Galaxien: Ein extragalaktischer Überlebender

Als Amateurastronom fertige ich unter anderem astronomische Aufnahmen an. Zwischen den Jahren 2016 und 2018 fotografierte ich den kompletten Sternenhimmel; Standorte waren Österreich, die Insel La Palma und Namibia. Anschließend führte ich alle 80 aufgenommenen Himmelsfelder – 32 Aufnahmen zu je zwei Minuten Belichtungszeit für jedes Himmelsfeld – zu einem 360 × 180-Grad-Panorama zusammen. Danach begann ich, mich näher mit dem dominierenden Objekt im Bild zu beschäftigen: der Milchstraße.
Ein Zwerg im Schützen
Ich erfuhr, dass der Kugelsternhaufen Messier 54 (M 54), gelegen im Sternbild Schütze (lateinisch: Sagittarius, kurz Sgr), der Rest einer ehemaligen Zwerggalaxie sei. Daher suchte ich dieses Objekt – im Folgenden Sagittarius-Zwerggalaxie oder kurz Sagittarius-Zwerg genannt – im Zentralteil meines Mosaiks (siehe »Blick ins Zentrum unserer Galaxis«). Auf meiner lang belichteten Aufnahme konnte ich keine Spur von ihm finden, jedoch waren mir die Gründe dafür bald klar.
M 54 liegt von uns betrachtet in etwa 80 000 Lichtjahren Entfernung am gegenüberliegenden Rand unserer Galaxis, demnach weit hinter dem Milchstraßenzentrum. Dadurch verdecken Millionen Vordergrundsterne, die sich zwischen uns und M 54 befinden, die vorhandenen Reste des Sagittarius-Zwergs.
Ich hatte mich 30 Jahre lang mit der Vermessung von Asteroiden und Kometen beschäftigt. Somit ist mir der Astrometriesatellit Gaia gut bekannt (siehe SuW 5/2013, S. 36, SuW 6/2013, S. 48, und SuW 5/2014, S. 26). Nun wollte ich versuchen, die Zwerggalaxie mit Hilfe der Daten des großartigen Gaia-Katalogs zu visualisieren. Als Kriterium für die entsprechende Sternenselektion hoffte ich, mit dem Parameter »Eigenbewegung eines Sterns« Erfolg zu haben.
Dazu hatte ich vor, die Daten eines kleinen 1 × 1 Grad großen Feldes vom Server der Europäischen Weltraumbehörde ESA herunterzuladen, mit Excel auszuwerten und die Ergebnisse mehrerer Felder zu einem Mosaik zusammenzuführen. Ich musste jedoch erkennen, dass Excel maximal eine Million Zeilen zulässt und somit meinem Vorhaben erhebliche Grenzen gesetzt waren. Der Grund: Durch die Nähe des Objekts zur Milchstraße enthalten auch relativ kleine Sternfelder oft mehr als eine Million Sterne. Mein langjähriger Sternfreund Rolf Hempel riet mir, dieses Problem mit einem Python-Software-Programm zu lösen.
Nachdem ich einige Monate damit verbracht hatte, mir diese Programmiersprache anzueignen, gelang es mir, ein 45 × 30 Grad großes Mosaik zusammenzustellen, das den Sagittarius-Zwerg und dessen unmittelbares Umfeld zeigt (siehe »Zoom auf die Sagittarius-Zwerggalaxie«).
Methode mit Hindernissen
Die Datenmenge war gewaltig: Zig Gigabyte mussten geladen und bearbeitet werden. Aus der Gesamtzahl von insgesamt 104,01 Millionen Sternen im erwähnten Mosaik selektierte meine Software mit Hilfe des Auswahlparameters »Eigenbewegung« 1,54 Millionen Sterne. Sie lassen sich mit der Software Matplotlib anzeigen. Man erkennt dann die inneren Teile der elliptisch geformten Sagittarius-Zwerggalaxie (siehe »Zoom auf die Sagittarius-Zwerggalaxie«).
