Gegengifte: Mensch und Tier als Medizinfabriken

Der kahl geschorene Mann ist etwas bleich, aber er zieht die Schwarze Mamba aus dem Terrarium, als würde er einen Gartenschlauch einholen. Mit der rechten Hand fixiert er ihren Kopf. Er dreht sich zur Kamera, löst den Griff und hält dem Reptil seinen linken Unterarm hin. Blitzschnell beißt das Tier zu, dann nochmal. »Zwei Bisse«, ruft er, »super!« Er setzt die Schlange wieder in ihr Terrarium, schließt die Klappe. Ein Freund stürmt johlend herbei und schlägt mit ihm ein. Der Mann spannt den Oberarm an, dann blickt er auf das Blut, das in vier Bahnen an seinem unteren Arm hinunterrinnt. »Es brennt sofort«, sagt er, »wie immer!«
Die Schwarze Mamba ist eine der giftigsten Schlangen der Welt. Mit jedem Biss injiziert sie ihren Opfern durchschnittlich 120 Milligramm ihres Toxins; schon ein Zehntel davon kann bei einem Erwachsenen innerhalb weniger Stunden zum Atemstillstand führen. Doch anstatt um Luft zu ringen, grinst der Mann in dem Video nur in die Kamera und lässt seine Muskeln spielen.
Was wie eine irrsinnige Mutprobe wirkt, ist Tim Friedes Versuch, Tausende von Leben zu retten. Für ein mögliches Gegengift ließ der mittlerweile 57 Jahre alte US-Amerikaner aus Wisconsin sein Immunsystem 18 Jahre lang Antikörper gegen Schlangengifte produzieren. Erst spritzte er sich nur wenige Milliliter, dann, nachdem er die Dosis immer weiter erhöht hatte, ließ er sich beißen, von Braunschlangen und Inlandtaipanen, Tiger- und Klapperschlangen, Grünen und Schwarzen Mambas – mehr als 200-mal. Sein Immunsystem passte sich mit der Zeit an die tödlichsten Gifte an. Nun könnte seine Besessenheit ein riesiges Gesundheitsproblem lösen.
Aus seinen Antikörpern haben Wissenschaftler der Columbia University in New York und des Medizinunternehmens Centivax ein Gegengift entwickelt, das Mäuse vor Bissen von 19 Schlangenarten schützt. 13 Gifte überlebten alle Nager, die übrigen sechs immerhin ein Teil. Friedes Antikörper rettete Mäuse sogar vor Toxinen, gegen die er sich nicht immunisiert hatte, was darauf hindeutet, dass sie auch viele andere, wenn nicht sogar die meisten Gifte aller Giftnattern neutralisieren könnten. Diese bilden neben den Vipern die zweite große Gruppe der Giftschlangen.
Der nicht an der Studie beteiligt Biochemiker Tim Lüddecke von der Universität Gießen kritisierte allerdings gegenüber der »Tagesschau«, dass sich die Studie nur darauf konzentriere, ob die Mäuse überlebten – und nicht, ob sie schwer erkrankten. Außerdem sei die Wirkung auf die Gruppe der Giftnattern begrenzt. Die Vipern blieben außen vor – und immerhin verursachten diese einen Großteil der Schlangenbisse.
Das Forschungsteam selbst hat das langfristige Ziel, ein Breitbandmittel zu entwickeln, das sowohl Giftnattern als auch Vipern abdeckt. Jede Schlange produziert zwar ein einzigartiges Gift, all diese Substanzen setzten sich jedoch aus nur zehn unterschiedlichen Haupttoxintypen zusammen. Obwohl es 650 Arten von Giftschlangen gibt, scheint daher ein universelles Gegengift zumindest theoretisch möglich.
Bisherige Antivenome wirken meist nur gegen das Gift einer einzigen Schlangenart. Je nach Jahreszeit, Region, Alter oder Ernährung des Reptils kann ihr Schutz sogar bei Individuen derselben Art variieren. Wer von einer tödlichen Schlange gebissen wird, muss also nicht nur schnell genug ins Krankenhaus, sondern auch wissen, welche Spezies ihn gebissen hat. Die Ärzte sind sonst dazu gezwungen, zu raten oder können gar nicht behandeln. Das Überleben wird zur Glückssache.
Unter anderem deshalb sterben jedes Jahr geschätzt 100 000 Menschen nach Schlangenbissen, wie die Weltgesundheitsorganisation angibt, und rund 400 000 erleiden bleibende Schäden. Ohne neue Antiseren dürften es noch mehr werden. Denn abgeholzte Wälder, zersiedelte Landschaften und das sich wandelnde Klima lassen Mensch und Schlange immer häufiger zusammentreffen.
