Schädelfossil aus China: Rätselhafte Denisovaner bekommen erstmals ein Gesicht

Eine ausgeprägte Augenbrauenwulst und ein Gehirn so groß wie das des modernen Menschen und des Neandertalers – so sah die Frühmenschenform der Denisovaner aus. Zu diesem Ergebnis kommen Fachleute um die Paläogenetikerin Qiaomei Fu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking in zwei Studien, die in »Cell« und »Science« erschienen sind. Die Paläoforscher extrahierten aus einem fossilen Schädel, der in der Nähe von Harbin im Nordosten Chinas gefunden wurde, Aminosäuren und mitochondriale DNA. Mit Hilfe dieser Protein- und Gendaten konnten sie den mindestens 146 000 Jahre alten Schädel als denisovanisch identifizieren. Damit lässt sich erstmals ein nahezu vollständiger Schädel eindeutig mit der ausgestorbenen Menschenform in Verbindung bringen.
Zwar haben Fachleute schon länger vermutet, dass der Harbin-Schädel auf Grund seiner Anatomie von einem Denisovaner stammen könnte, allerdings fehlte bislang der entscheidende naturwissenschaftliche Beleg für diese These. Diesen lieferten nun Fu und ihr Team und bringen damit eine anderthalb Jahrzehnte währende Debatte über das einstige Aussehen der Denisovaner zu einem Abschluss. Über das Erscheinungsbild der Frühmenschen rätselten Wissenschaftler im Grunde, seit Paläogenetiker deren Existenz erstmals 2010 anhand der DNA aus einem Fingerknöchelchen nachgewiesen hatten. Jenes Fossil war in der namensgebenden Denisova-Höhle in Südsibirien entdeckt worden.
»Es ist wirklich aufregend, endlich denisovanische DNA von einem fast vollständigen Schädel zu haben«, sagt die Computerbiologin Janet Kelso vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die nicht an den aktuellen Studien beteiligt war. »Wir erhalten endlich Einblick in die Schädelmorphologie der Denisovaner.«
»Drachenmensch« oder Denisovaner?
Der kompakte Schädel, an dem der Unterkiefer fehlt, zählt zu den am besten erhaltenen Urmenschenfossilien. So erklärten es die Forscher, die den Fund erstmals 2021 in einer Studie beschrieben haben.
Der Paläontologe Qiang Ji von der Hebei GEO University in Shijiazhuang erhielt das Exemplar 2018 von einem Mann unbekannten Namens. Der Überbringer, der nach Ansicht von Ji das Fossil vermutlich selbst entdeckt, aber den Behörden nicht gemeldet hatte, behauptete, sein Großvater habe es 1933 beim Bau einer Brücke über den Long Jiang, den »Drachenfluss«, ausgegraben. Anschließend habe der Großvater es in einem aufgelassenen Brunnen verborgen. Dort lag der Schädel, bis der Mann kurz vor seinem Tod seinen Angehörigen den Fund und seinen Verbleib beichtete.
Im Jahr 2021 bestimmten Ji und seine Kollegen in drei Studien im Fachblatt »The Innovation« das Fossil als Überrest einer neuen Menschenform, des »Drachenmenschen« oder Homo longi. In der Fachwelt setzte sich die These einer bislang unbekannten Spezies jedoch kaum durch.
Versuch einer Gen- und Proteinanalyse
Als Ji seine Ergebnisse veröffentlicht hatte, trat Qiaomei Fu mit ihm in Kontakt. Die Paläogenetikerin hatte auch an der allerersten Denisovaner-DNA gearbeitet, die aus dem sibirischen Fingerknöchel extrahiert wurde. Nun wollte sie herausfinden, ob das Fossil des »Drachenmenschen« noch irgendwelche verwertbaren Moleküle enthielt.
Fu und ihr Team versuchten zunächst, DNA aus dem Schädel zu gewinnen – aus einem Zahn und aus dem so genannten Felsenbein, dem härtesten Knochen im menschlichen Körper, der als Erfolg versprechende Quelle für altes Erbgut gilt. Die Wissenschaftler konnten jedoch kein genetisches Material sichern, allerdings gelang es ihnen, aus den Proben des Felsenbeins Bruchstücke von 95 Proteinen auszulesen und zu sequenzieren.
Daraufhin verglich Fu die extrahierten Abfolgen von Aminosäuren mit den bekannten Proteinsequenzen von Neandertalern, anatomisch modernen Menschen und Denisovanern. Eine Abfolge aus dem Schädel von Harbin erwies sich schließlich als identisch mit den proteomischen Daten des sibirischen Fingerknöchels sowie denisovanischer Fossilien aus dem Tibetischen Hochland und aus Taiwan. Es unterschied sich aber von Proteinen des modernen Menschen und des Neandertalers. Damit lag nahe: Der »Drachenmensch« war ein Denisovaner. Das Team von Fu hat zudem zwei weitere, wenn auch weniger eindeutige Proteinübereinstimmungen gefunden.
Des Rätsels Lösung lag im Zahnstein
Bereits das zweite Mal in diesem Jahr haben Fachleute nun mit Hilfe der Paläoproteomik ein Fossil als denisovanisch bestimmt. Im April 2025 identifizierten Takumi Tsutaya von der Graduate University for Advanced Studies in Kanagawa und Frido Welker von der Universität Kopenhagen ein Kieferfragment mit der Fachbezeichnung Penghu 1, das sich am Meeresgrund der Taiwanstraße fand, als von einem Denisovaner stammend. Tsutaya sagt, er sei erstaunt gewesen, als er erfuhr, dass bereits ein weiterer Denisovaner gefunden worden sei.
Doch Fu sagt, dass sie weitere Beweise haben wollte. Dafür widmete sie sich einem winzigen Stück verkalktem Zahnbelag – dem Zahnstein. In der bakteriellen DNA aus der Probe suchte Fu dann nach Erbgut jener Menschenform, die diese Bakterien besiedelt hatten. Und sie wurde fündig: Es waren Abschnitte aus der mütterlicherseits vererbten mitochondrialen DNA. Der Schädel des »Drachenmenschen« rückte demnach verwandtschaftlich den frühen Denisovanern aus Sibirien nahe, deren Überreste zwischen 187 000 und 217 000 Jahre alt sind. Laut Fu konnte somit erstmals die DNA eines »Wirts« aus Zahnstein der Altsteinzeit gewonnen werden, einer Epoche, die vor ungefähr 12 000 Jahren endete.
Die Genetikerin Rikai Sawafuji von der Universität Kyushu im japanischen Fukoka, die an der Erforschung des taiwanesischen Fossils beteiligt war, zeigte sich überrascht, dass Fus Team menschliche DNA aus dem Zahnstein gewinnen konnte, während sich nichts dergleichen aus dem Felsenbein bergen ließ. Ihres Erachtens könnte dieser Forschungserfolg weitere Wissenschaftler dazu ermutigen, Zahnbelag an altsteinzeitlichen Fossilien zu analysieren. »Wenn noch etwas Zahnstein erhalten ist«, so Sawafuji, »ließe sich aus diesen Proben menschliche mitochondriale DNA extrahieren«, um mehr über frühmenschliche Wanderbewegungen herauszufinden.
Vielleicht noch wichtiger als das: Endlich kennen Fachleute den Schädel eines Denisovaners, der als Vergleich dienen kann, um weitere Fossilien in Sammlungen als denisovanisch zu bestimmen – selbst wenn kein Erbgut und keine Proteinreste mehr nachweisbar sind.

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