausschließlich um Rewilding und die Wiederbelebung des Kohlenstoffkreislaufs in Landschaften. Wir müssen parallel dazu auf gesellschaftlicher Ebene dekarbonisieren – in Städten und in unseren Wirtschaftssystemen.« Im Côa-Tal jedenfalls wird die Strategie fortgesetzt: In den kommenden Monaten sollen weitere Taurusrinder in die halbwilde Landschaft zurückkehren; ein nächster Schritt, um die ökologische Funktionalität und Widerstandsfähigkeit der Region weiter zu stärken – auch durch Kohlenstoffspeicherung.

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  • Quellen
Duvall, E. et al., Nature Climate Change 10.1038/s41558–024–02106-y, 2024
Hammerschlag, N. et al., Frontiers in Marine Science 10.3389/fmars.2025.1530362, 2025
Kaštovská, E. et al., Journal of Environmental Management 10.1016/j.jenvman.2024.120430, 2024
Ripple, W. et al., Global Ecology and Conservation 10.1016/j.gecco.2025.e03428, 2025
Schmitz, O., Sylvén, M., Environment: Science and Policy for Sustainable Development 10.1080/00139157.2023.2180269, 2023
Schmitz, O. et al., Nature Climate Change 10.1038/s41558–023–01631–6, 2023

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