Mit weiteren sehr hilfreichen Auswahlkriterien, wie Parallaxe, Radialgeschwindigkeit und Metallgehalt, könnte man den gewünschten Datensatz wesentlich einengen, jedoch weist der Gaia-Katalog diese Details nur bei Sternen bis zu einer Grenzhelligkeit von 16 Magnituden auf. Die Gaia-Visualisierung der Zwerggalaxie enthält einige Überraschungen:
a) Zusätzlich zum Kugelsternhaufen M 54, dem ehemaligen Kern der Sagittarius-Zwerggalaxie, sind in der Grafik noch drei weitere Kugelsternhaufen zu sehen, nämlich Arp 2, Terzan 7 und Terzan 8. Diese gehören ebenfalls zum Sagittarius-Zwerg, wie in einer Forschungsarbeit von Elisa Garro und Kollegen aufgezeigt wurde.
b) Die Sagittarius-Zwerggalaxie weist eigenartige Streifen oder »Riffel« auf. Für sie hatte ich zunächst keine Erklärung (dazu später mehr).
c) Zudem erkennt man an der Zwerggalaxie östlich, also links, eine Ausbeulung, die eventuell ein Gezeitenstrom sein könnte.
Zur Klärung kontaktierte ich den an Gaia beteiligten Astronomen Ulrich Bastian vom Zentrum für Astronomie in Heidelberg, der auch die Leserbriefe für »Sterne und Weltraum« betreut. Seine Erklärung kam umgehend:
Zu b) Die Streifen oder Riffel sind ein Effekt des streifenweisen Scans des Sternenhimmels mit dem Weltraumteleskop Gaia. Die von mir verwendeten Daten aus dem Gaia Data Release 3, kurz DR3 genannt, zeigen noch diese Streifen; bei der künftigen Version, Gaia DR4, die voraussichtlich Ende 2026 erscheinen wird, werden diese Effekte bereits minimiert und kaum sichtbar sein.
Zu c) Die Lösung dieses Phänomens ist kniffliger und durchaus sensationell. Ulrich Bastian erklärte anerkennend, dass die von mir gefundene »Beule« ganz klar in der Publikation von Ramos et al. (2022) in deren Abbildung 2 zu sehen ist. Es handelt sich um den so genannten schwachen Zweig des nachlaufenden Gezeitenarms (englisch: trailing faint arm). Es gibt auch einen Ausläufer des Hauptteils des Sagittarius-Zwergs. Dieser heißt in der Publikation nachlaufender heller Gezeitenarm (englisch: trailing bright arm). Ulrich Bastian führte aus, dass es kein Zufall ist, dass die beiden Zweige sich (fast) genau da schneiden, wo sich gerade die Sagittarius-Zwerggalaxie befindet, denn sie ist ja gerade an ihrem Perigalaktikon, das heißt an demjenigen Ort ihrer intergalaktischen Bahn, der den kürzesten Abstand zum Zentrum des Milchstraßensystems hat und wo sie folglich den stärksten Gezeitenkräften ausgesetzt ist.
Folgenschwere Kollisionen
Vor geraumer Zeit muss also das Milchstraßensystem der Sagittarius-Zwerggalaxie bei einem ihrer Durchstöße durch die sternreiche galaktische Ebene eine Vielzahl von Sternen herausgerissen haben! Das Überbleibsel sind die heute noch sichtbaren Gezeitenarme. Wie sich dabei die Sterne der ehemaligen Zwerggalaxie im Raum verstreut haben, gibt der 360-Grad-Überblick der Sternenverteilung wieder. Eine Analyse eines Teams um Pau Ramos hat ergeben, dass die am Himmel verteilten Sterne (»Stromsterne«) des Sagittarius-Zwergs aufgeteilt werden können in einen hellen (englisch: bright) und einen schwachen (englisch: faint) Zweig (siehe »Gezeitenarme des Sagittarius-Zwergs«). Aus der Bahnmodellierung ergibt sich, dass derzeit M 54 dem Perigalaktikon ganz nahe ist. Sterne, die sich vor M 54 in der Umlaufbahn des Sagittarius-Zwergs bewegen, werden als »vorlaufend« (englisch: leading) bezeichnet, die anderen als »nachlaufend« (englisch: trailing). Die Abbildung »Zoom auf die Sagittarius-Zwerggalaxie« zeigt daher praktisch nur nachlaufende Sterne.
Zur Geschichte von M 54
Messier 54 ist der erste entdeckte extragalaktische Kugelsternhaufen. Die Pionierleistung gelang Charles Messier im Jahr 1778. Nach Omega Centauri ist M 54 der zweitmassereichste Kugelsternhaufen im Umfeld der Milchstraße. Da dieser der zentrale Rest einer Zwerggalaxie ist, wird er korrekt als Kernsternhaufen bezeichnet.
