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Biologie: Scharfsichtig wie ein Mausmaki

Eine wichtige Hirnregion zum Verarbeiten von Seheindrücken scheint bei allen Primaten erstaunlich ähnlich aufgebaut zu sein. Das erlaubt neue Einblicke in die Evolutionsgeschichte.
Der Graue Mausmaki hat ein ausgezeichnetes Sehvermögen. Um hinreichend viele optische Reize verarbeiten zu können, ist mehr als ein Fünftel seiner Großhirnrinde der visuellen Wahrnehmung vorbehalten.

Die Primaten, zu denen auch wir Menschen gehören, haben alle ein überraschend ähnlich aufgebautes Hirnareal, um Seheindrücke zu erzeugen. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher um Daniel Huber von der Universität Genf. Die Wissenschaftler haben untersucht, wie Mausmakis (Microcebus) optische Reize verarbeiten.

Mausmakis gehören zu den Feuchtnasenaffen und zu den kleinsten Primaten der Welt. Die Tiere, mit denen die Forscher experimentierten, wiegen gerade einmal 60 Gramm und damit rund doppelt so viel wie eine Hausmaus. Man könnte annehmen, ihr winziges Gehirn, vergleichbar dem von Ratten, müsste anders organisiert sein als das von erheblich größeren Primaten, die das 100-Fache und mehr auf die Waage bringen. Das trifft jedoch nicht zu – jedenfalls nicht auf Hirnareale, die für das Sehen zuständig sind. Was neue Einblicke darein erlaubt, wie sich die Evolution dieser Tiere vollzogen hat, wie die Forscher schreiben.

Das Großhirn enthält einen Bereich namens Sehrinde. Sie verarbeitet visuelle Informationen, die über die Augen, die Sehnerven und das Zwischenhirn einlaufen, und weist bei Primaten eine relativ hohe Neuronendichte auf. In der Sehrinde ordnen sich die Nervenzellen in säulenartigen Gruppen an, so genannten Orientierungssäulen, die jeweils auf ähnliche optische Reize ansprechen. Sie lassen sich entfernt mit den Pixeln einer Kamera vergleichen: Bündel von Orientierungssäulen verarbeiten jeweils bestimmte Bildelemente.

Adlerblick trotz Zwergenhirn

Damit ein Tier scharf sehen kann, benötigt seine Sehrinde eine gewisse Mindestanzahl von Orientierungssäulen. Allerdings lassen die sich nicht beliebig verkleinern, denn sie müssen jeweils einige tausend Neurone umfassen, um ihre Funktion verlässlich zu erfüllen. Das wirft die Frage auf, ob das Gehirn sehr kleiner Primaten vielleicht anders strukturiert ist, um trotz der geringen Abmessungen eine ausreichend große Sehschärfe zu gewährleisten.

Wie die Experimente von Huber und seinem Team zeigen, ist dem nicht so. Mit Neuroimaging-Methoden fanden die Forscher heraus: Die Sehrinde von Mausmakis untergliedert sich ebenfalls in Neuronengruppen, die Orientierungssäulen entsprechen. Und die sind fast genauso groß und in gleicher Dichte arrangiert wie bei Primaten, die ganz anderen Familien angehören und erheblich mehr wiegen, etwa Makaken. Die Abmessung und Anordnung grundlegender »Recheneinheiten« im Gehirn, die optische Reize verarbeiten, hängt bei Primaten somit nicht von der Körpergröße ab, folgern die Wissenschaftler.

Bei kleinen Gehirnen müsste die Sehrinde deshalb im Verhältnis mehr Platz beanspruchen, um die gleiche Sehschärfe zu ermöglichen. Genau das haben Huber und seine Kollegen beobachtet: Mausmakis reservieren etwa ein Fünftel ihrer Großhirnrinde für die Sehrinde; bei Makaken ist es ein Zehntel, bei Menschen rund ein Dreißigstel.

Mausmakis ähneln in vielerlei Hinsicht den ersten Primaten, die vor rund 55 Millionen Jahren erschienen. Sie stehen damit stellvertretend für recht ursprüngliche Vertreter dieser Linie. Da bereits bei ihnen die Sehrinde im Wesentlichen genauso organisiert ist wie bei anderen Primaten, sich aber deutlich von der Sehrinde beispielsweise der Nager unterscheidet, vermuten die Forscher, dass dieses Merkmal schon bei den frühen Primaten existierte. Während der evolutionären Entstehung dieser Tiere, so die Wissenschaftler, müsse ein enormer Entwicklungsschub des Gehirns und der visuellen Wahrnehmung stattgefunden haben. Er sei wahrscheinlich damit einhergegangen, dass die Augen eine nach vorn gerichtete Position einnahmen.

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