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Sargassum: Neuer Fluch der Karibik

In der Sargassosee bilden Braunalgen eine Oase des Lebens. Doch die Algen verfilzen an Stränden der Karibik zu einem kompakten Teppich des Todes.
Algen

Der stechende Gestank der Verwesung überlagert den Salzgeruch des Meeres. Eine Grüne Meeresschildkröte (Chelonia mydas) liegt am Strand von Barbados, verstrickt in ein Geflecht von Braunalgen. Die karibische Reisekatalogidylle ist unter gammelndem Seetang begraben. Hat sich die Schildkröte verfangen? Was steckt dahinter? Sargassum ist der Name jener großen Braunalgen aus dem tropischen und subtropischen Atlantik. Während die meisten mit einem Fuß fest am Boden verankert sind, treiben zwei Arten fußlos und in großer Menge in der Sargassosee und dem Golf von Mexiko. Gasgefüllte Blasen halten die bis zu ein Meter langen Pflanzen an der Wasseroberfläche, sie sind das treibende Fundament einer ganzen Lebensgemeinschaft und haben dem Meeresgebiet seinen Namen gegeben: Sargassosee.

Die Sargassosee ist ein Meer ohne Küsten, begrenzt von vier mächtigen Strömungen des Atlantiks: Golfstrom, Nordatlantikstrom, Kanarenstrom und Nordäquatorialstrom vereinigen sich hier zu einem riesigen Wasserwirbel. In ihrer Mitte kreiselt langsam die Sargassosee mit ihrer Braunalgen-Lebensgesellschaft. Wind- und Wellenbewegungen verweben die ledrig zähen Pflanzen zu großen Flößen. Die älteste bekannte Erwähnung des treibenden Tangwalds ist die des karthagischen Seefahrers Himilko: Um 480 v. Chr. war sein Schiff auf dem Atlantik in »schwimmendes Gras« geraten. Der Name Sargassum geht auf portugiesische Seeleute zurück, die die Tange mit der Zistrose aus ihrer Heimat verglichen: »sargaço«.

Auf und zwischen den Tangen leben Myriaden von Meeresorganismen, vom fest sitzenden Moostierchen bis zur frei schwimmenden Meeresschildkröte. Mehr als 100 Arten verbringen hier ihre Kindheit oder sogar ihr ganzes Leben. Einige sind endemisch, wie der Sargasso-Fisch, dessen fransiges Äußeres ihn unsichtbar macht im Tanggewirr. Junge Schildkröten nehmen nach dem Schlüpfen in der Karibik Kurs auf die Sargassosee. In der Welt der treibenden Tange können sie sich verstecken und selbst Krebse jagen oder Sargassum knabbern. Erst als ausgewachsene Tiere werden sie wieder Kurs auf die Karibik nehmen.

Vom Paradies zur Todeszone

Die Tange profitieren von den Ausscheidungen und Abfälle der tierischen Meeresbewohner. In sehr nährstoffreichen Gewässern wachsen sie besonders schnell, Sargassum fluitans und S. natans können ihre Masse innerhalb von elf Tagen verdoppeln. Dieses Symbiosengeflecht macht die Sargassum-Gemeinschaft zu einer einzigartigen Oase der Biodiversität in der Wüste des offenen Ozeans.

Bis 2011 waren die größten Tang-Konzentrationen aus der Sargassosee bekannt. Als die »Brown Tide« (Braune Flut) 2011 erstmals an die karibischen und westafrikanischen Küsten schwappte, vermuteten Wissenschaftler zunächst eine Algenblüte in dem Meeresgebiet. An die Küste verdriftet, verfilzen die Braunalgen in der Brandung und am Strand zu einem kompakten Teppich des Todes. Die stinkende Masse legt sich meterhoch über die Strände und tötet alles Leben darin und darunter. Unzählige Fische und wirbellose Tiere sterben, verstrickt und erstickt in der gammelnden Algenflut. Nicht einmal Schildkröten und Delfine können sich daraus befreien.

Braunalgenpest am Strand | Regelmäßig kommt es mittlerweile zu Braunalgenplagen vor und an den karibischen Stränden. Die Pflanzenteppiche schwimmen aus dem Atlantik zwischen Westafrika und Brasilien in die Region.