Das am Himmel unauffällige Objekt M 54 hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Es besteht aus drei Subpopulationen, nämlich erstens aus relativ jungen Sternen mit einem Alter von rund 2,2 Milliarden Jahren, zweitens aus Sternen mittleren Alters von etwa 4,3 Milliarden Jahren und schließlich aus alten Sternen mit einem Alter von ungefähr 12,2 Milliarden Jahren.
Umfangreiche Analysen einer Forschungsgruppe um Tomás Ruiz-Lara zeigten im Jahr 2020, dass der Sagittarius-Zwerg vor etwa 8 Milliarden Jahren von unserer Galaxis über die Gravitationswirkung eingefangen wurde und erstmals vor 5,7 Milliarden Jahren durch die Hauptebene unserer Galaxis stieß (siehe »Kollisionen des Sagittarius-Zwergs«). Ein weiterer Zusammenstoß erfolgte vor 1,9 Milliarden Jahren. Vor etwa einer Milliarde Jahre durchlief die Sagittarius-Zwerggalaxie die galaktische Ebene erneut und wird gegenwärtig von den Gezeitenkräften des Milchstraßensystems zerrissen. Das Zentrum des Sagittarius-Zwergs nähert sich mit einer unvorstellbar hohen Geschwindigkeit »von unten« unserer Galaxis: Eine neuerliche Kollision steht bevor.
Astrophysiker können die ungefähren Zeiten der Zusammenstöße quantifizieren, indem sie mittels Spektralanalyse der Stromsterne die Metallizität ermitteln. Diese Größe, auch Verhältnis [Fe/H] genannt, quantifiziert die Häufigkeit von Eisen (Fe) gegenüber Wasserstoff (H). Daraus lässt sich das Alter abschätzen. Die aktuelle Bahn des Sagittarius-Zwergs liegt übrigens fast senkrecht zur galaktischen Ebene. Da der schwache Zweig des Sagittarius-Zwergs aus Sternen mit einem Alter von etwa 1,9 Milliarden Jahren besteht, wird angenommen, dass bei der vorletzten Durchdringung dieser Zweig gravitativ herausgerissen wurde und dabei viele neue Sterne entstanden sind. Astrophysiker schließen nicht aus, dass beim Durchgang vor 5,7 Milliarden Jahren auch unsere Sonne mit vielen anderen Sternen entstanden ist. Zu bedenken ist, dass die Sagittarius-Zwerggalaxie das Milchstraßensystem mit ungeheurer Geschwindigkeit durchdringt und dabei die betroffenen Teile unserer Galaxis, hauptsächlich zwischen den Sternen befindliches Gas und Staub, gravitativ ordentlich durchgewirbelt sowie verdichtet werden. Das regt die Bildung neuer Sterne an. Des Weiteren bewegen sich auch die Bestandteile unserer Galaxis in der Gegend der Durchdringung auf Grund der Milchstraßenrotation mit stark veränderter Geschwindigkeit.
Die Publikation eines Teams um Eugene Vasiliev zeigt, dass sich die bereits stark gestörte Sagittarius-Zwerggalaxie nach dem jetzt bevorstehenden Durchgang durch die Milchstraßenebene entlang ihrer Umlaufbahn auflösen wird (siehe »Zukünftige Entwicklung des Sagittarius-Zwergs«). Zum Vergleich: Auch Kometen hinterlassen allmählich während ihres Auflösungsprozesses ihre Spuren auf ihrer Bahn. Vasiliev und Kollegen geben eine zigarrenähnliche oder triaxiale ellipsoide Form der Zwerggalaxie mit Achsenverhältnissen von 3:1:1 an, wobei die Hauptachse fast senkrecht zur Sichtlinie liegt.
Das Team um Pau Ramos erklärt das Herausreißen des oben erwähnten schwachen Zweigs vor etwa 1,9 Milliarden Jahren mit zwei möglichen Ursachen: Entweder rotierte der schwache Sternenzweig vor dem Abstreifen der Sagittarius-Zwerggalaxie, oder der Sagittarius-Zwerg erfuhr eine Störung, die Material mit leicht abweichenden Bahneigenschaften auswarf.
In einer neueren Publikation aus dem Jahr 2024 schlagen Forschende um Elliot Davies von der britischen University of Cambridge vor, dass die Sagittarius-Zwerggalaxie durch das Verschmelzen zweier unterschiedlich großer Zwerggalaxien entstanden sein könnte. Diese Hypothese wird erst in weiterer Forschungsarbeit geprüft werden.
