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Risikofaktor Forschung: Wenn Viren aus dem Labor entkommen

Wer Krankheiten vorbeugen oder heilen will, muss sie erforschen. Das geschieht in der Regel in gut gesicherten Laboren. Was dabei dennoch schiefgehen kann und warum eine Debatte über Nutzen und Risiken der Virenforschung dringend nötig ist.
Eine Frau mit Schutzausrüstung im Labor

Im Jahr 2005 ließen die Labore der Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta, USA, das seit einem Jahrhundert verschwundene Virus der Spanischen Grippe wiederauferstehen. Zwischen 1918 und 1920 hatte dieses Virus die tödlichste Pandemie des 20. Jahrhunderts verursacht. Es kostete mindestens 50 Millionen Menschen das Leben – 20 Millionen mehr als das HI-Virus bis heute. Auch im Labor wurde das Grippevirus seinem Ruf gerecht. »Ich hatte nicht erwartet, dass es so tödlich sein würde«, sagte der Leiter des Laborexperiments Terrence Tumpey der Fachzeitschrift »Nature«.

Nur einen Tag nachdem das Virus der Spanischen Grippe in menschlichen Lungenzellen kultiviert wurde, hatte es 50-mal mehr virale Partikel gebildet als ein normales Grippevirus. Und während die normale Influenza für Mäuse nicht tödlich ist, waren in Tumpeys Experiment sämtliche infizierten Mäuse gestorben: In ihren Lungen fanden sich etwa 40 000-mal mehr Viren als erwartet.

Verrückte Experimente, die eines James-Bond-Films würdig sind? Wir alle kennen das banale Klischee der verrückten oder verantwortungslosen Forscher, die ein Virus freisetzen und Katastrophen auslösen. Seit Kurzem taucht es wieder in den Medien auf, und selbst einige Politiker greifen es auf und vertreten die Theorie, das Sars-CoV-2-Coronavirus stamme aus chinesischen Forschungslaboren. Das ist nicht der Fall: Alle Daten weisen darauf hin, dass die aktuelle Pandemie ganz und gar natürlich zu Stande kam, infolge eines »Spillover«, also einer Übertragung des Virus von einer »Überträgerspezies« wie der Fledermaus oder dem Schuppentier auf den Menschen. Es wäre allerdings ebenso falsch, die Theorie als reine Verschwörungstheorie abzutun. Seit Jahren diskutieren Wissenschaftler über mögliche Regeln für die Forschung an Viren, die Pandemien auslösen können. Es ist nicht undenkbar, dass die nächste Pandemie einem Forschungslabor entspringt. Andererseits können Laborexperimente auch eine bedeutende Waffe gegen Viren sein. Wie hoch ist das Risiko? Sollen wir der Panik nachgeben und alle Labore schließen, jetzt, da die Menschheit den steinigen Weg durch die Covid-19-Pandemie geht? Oder den Wissenschaftlern alle Freiheiten geben? Die Realität ist wie immer komplexer als ein Katastrophenfilm.

Das Gain-of-function-Experiment

Die Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grippe war weder die erste noch wird es die letzte gewesen sein. Schon 2002 haben Jeronimo Cello, Aniko V. Paul und Eckard Wimmer von der New York State University im Reagenzglas das Virus der Poliomyelitis synthetisiert, wobei sie nur die genetische Sequenz, die online verfügbar war, und kommerzielle biochemische Technologie verwendeten. Mit einem ähnlichen Vorgehen haben Ryan S. Noyce und David H. Evans von der University of Alberta in Kanada sowie Seth Lederman von Tonix Pharmaceuticals aus New York 2018 das Virus der Pferdepocken synthetisiert. Das annähernd gleiche Rezept kann verwendet werden, um das Virus der für den Menschen gefährlichen Pocken zu rekonstruieren, das seit 1980 als ausgestorben gilt. Dieses Vorhaben erfordert, wie man heute glaubt, nicht mehr als ein geeignetes Labor, sechs Monate Zeit und Ausgaben in Höhe von 100 000 Dollar.