Als der Meeresbiologe James Franks von der University of Southern Mississippi und seine Kollegen die Herkunft der nächsten Sargassum-Flut von 2015 aus der Drift der Tange in den ozeanischen Strömungen rekonstruierten, kamen sie auf ein Areal südlich der Sargassosee: die North Equatorial Recirculation Region (NERR) im tropischen Atlantik. Ein ozeanisches Förderband zwischen der westafrikanischen und der südamerikanischen Küste.

Frühwarnsystem aus dem All

Bestätigung bekam Franks' Theorie von höherer Stelle: aus dem Orbit. Das ESA-Spektroradiometer MODIS (Moderate Resolution Imaging Spectroradiometer) an Bord der NASA-Umweltsatelliten TERRA und AQUA erfasst und vermisst Lichtspektren 36 verschiedener Wellenlängen. Braunalgen haben mit ihrer Kombination aus dem grünen Fotosynthesepigment Chlorophyll und dem zusätzlichen braunen Fucoxanthin unverwechselbare Farbspektren und sind auch aus dem Weltraum gut identifizierbar. Diese satellitenbasierte optische Ozeanografie ermöglicht die Überwachung großer Meeresregionen, seit 2011 ist das Sargassum Watch System (SaWS) ein Frühwarnsystem für Sargassum-Blüten.

Chuanmin Hu, ein Ozeanograf der University of South Florida in St. Petersburg, veröffentlichte 2016 eine Auswertung der Satellitendaten von 2010 bis 2016. Auch die Satellitendaten zeigten, dass die Braune Flut 2011 ihren Ursprung nicht in der Sargassosee hatte. Im Januar 2018 beobachtete Hu beginnende Algenblüten in der Karibik und im zentralen Westatlantik, Anfang Februar gab er eine Brown-Tide-Warnung für die Karibik heraus.

Doch welche Arten lösen diese Ereignisse aus? Amy Siuda und ein Team der Sea Education Association führen seit 20 Jahren Sargassum-Surveys in der Sargassosee und der Karibik durch, sie kennen sich mit den driftenden Meeresgewächsen aus. Die Arten Sargassum natans und S. fluitans kommen jeweils in mehreren Formen vor, die nur Experten an den Proportionen der Blätter und den kleinen Dornen an Stiel und Gasblasen unterscheiden können. In der Sargassosee leben Sargassum fluitans III und S. natans I.

Tangverwandtschaften – ganz schön verflochten

2015 erlebten die Biologen eine Überraschung: An den Stränden der Karibik wurden nicht nur wesentlich mehr der Braunalgen angespült als sonst, sondern auch eine andere Form: Sargassum natans VIII. Diese war in der Sargassosee bis dahin sehr selten. Sie hat andere ökologische Ansprüche, die Sargassosee ist der Alge zu kalt, wie Siuda erklärt. Außerdem haben Siuda und andere Biologen beobachtet, dass in der Sargassum-Form natans VIII wesentlich weniger Tierarten und Individuen leben.

Auch genetisch unterscheiden sich die Formen voneinander, wie Linda Amaral-Zettler herausfand. Ob die Formen Unterarten sind oder wie es um die Tangverwandtschaft steht, ist bis jetzt noch unklar. Amy Siuda und ihre Kollegen arbeiten gerade an einer gründlichen morphologischen und genetischen Analyse.

Meeresschildkröten unter Braunalge | Junge Meeresschildkröten verstecken sich zwischen dem schwimmenden Tang in der Sargassosee. Doch wenn die Algen zu dicht werden und verfilzen, können selbst erwachsene Tiere kaum entkommen – und sterben.

Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe um Sandrine Djakouré der Université Félix Houphouët-Boigny (Elfenbeinküste) hat sich auf die Suche nach potenziellen klimatischen und ökologischen Ursachen für die plötzlichen Sargassum-Blüten gemacht. Das Algenwachstum hängt ab von der Sonnenstrahlung, der Meerestemperatur und dem Nährstoffangebot. In diesem Fall stammt die Nährstofflast vor allem aus dem Amazonasgebiet. Durch die Abholzung der Regenwälder gelangen Phosphate und Nitrate in den Amazonas und von dort weiter ins Meer. Zwischen der Abholzung des Amazonasregenwalds und den Sargassum-Blüten im tropischen Atlantik besteht also ein Zusammenhang.