Vor allem ein Problem armer Länder
Wohl auch weil tödliche Schlangenbisse vor allem die Bewohner armer Länder betreffen, werden die Gegengifte bislang noch fast genauso hergestellt wie vor 130 Jahren. So gewinnt man aus dem Blut von Pferden Antitoxine gegen Schlangen- oder Spinnengifte, aber auch gegen bakterielle Toxine wie das der Infektionskrankheit Diphtherie, die ohne Impfung tödlich enden kann. Dazu wird den Tieren das Gift gespritzt. Ihr Immunsystem bildet Antikörper, die aus dem Blut gefiltert und gereinigt werden, bevor sie erkrankten Menschen verabreicht werden können.
Neben Pferden müssen auch Schweine, Schafe oder Kühe als Bioreaktoren für die Medikamentenherstellung herhalten. Zwar ersetzt man sie zunehmend durch Bakterienstämme und Hefen. Komplexe Moleküle lassen sich in solchen Kulturen jedoch oft nicht synthetisieren, vor allem nicht in erforderlichen Mengen.
Dass wir uns bei Tieren, Pflanzen oder Mikroben wie aus dem Medizinschrank bedienen können, hat einen ganz einfachen Grund: Das Erbgut all dieser Organismen besteht aus derselben Art von Molekül wie unseres. Chemisch betrachtet gleicht die DNA eines Kugelfischs der eines Baums bis aufs Haar. Wenn man ein Gen, das im Menschen die Bauanleitung für Insulin liefert, in eine Bakterienzelle einbringt, liest letztere die genetische Information aus und stellt Insulin her. Da sich Bakterien sehr schnell teilen, werden nach ein paar Stunden aus einer veränderten Mikrobe Milliarden von identischen Zellen, die jede Menge Insulin produzieren. Oder ein anderes Protein, je nach Gen, das man ihnen einpflanzt.
Hilfe dank winziger Alchemisten
Seitdem Forscher diese Technik vor über 50 Jahren entdeckt haben, werden immer mehr Wirkstoffe durch Bakterienstämme und Hefen hergestellt. Dank jener winzigen Alchimisten sind wir nicht mehr so sehr wie früher auf Tiere als chemische Fabriken angewiesen und können auch präzisere Antikörper herstellen, die weniger Nebenwirkungen aufweisen. Da Antikörper aber komplex aufgebaut sind, können Fachleute die für ihre Herstellung notwendigen Prozesse, die in den Tieren – oder auch in Friede – quasi nebenher ablaufen, im Labor bislang nur schwer nachahmen.
Seit ein paar Jahren entwickeln Forschende eine alternative Methode: Das so genannte Phagen-Display. Um das menschliche Immunsystem nachzuahmen, füllen sie in ein Reagenzglas eine enorme Menge an Phagen, also Bakterien befallende Viren. In jedes dieser Viren bringen sie ein Genfragment für einen Antikörper ein. Diese Gensequenzen stammen aus riesigen Phagen-Bibliotheken. Man produziert eine große Mischung aus Phagen und somit unterschiedlichen DNA-Sequenzen. Der entsprechende Antikörper wird im Virus exprimiert und an seiner Außenhülle eingebaut (er wird hier also präsentiert, daher der Name »Phagen-Display«).
Was wie eine irrsinnige Mutprobe wirkt, ist Tim Friedes Versuch, Tausende von Leben zu retten
Zu den Phagen geben Fachleute dann das Antigen (zum Beispiel einen Erreger oder eben ein Schlangengift), für das sie einen Wirkstoff suchen. Befindet sich der passende Antikörper in der Mischung, heftet er sich mit seiner Phage an das Antigen, alle anderen Phagen werden abgewaschen. Wenn nur noch die Phagen mit dem gewünschten Antikörper übrig sind, lesen die Experten die genetische Information zu seiner Herstellung aus, bevor sie die Sequenz in Produktionszellen vervielfältigen.
Auf diese Weise hat 2020 ein Team der Universität Braunschweig Antikörper gegen das Diphtherietoxin erzeugt, die bisher nur aus Tierserum gewonnen werden. Der Wirkstoff, eine Kombination der Antikörper, die das Toxin am besten neutralisieren, soll das Pferdeserum in Zukunft ersetzen. Er muss sich noch in klinischen Studien beweisen. Die Phagen-Screen-Methode ist ein großer Schritt auf dem Weg zu synthetischen Gegengiften. Zugelassene Medikamente sind aber noch einige Jahre entfernt. Auch Centivax hat die Methode genutzt, um aus Tim Friedes Blutprobe breit neutralisierende Antikörper zu isolieren.