Eine andere Art von Experiment zielt darauf ab, bestehende Viren infektiöser zu machen, als sie es in der Natur sind. Dies nennt man Gain-of-function-Experiment. Im Jahr 2011 haben zwei unabhängige Gruppen, die eine um Ron Fouchier von der Erasmus-Universität in Rotterdam, die zweite um Yoshihiro Kawaoka von der University of Wisconsin in Madison, ein H5N1-Virus geschaffen, das durch die Luft übertragen werden kann. Das Vogelgrippevirus H5N1 ist extrem gefährlich: Von 861 Fällen, die im Februar 2020 bekannt waren, verliefen 455 tödlich, also gut die Hälfte. Selbst optimistische Schätzungen der tatsächlichen Letalität (das Verhältnis der Verstorbenen zur Gesamtzahl der Erkrankten in einem bestimmten Zeitraum) pendeln zwischen 14 und 33 Prozent.

Zum Glück verbreitet sich die natürliche Variante des Virus nicht durch die Luft und wird deshalb seltener weitergegeben. Ein H5N1-Virus, das wie die saisonale Grippe oder Sars-CoV-2 per Luft übertragbar wäre, würde die Katastrophen von Covid-19 oder der Spanischen Grippe weit in den Schatten stellen. Laut »Science« gab Fouchier zu, dass es sich »wahrscheinlich um eines der gefährlichsten Viren handelt, das man herstellen kann«. 2014 wiederholte eine Gruppe um Daniel R. Perez von der University of Georgia ein ähnliches Experiment mit dem Vogelgrippevirus H7N1. Nach der Meinung von Simon Wain-Hobson vom Institut Pasteur in Paris wäre das geschaffene Virus – würde es außer Kontrolle geraten – 30-mal tödlicher als das der Spanischen Grippe.

»Was ich nicht erschaffen kann, kann ich auch nicht verstehen«
Richard Feynman, Physiker, 1918-1988

Aus welchem Grund spielt man derart mit dem Feuer? Der Physiker Richard Feynman sagte einst: »Was ich nicht erschaffen kann, verstehe ich nicht.« Krankheitserreger im Labor herzustellen, soll helfen zu verstehen, wie sie funktionieren, und so auch ihre Folgen vorherzusehen oder sie zu bekämpfen. Wie schon im 19. Jahrhundert: 1885 reduzierte der Chemiker Louis Pasteur die Inkubationszeit des Tollwutvirus im Kaninchen um zwei Wochen auf nur etwa acht Tage. Es war allerdings weniger gefährlich, und Pasteur hatte damit ein abgeschwächtes Virus für die Impfung geschaffen.

Die Infektiosität eines Virus zu verändern, dient auch heute noch dazu, experimentelle Modelle für Impfstoffe und Therapien zu entwickeln. Solche Experimente übermäßig zu regulieren, könnte laut einigen Forschern bedeuten, dass Impfstoffe gar nicht oder langsamer entwickelt werden. Im Fall der H1N1-Pandemie von 2009 wurde geschätzt, dass mit einer kürzeren Wartezeit auf einen Impfstoff pro Woche 300 000 bis 430 000 Fälle allein in den Vereinigten Staaten hätten verhindert werden können (bei einer geschätzten Gesamtzahl von 60,8 Millionen Fällen). Darüber hinaus kann das Wissen um die gefährlichsten Mutationen dazu beitragen, Angriffspunkte für Medikamente zu identifizieren. Jede Mutation des viralen Genoms verändert Proteine des Virus, also jene Moleküle, mit denen es sich an die Zellen anlagert und vermehrt. Die Andockstellen dieser Proteine zu kennen, bedeutet, zu wissen, an welcher Stelle ein Medikament wirken muss, um sie zu blockieren. Ein resistentes Virus zu entwickeln, kann entscheiden helfen, ob ein Medikament getestet werden sollte oder nicht, weil sich unter Laborbedingungen schnell Resistenzen entwickelten.

Wie der Virologe Ralph Baric von der University of North Carolina in Chapel Hill 2018 in »Future Medicine« schreibt, ist es geradezu unmöglich, antivirale Medikamente gegen das Coronavirus zu bewerten, ohne bestimmte Bedingungen zu erfüllen: Virenstämme zu konstruieren, die einerseits so hochinfektiös sind, dass ihre Auswirkungen in Tierversuchen schnell sichtbar werden, die aber andererseits nicht in menschlichen Zellen heranwachsen können. Besonders gelte das für die erst neu entwickelten Medikamente.