Ursache: Erwärmung und Abholzung

Zusätzlich transportieren Staubstürme aus der Sahara weitere Nährstoffe ins Meer, auch die zunehmende Erwärmung der Meeresoberfläche heizt das Algenwachstum an. 2018 reicht die Algenschwemme bis weit in den Golf von Mexiko hinein, im texanischen Galveston haben Wissenschaftler im Juni 2018 den »Seaweed Summer« ausgerufen. Gemeinsam mit den Bürgern beseitigen sie die stinkenden Tangberge.

Braunalge aus der Nähe | Sargassum besitzt Luftbläschen im Gewebe, um besser schwimmen zu können. In der Sargassosee treiben große Teppiche dieser Algen, in denen sich zahlreiche Lebewesen verstecken.

Wesentlich härter trifft die Algenflut die kleinen Inselstaaten der Karibik, die sich noch kaum von der letzten Hurrikansaison erholt haben. Die meterhohe kompakte Pflanzenmasse blockiert den Zugang zum Meer, verstört mit ihrem Anblick und Gestank Touristen und ist gesundheitsgefährdend – auch für Menschen. Aus dem verfaulenden Seetang entweicht Schwefelwasserstoff: Das Gas mit dem typischen Geruch fauler Eier kann Kopfschmerzen, Benommenheit, Übelkeit und Asthma verursachen sowie Augen und Atemwege reizen.

Auf den meisten Karibikinseln ist der Tourismus ein besonders wichtiger Wirtschaftszweig. So gibt das World Travel and Tourism Council für Barbados seinen Anteil am Bruttoinlandsprodukt für 2016 mit 39,9 Prozent an; jetzt sind auf Onlineforen wie TripAdvisor Sargassum-Warnungen zu finden. Die Regierung von Barbados hat, wie andere Regierungen auch, auf einer Pressekonferenz den nationalen Notstand ausgerufen, sie setzt Soldaten und Räumfahrzeuge ein und fordert die Bevölkerung zur Hilfe auf.

Tangräumen verursacht weitere Schäden

Auch die französische Regierung hat 3,5 Millionen Euro zur Unterstützung der französischen Karibikinseln wie Guadeloupe bereitgestellt. Für das Säubern der Strände haben Hazel Oxenford, Meeresbiologin an der University of the West Indies, und andere Wissenschaftler mit Umweltschutzgruppen und Fischern einen Leitfaden erarbeitet: »Wir haben aus den Fehlern von 2011 gelernt«, erklärt sie. Wird mit schweren Maschinen zu viel Sand mit weggeschoben, kommt es zu Bodenerosion und der Zerstörung der Sandökosysteme. Die kostengünstigste und ökologisch schonendste Art des Tangräumens sei die Arbeit mit Rechen und Schubkarre, meint die erfahrene Professorin.

Der barbadische Minister für Seefahrt und Meeresökonomie Kirk Humphrey sieht die verrottenden Algen auch als Ressource: Sie können als Dünger oder Energiepflanze genutzt werden. An der University of the West Indies arbeitet eine Projektgruppe daran, aus dem Gammeltang Alginat zu extrahieren und daraus Membranen für Wasserfilter oder kompostierbare Wasserflaschen herzustellen.

Und die Fischer fangen jetzt statt fliegender Fische mehr Goldmakrelen, die unter dem Handelsnamen »Wahi Wahi« hohe Preise erzielen. Die fünf Meeresschildkrötenarten der Karibik schwimmen jedoch in eine ungewisse Zukunft: Die Tangwälle hindern sie an der Eiablage, und das Räumen der Tange kann ihre Nester zerstören.

Das Sargassum-Wachstum in der North Equatorial Recirculation Region und die Braunen Fluten 2011, 2015 und 2018 werden sich mit zunehmender Erhöhung der Meerestemperaturen und der wachsenden Überdüngung der See vermutlich wiederholen, dies werde »the new normal«, meint Hazel Oxenford, die aber nicht nur pessimistisch ist. »Auf der anderen Seite könnte mit dem neuen Algenschwerpunkt zwischen der brasilianischen und westafrikanischen Küste langfristig vielleicht sogar ein neues Ökosystem entstehen: Sargasso-Süd.«

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