Einen ähnlichen Weg gingen 2024 Irene Khalek vom Scripps Research Institute in Kalifornien und ihre Kollegen auf der Suche nach einem Antiserum gegen eine Vielzahl von Schlangengiften – allerdings nicht mit Phagen, sondern mit menschlichen Antikörpern. Die Fachleute gaben im Reagenzglas eine Gruppe an besonders tödlich wirkenden Toxinen von Giftnattern zu einer Mischung aus Milliarden menschlicher Antikörper und beobachteten, wie einer von ihnen, 95Mat5, an diese so genannten Drei-Finger-Neurotoxine andockte und sie neutralisierte. Der Antikörper schützte in folgenden Versuchen Mäuse, welche diese Neurotoxine verabreicht bekamen, vor Tod und Lähmungen – nur bei dem Gift der Königskobra gelang ihm das nicht immer.
Die Phagen-Screen-Methode ist ein großer Schritt auf dem Weg zu synthetischen Gegengiften
Aber bis wir ganz ohne Tierseren auskommen, wird es noch dauern. Dazu muss man nicht nur wissen, wie man die Alternativen herstellt, sondern auch, wie man sie in ausreichender Menge erzeugt. Das zeigt sich etwa daran, wie weit verbreitet der Impfstoff aus dem Ei noch ist. Bereits im Jahr 1931 entdeckten Wissenschaftler, dass sich Viren stark in Eiern vermehren. Um Impfstoff aus einem Ei zu gewinnen, wird ihm zunächst eine kleine Menge eines Virus injiziert. Nachdem es ein paar Tage bebrütet wurde, stanzt man ein kleines Loch in die Schale und entnimmt die Flüssigkeit. Dann werden die darin enthaltenen Viruspartikel sorgfältig gereinigt und inaktiviert. Ein einziges Ei kann mehrere Milligramm Impfstoff produzieren. Untersuchungen ergeben zwar, dass Impfstoffe auf Zellbasis wirksamer sind. Dennoch werden etwa 90 Prozent des Grippeimpfstoffs weltweit in bebrüteten Eiern produziert. Das liegt daran, dass sie sich bislang einfach und günstig besorgen lassen.
Tiere als Bioreaktoren häufig kostengünstiger
Selbst wenn wir in Zukunft auf Tiere verzichten könnten, heißt das also nicht automatisch, dass wir es tun werden. Wir benutzen Tiere selbst dann als Bioreaktoren, wenn wir gar keine bräuchten. Pferden zapfen wir nicht nur für wichtige Medikamente Blut ab, sondern auch für billige Schnitzel. Allein in Deutschland bekommen jedes Jahr Millionen Sauen das Schwangerschaftshormon PMSG aus dem Blut trächtiger Stuten injiziert. Das Molekül stimuliert ihre Eierstöcke und macht sie fruchtbarer. Vor allem aber verbessert das Hormon die Planbarkeit der Viehzucht: Die Sauen werden zur gleichen Zeit trächtig, die Ferkel innerhalb eines kurzen Zeitfensters geboren. Die Viehzüchter können dadurch effizienter arbeiten, die Kunden müssen weniger zahlen. Durch gutes Management ließen sich die Zyklen zwar ebenfalls angleichen. Aber das wäre aufwändiger. Die Pferde dienen als Hormonlieferanten, damit wir an der Wurst sparen können.
Doch neben dem Vermeiden von Tierleid ist es allein schon aus humanmedizinischen Gründen wichtig, tierfreie Alternativen zu entwickeln. So hätte ein gentechnisch hergestellter Universalcocktail gegen Schlangengifte einen weiteren Vorteil gegenüber dem Antiserum von Pferden: Er birgt nicht die Gefahr einer schweren allergischen Reaktion, die bis hin zum anaphylaktischen Schock reichen kann.
Auch die Forscher von Centivax suchen weiter. Die beiden Antikörper, die sie in Friedes Blut bereits identifiziert haben, wirken – zusammen mit einem Enzym-Hemmstoff – gegen drei der zehn gefährlichsten Toxingruppen. Sie suchen nach einem dritten Antikörper, der mit den anderen beiden kombiniert vollständig vor Nattern schützen soll, aber auch nach solchen, die das Gift von Vipern neutralisieren.
Obwohl Friede nie zur Universität ging und sich alles selbst beibrachte, machte das Medizinunternehmen Centivax ihn zum Direktor für Herpetologie. Im nächsten Schritt sollen seine Antikörper in Australien Hunden gespritzt werden, die von Schlangen gebissen worden sind. Erweist sich der Impfstoff als tauglich, wird er in zwei Jahren am Menschen getestet. Friedes Blut wird dafür nicht mehr gebraucht. »Ohne diesen sehr besonderen Spender Timothy Friede wäre die Entwicklung des Antivenoms nur schwer möglich gewesen«, sagte Michael Hust, Direktor der Abteilung Medical Biotechnology der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig, gegenüber dem Science Media Center. Doch für die weitere Entwicklung sei Friede nicht nötig. »Da bei den mittels Phagen-Display gewonnenen Antikörpern auch die Antikörpergene – also die Baupläne – isoliert wurden, können diese Antikörper jetzt in Zellkulturen im Labor produziert werden.«
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