Das Dilemma von Nutzen und Risiken

Eines der größten Anliegen der Virologen ist es, die Gefährlichkeit eines Virus einzig aus dem genetischen Code voraussagen und so den nächsten Spillover eindämmen oder ihm sogar vorbeugen zu können. Das könnte gelingen, indem man Viren bei möglichen Überträgertieren überwacht, etwa bei Fledermäusen, und versucht, die für den Menschen potenziell gefährlichen zu eliminieren. Dazu, sagt Fouchier, »sind Gain-of-function-Experimente notwendig, um die Verbindung zwischen Mutationen und biologischen Eigenschaften eines Krankheitserregers zu zeigen. Es gibt keine alternativen Herangehensweisen, die ebenso unwiderlegbare Ergebnisse liefern.« Bei der Rekonstruktion des Virus von 1918 hat man festgestellt, dass nicht einzelne Mutationen, sondern ihre Kombination den Virus so tödlich gemacht haben. Nun kann man bei zukünftigen Virenstämmen nach einer ähnlichen Kombination von Faktoren Ausschau halten.

Wir haben bereits begonnen, dieses Wissen zu nutzen, um die Prävention voranzutreiben. Im Jahr 2015 hat das Aufkommen eines Virus vom Typ H5 in Kambodscha die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Aufruhr versetzt. Einige genetische Marker ähnelten nämlich jenen, die im Labor die Übertragung des Virus durch die Luft verstärkten, und das kann den Unterschied zwischen einer lokalen Epidemie oder einer katastrophalen Pandemie ausmachen. Wegen genau dieser Erkenntnis empfahl die WHO, einen Impfstoff zu entwickeln.

Andere Forscher dagegen meinen, solche Experimente seien die Risiken nicht wert. Etwaige Erkenntnisse brächten womöglich erst Jahre später oder nie eine wirksame Waffe gegen ein Virus hervor. Die Risiken dagegen sind ernst und konkret. Das macht diese Kosten-Nutzen-Rechnung so gewagt. In einem Editorial in »mBio« 2014 schreiben die Epidemiologen Marc Lipsitch von der Harvard School of Public Health und Thomas V. Inglesby von der Johns Hopkins University, dass andere Studien die Ressourcen besser nutzen könnten. Sie brächten zwar etwas weniger Informationen, wären aber auch wesentlich weniger gefährlich, und ihr Nutzen sei auf lange Sicht vergleichbar. Viren wie Ebola oder Mers hätten sich unter den Menschen nicht derart explosiv verbreitet, weil das nötige Wissen über sie fehlte, sondern weil wir sie nicht aufmerksam genug überwacht hätten.

Bei einem Symposium im Dezember 2014 wies der Epidemiologe Christophe Fraser vom Imperial College in London darauf hin, dass es sogar kontraproduktiv sein könnte, sich zu sehr auf die Gain-of-function-Experimente zu verlassen. Denn das könne dazu führen, dass die Überwachung anderer Viren zu vernachlässigt würde, die sich als genauso gefährlich erweisen könnten. Umgekehrt wurde eine Mutation, die sich in Experimenten an H5N1 als gefährlich herausstellte, anschließend in der Natur bei Stämmen des H1N1 gefunden – ohne bedeutsame Auswirkungen, wie eine Gruppe um Fouchier 2010 im »Journal of Virology« zeigte.