Rotation der Sterne um M 54
Spannend war auch die Frage, wie die übrig gebliebenen Sterne der Sagittarius-Zwerggalaxie um den Kugelsternhaufen M 54 rotieren. Um den komplexen Lösungsweg dazu zu finden, waren erneut die vielen Tipps und Anleitungen von Ulrich Bastian äußerst hilfreich. Sowohl die Positionen der Sterne als auch deren Eigenbewegungen mussten von den sphärischen Koordinaten auf Tangentialkoordinaten umgerechnet werden. Die Herausforderung, die Sterne der Zwerggalaxie von den dominierenden Sternen des Milchstraßensystems sauber abzutrennen, gelang, indem im Farben-Helligkeits-Diagramm eine sorgfältige Sternenauswahl um M 54 herum getroffen wurde (siehe »Sterne im Farben-Helligkeits-Diagramm«). Derartige Diagramme ähneln den viel bekannteren Hertzsprung-Russell-Diagrammen.
Nun wurde der innere Teil der Zwerggalaxie in kleine 0,5 × 0,5-Grad-Felder zerlegt, die Eigenbewegungen der darin befindlichen Sterne wurden gemittelt, und davon wurde die Eigenbewegung der Sagittarius-Zwerggalaxie abgezogen. Es werden zur Minimierung der Streuung nur Pfeile angezeigt, wenn sich mehr als elf Sterne in einem kleinen Feld befinden (siehe »Eigenbewegung und Rotation«).
Trotz des Pfeilgewirrs kann man eine Rotationsrichtung im Uhrzeigersinn der schon stark gestörten Sagittarius-Zwerggalaxie erkennen. Obwohl ihre Gesamtmasse nach Angaben von Vasilievs Team zwischen 100 und 1000 Millionen Sonnenmassen beträgt, zeigt eine Abschätzung, dass die sehr langsame Rotation eine Zentralmasse von lediglich rund 10 Millionen Sonnenmassen benötigen würde. Das bedeutet, dass sich die Sterne chaotisch in den drei Raumrichtungen um M 54 bewegen und nicht systematisch, wie von einer Zentralmasse gravitativ vorgegeben. Der Gesamtdrehimpuls einer elliptischen Galaxie kann daher nahezu null sein. Mit dieser Erkenntnis kann man den Unterschied zwischen einer Scheibengalaxie und einer elliptischen Galaxie hinsichtlich des Bewegungsablaufs verstehen. Den gleichen Unterschied findet man auch in unserer Milchstraße zwischen den Sternenbewegungen in der Scheibe und im Halo.
Aus den Gaia-Daten kann man noch eine weitere sehr spannende Erkenntnis über die Sagittarius-Zwerggalaxie gewinnen: Sie befindet sich gerade in einem unaufhaltsam dramatischen Auflösungsprozess. Da ihre Radialgeschwindigkeit mit ungefähr +140 Kilometern pro Sekunde und der Abstand zu uns mit etwa 80 000 Lichtjahren (etwa 25 Kiloparsec) bekannt sind, lässt sich daraus die perspektivische Verkleinerung des Sagittarius-Zwergs durch die Abstandsvergrößerung zu uns berechnen. Die von mir aus den Gaia-Daten praktisch errechnete Verkleinerung ist jedoch erheblich geringer als der so vorausgesagte Wert. Man ermittelt die Radialbewegung der im Hintergrund sichtbaren 11 888 Sterne, bestimmt mit Hilfe der linearen Regressionsrechnung die Steigung zu (–0,66±0,18) × 10–9 pro Jahr und setzt diese in Beziehung mit dem Wert der perspektivischen Verkleinerung von –5,5 × 10–9 pro Jahr. Daraus ergibt sich nun auch aus meinen eigenen Untersuchungen die durchaus sensationelle, jedoch schon zuvor veröffentlichte Erkenntnis, dass die Sagittarius-Zwerggalaxie stark expandiert. Die Ursache ihrer signifikanten physischen Expansion ist die enorme Gravitationswirkung unserer Galaxis. Die Zwerggalaxie wird derzeit von ihr förmlich zerrissen. Beim nächsten Durchgang durch die Milchstraßenebene wird sich die Sagittarius-Zwerggalaxie endgültig auflösen und praktisch nur der Kernsternhaufen M 54 übrig bleiben.
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