Ausgetretene Viren sind wie Funken auf trockenem Boden: Viele erlöschen, ohne Schaden zu verursachen, aber einer genügt, um einen Flächenbrand auszulösen

Die Ängste vor einer Pandemie aus dem Labor sind nicht unbegründet. Leider ist so etwas bereits geschehen. Virologen vermuten stark, dass die Influenza-Epidemie in Russland in den Jahren 1977 bis 1978 einem Leck in einem Forschungsinstitut entsprang. Glücklicherweise war das Virus vergleichsweise harmlos. Sein Genom allerdings war mit einem 1950 isolierten Virenstamm nahezu identisch, wie bereits 1978 eine Analyse in »Nature« ergab und 2015 Michele Rozo und Gigi K. Grownall von der Johns Hopkins University in »mBio« bestätigten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Virus 30 Jahre lang nicht mutierte. Wahrscheinlicher ist laut Virologen, dass es in den Eisschränken sowjetischer Labore lagerte und bei der Suche nach einem Impfstoff versehentlich freigesetzt wurde. 2007 brach im Vereinigten Königreich eine Maul- und Klauenseuchenepidemie aus, weil infiziertes Material über die Rohrleitungen eines Forschungsinstituts nach außen drang.

Infektionen im Labor selbst sind leider häufig. Im britischen Birmingham wurde so die Medizinfotografin Janet Parker zum letzten Pockenopfer der Geschichte: Sie steckte sich 1978 im Labor an, als das Virus in der Natur schon mindestens seit einem Jahr ausgestorben war. Von 1981 bis 2016 wurden mindestens 220 Infektionen in Laboren bestätigt. Grundsätzlich gilt für Labore Sicherheitsstufe BSL-3, wenn sie mit Erregern arbeiten, die schwere Krankheiten auslösen und durch die Luft übertragbar sind, wie das Pestbakterium, das Virus des Gelbfiebers, Sars-CoV und Sars-CoV-2. Dennoch werden dort zwei unfallbedingte Infektionen pro 1000 Mitarbeiter und Jahr registriert. Die Labore der höchsten Sicherheitsstufe, BSL-4, in denen an den gefährlichsten Erregern wie dem Ebolavirus und den Pocken geforscht wird, sind zwar sicherer, aber auch nicht vor Unfällen gefeit. Es gab mindestens vier Fälle, in denen eine Infektion mit Ebola im Labor auftrat, und einen Todesfall. Und wo es eine Infektion gibt, besteht immer die Möglichkeit, dass sich ein Virus verbreitet.

Entkommene Viren sind wie Funken auf trockenem Boden: Viele erlöschen, ohne Schaden zu verursachen, aber einer genügt, um einen Flächenbrand auszulösen. Wir wissen beispielsweise, dass das Sars-Coronavirus mindestens siebenmal aus virologischen Labors ausgetreten ist. Einmal hat es sich verbreitet: Es gab eine Sekundärinfektion, die Mutter einer Forscherin des chinesischen nationalen Instituts für Virologie, und ausgehend davon fünf tertiär Infizierte.

»Ein Mediziner, eine Krankenschwester oder eine Person, die auf einem Markt mit lebenden Tieren einkauft, haben ein wesentlich größeres Ansteckungsrisiko als ein Wissenschaftler in einem Labor«
Daniel R. Perez, Virologe

Genügen die vorliegenden Sicherheitsprotokolle? Das meint jedenfalls der Virologe Daniel R. Perez, dessen Gruppe das per Luft übertragbare H7N1-Virus konstruierte. »Die Konzepte, Sicherheitsmaßnahmen und die Schutzausrüstung reichen mehr als aus, um die Risiken zu minimieren. Es gibt so viele Prüfungen auf Fehler, dass es schwer vorstellbar ist, wie all das schiefgehen kann und gleichzeitig durch einen Unfall ein Virus freigesetzt werden könnte«, sagt Perez. »Ein Mediziner, eine Krankenschwester oder eine Person, die auf einem Markt mit lebenden Tieren einkauft, haben ein wesentlich größeres Ansteckungsrisiko als ein Wissenschaftler in einem Labor.«

Laut einem Editorial in »Nature« vom 29. Juli 2014 dagegen »treten viele Vorfälle nicht durch einen Mangel an physischen Barrieren oder Regelwerken ein, sondern durch das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses für Sicherheit in den Labors und Instituten, die sie beherbergen«. Anders gesagt: durch menschliche Fehler. Sie verursachen laut Schätzungen zwischen 67 und 80 Prozent der Vorfälle in biologischen Hochsicherheitslaboren.

Diese Vorfälle umfassen häufige und vorhersehbare Unfälle wie Verletzungen beim Umgang mit einer Spritze oder Bisse von infizierten Tieren, aber auch unwahrscheinlichere Ereignisse. Wie die National Institutes of Health in den USA berichten, kollidierte einmal ein Zentrifugendeckel mit einer Platte voll von infektiösem Material, das sich daraufhin über den Labortisch ergoss.

Auch wenn Labore mit »sicherem« biologischem Material arbeiten, birgt das Risiken. Damit ein niedriges Sicherheitsniveau ausreicht, werden gefährliche Erreger deaktiviert, aber das gelingt nicht immer. Das Government Accountability Office, die höchste unabhängige Untersuchungsbehörde in den USA, zählte zwischen 2003 und 2015 mindestens 21 Fälle, in denen hochriskante Krankheitserreger nur unvollständig deaktiviert wurden, darunter das Milzbrandbakterium und das Ebolavirus.

In Europa kam 2016 ein Fall ans Licht, bei dem sich eine italienische Studentin in Genf im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit HIV infiziert hatte. Auch sie hatte mit einem Virenstamm gearbeitet, dem vermeintlich ein entscheidendes Gen fehlte und der daher hätte inaktiv sein sollen. Genetische Analysen ergaben jedoch, dass sie sich mit demselben Virus angesteckt hatte, mit dem sie auch im Labor arbeitete. Offenbar war das fehlende Gen durch einen unglücklichen Zufall, vermutlich zusammen mit anderem veränderten biologischen Material, in das Labor und zur betreffenden HI-Virenkultur gelangt und hatte so die Studentin in unvorhersehbarer Weise infiziert.

Und schließlich gibt es noch eine große Unbekannte: Bioterrorismus. Dieses Risiko gilt zwar als unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Zwischen dem 18. September und dem 12. Oktober 2001 wurden in den USA mit Anthrax infizierte Briefe versendet und so 22 Personen infiziert. Fünf von ihnen starben. Das FBI grenzte den Kreis der Verdächtigen auf Bruce Edwards Ivins ein, einen Mikrobiologen, der im Labor für militärmedizinische Forschung von Fort Detrick in Maryland unter anderem mit dem Milzbrandbakterium arbeitete. 2008 nahm er sich das Leben; ob er tatsächlich der Täter war, bleibt ungeklärt. Zwar können Hochsicherheitsprotokolle vor einem Unfall schützen, doch sie können kaum vor einer Person schützen, die selbst Zugang zu einem solchen Labor hat.

Moratorien verfehlen ihren Zweck

Bisher fanden Debatten immer erst im Nachhinein statt. Die Veröffentlichung der Influenza-Experimente von 2011 wurde zunächst verboten und erst nach monatelanger Kontroverse erlaubt, aus Angst, die Studien könnten für bioterroristische Zwecke genutzt werden. Infolge der jüngsten Experimente und Unfälle setzte die Regierung unter Obama am 16. Oktober 2014 ein Moratorium ein, das bis Ende 2017 gelten sollte und die Finanzierung von Gain-of-function-Experimenten für Grippeviren, Sars- und Mers-Coronaviren betrifft. Im Mai 2016 gab das National Science Advisory Board for Biosecurity Empfehlungen heraus, die in das so genannte HHS P3CO Framework eingebunden wurden. Hierbei handelt es sich um ein Referenzdokument für die gesamte internationale Forschung, eine Art Leitlinie des gesunden Menschenverstands. Es fordert externe Prüfungen, ein sinnvolles Verhältnis von Nutzen und Risiken und das Fehlen alternativer Methoden, die zum selben Ziel führen.

Grundsätzlich handelt es sich dabei nicht um gesetzliche Vorgaben, sondern um interne Regeln für die Vergabe öffentlicher Forschungsmittel. Sie können somit übergangen werden. Das Pferdepockenvirus etwa wurde 2018 in Kanada rekonstruiert, finanziert von einer US-amerikanischen Firma. In anderen Ländern wie China oder Indien stehen ethische Fragen nicht an erster Stelle, und viele Forschungsprojekte werden privat finanziert.

In einer von Covid-19 verängstigten Welt wird die Versuchung groß sein, Studien zu verbieten, die als gefährlich gelten

Wie wird die Zukunft der Virologie nach Covid-19 aussehen? Schwer zu sagen, sagt Daniela Ovadia, Neurowissenschaftlerin und Spezialistin für Bio- und Neuroethik. »Die Forschung zu potenziellen Pandemieviren könnte sich im militärischen Kontext vervielfachen, auch weil die Regierungen denken, dass sie dieses Feld kontrollieren können. Außerdem wird die private Biotech-Forschung weltweit boomen.« Das Risiko bestehe darin, dass dies heimlicher als heute geschehe, weil die gesellschaftliche Akzeptanz für solche Experimente sinken werde. In einer von Covid-19 verängstigten Welt wird die Versuchung groß sein, Studien zu verbieten, die als gefährlich gelten. Ovadia hält solche Moratorien für »nur wenig effektiv, wenn nicht sogar kontraproduktiv«. Sie würden die Arbeit risikobewusster Wissenschaftler einschränken, »aber Moratorien werden nicht jene aufhalten können, die mit böser Absicht forschen oder größenwahnsinnig sind, wie man am Fall der mittels CRISPR-Cas9 genetisch veränderten Kinder in China sehen konnte«.

Sicher, wenn wir diesen Experimenten einen Sinn geben wollen, müssen wir auch auf sie hören. Vielleicht fehlt es genau daran. Wie auch immer man über die Experimente von Fouchier und Kawaoka denkt, so zeigen sie doch, dass eine H5N1-Pandemie möglich und eine enge Überwachung des Virus nötig ist. Ob wir diese Lehren umsetzen, bleibt ungewiss. Daniel R. Perez meint: »Unsere Experimente haben das Potenzial einiger Erreger nachgewiesen, zu Pandemien zu führen. Das wird allerdings erst dann relevant, wenn es die Möglichkeit gibt, den nächsten Schritt zu gehen.« Seine Forschung befasse sich unter anderem mit dem Grippevirus H9N2, das in vielen Teilen der Welt in Hühnern vorkomme und dem menschlichen Grippevirus sehr ähnlich sei. »Viele Menschen scheinen dem H9N2-Virus ausgesetzt zu sein. Die Welt reagiert hierauf kaum. Es gibt keine systematischen Anstrengungen, das Virus auszulöschen oder seine Verbreitung einzudämmen.«

Und was ist mit der Sars-CoV-2-Pandemie? Experimente hatten bereits einige Coronaviren der Fledermäuse als potenziell gefährlich identifiziert. Aber ein Virus wurde nur dank der Experimente von Ralph Baric als gefährlich erkannt, in denen es die Fähigkeit erlangte, menschliche Zellen anzugreifen. Ein wichtiger Hinweis – wenn auch nicht der einzige – zur Gefährlichkeit der in der Natur vorhandenen Coronaviren. Sars-CoV-2 hat sich womöglich auch deshalb verbreitet, weil wir diese Erkenntnisse übergangen haben.

Diskussion hinter verschlossenen Türen

Wie auch immer: Die Diskussion darüber darf nicht hinter den verschlossenen Türen der WHO oder der nationalen wissenschaftlichen Behörden stattfinden, sondern muss die internationale Öffentlichkeit miteinbeziehen. Bis heute wurde zu diesem Thema keine öffentliche Diskussion geführt. Die Türen geschlossen zu halten, hat bisher nur zu Verwirrung und Argwohn seitens der Medien geführt, sagte Anthony Fauci, Direktor des US-amerikanischen Institute for Allergy and Infectious Diseases, nachdem die Experimente am H5N1-Virus ans Licht kamen. Auf der einen Seite führt das dazu, dass reale Sicherheitsrisiken unterschätzt oder gar ignoriert werden, auf der anderen Seite kommt es zu Verschwörungstheorien.

Einige Forscher zogen es auf Nachfrage vor, zu diesem Thema keinen Kommentar abzugeben, da sie in der aktuellen Corona-Krise nicht zur Zielscheibe werden wollten – eine verständliche Angst. Vielleicht aber bedarf es absoluter Transparenz, damit die Gesellschaft wieder auf die Wissenschaft vertrauen kann. Besonders wenn dort Entscheidungen fallen, die enorme Folgen für unser aller Leben haben könnten.

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