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Psychische Erkrankungen: Schmaler Grat beim Hirntuning

Körpereigene Wirkstoffe gegen Krankheiten in Stellung zu bringen ist eine gute Idee - im Prinzip. Leider aber sind solche Medikamente auch immer ein zweischneidiges Schwert. Besonders beim Eindämmen psychischer Krankheiten sollte man mit ihnen erst rumstochern, wenn man weiß worin.
Zwei Meldungen aus der aktuellen Depressionsforschung, gerafft zusammengefasst. Erstens: Depressionen entstehen durch ein Zuwenig des hirneigenen Stoffes BDNF. Und zweitens: Zuviel BDNF im Hirn führt zu Depressionen. Alles klar?

Beide Erkenntnisse könnten stimmen und sind unter einen Hut zu bringen – wenn man sich die Mühe macht, auf Details zu achten. Auch bei BDNF, dem brain-derived neurotropic factor, einem Neurotrophin gilt: Die Dosis macht das Gift oder das Gegengift – und der Ort, an dem es wirkt.

Eine destruktive Ader des Nervenwachstumsfaktors erkannten unter anderem kürzlich Wissenschaftler um Eric Nestler von der Universität Texas: Die Stimmung von sozial gestressten Tieren mit Phobien und Depressionssymptomen – sie zeichneten sich durch erhöhte Mengen von BDNF im Nukleus accumbens aus, einem Belohnungs- und emotionalen Lernzentrum des Gehirns – besserte sich schlagartig, sobald sie deren BDNF-Produktion gentechnisch stilllegten. Andere, gesunde Mäuse, denen sie noch vor einem zehntägigen Stresserlebnisprogramm die BDNF-Produktion im Hirn ganz abgewöhnt hatten, entwickelten frustrationsbedingten Sozialphobien dagegen gar nicht erst [1]. BDNF also ein echter Stimmungstöter?

Im Gegenteil, so andere Erkenntnisse. BDNF ist in seiner Funktion als Nervenwachstumsmittel ein körpereigenes Antidepressivum. Passenderweise finden sich im Gehirn des Schwermütigen seltener seine Spuren, und wahrscheinlich sinkt in der Folge die neuronale Plastizität des Gehirns: Es werden daher keine Nervenzellen mehr verknüpft und regeneriert. Erst dieser fehlende ständige Umbau der Gehirnarchitektur sorgt dann offenbar nach einiger Zeit für die klassischen Symptome – Antriebsarmut, Schwermut, Zurückgezogenheit. Zuwenig BDNF macht also depressiv?

Wissenschaftler des indischen Tata-Institutes für Grundlagenforschung bauen nun Brücken zwischen den widersprüchlichen Ergebnissen über neuronales Netzwerken und den dafür unverzichtbaren Faktor BDNF. Die Forscher um Sumantra Chattarji testeten ebenfalls Mäuse, die chronischem Stress ausgesetzt wurden, und begutachteten dann welche Verhaltensauffälligkeiten der Tiere mit welchen biochemischen und morphologischen Veränderungen des Gehirns einhergingen [2].

Ihr Hauptaugenmerk lag dabei zunächst auf dem Hippocampus – der bekanntesten für Lern- und Gedächtnisfunktionen zuständigen Vermittlungsstelle im Gehirn. Chronischer Stress sorgt hier bei Nagern für einen auffälligen Rückgang der neuronalen Architektur: Nervenzellen werden kürzer, Verbindungen gekappt. Vermutlich, so die Hypothese der Wissenschaftler, sorgt Ähnliches auch für die Volumenreduktion des Hippocampus bei schwer depressiven Patienten. Ist daran eine unzureichende Neurotrophinversorgung schuld?

Die Ergebnisse von Chattarijs Team scheinen darauf hinzudeuten – zumindest indirekt. Gentechnisch veränderte Tiere mit BDNF-Überproduktion nämlich zeigten unter ähnlichem Stress nicht den für normale Tiere typischen Neuronenabbau. Offenbar kompensiert der künstlich verstärkte Nervenwachstumsfaktor-Nachschub den mit Stress einhergehenden beschleunigten Abbau. Der Hippocampus leidet demnach nicht – und die Tiere nicht unter dem typischen Hippocampus-Funktionsverlust, der sie zu zurückgezogenen, sozial- und verhaltensgestörten Schwermutmäusen machen würde.

Damit aber zur zweiten Schneide des Neurotrophin-Schwertes. Andernorts im Gehirn nämlich sorgte die Neurothrophin-Überproduktion des Testnagerstammes für Ärger: In der Amygdala, dem Emotionszentrum des Hirns verstärkten sich nervenverknüpfende Aktivitäten deutlich. Danach offenbarten sich die Folgen des "Zuviels": Die Tiere litten unter Angststörungen. Stressten die Forscher die Tiere zusätzlich chronisch, glich dies die Folgen des neuronalen Überumbaus aus.

Aus den Erkenntnissen lassen sich nun verschiedene spannende Schlussfolgerungen ziehen. Zum Ersten, dass BDNF bei chronischem Stress durchaus als Antidepressivum arbeiten kann und den einhergehenden Abbau von Hippocampus-Neuronen bremst. Andererseits sorgt es aber für zu starke Neuroplastizität in der Amygdala – und damit vielleicht für kompensatorische Verhaltensänderungen. Zum Dauerzustand sollte der BDNF-Schutz des Hippocampus mit seinem Kollateralschaden im Angstzentrum demnach besser nicht werden. Zukünftige Antidepressiva, die in den BDNF-Stoffwechsel eingreifen, müssen zudem maßgeschneidert die unterschiedliche Rolle des Neurotrophins in unterschiedlichen Hirnregionen adressieren.

Vor diesem Hintergrund ist es für die Forscher jedenfalls kein Wunder, dass stressbedingte Depressionen oder ein posttraumatisches Stress-Syndrom oft mit Symptomen einer Angststörung einhergehen – und dass manche Antidepressiva schließlich als Nebenwirkungen Angststörungen verursachen. Bei der Erforschung psychischer Erkrankungen aber nur die Neuroplastizität im Hippocampus im Auge zu behalten – was viele Wissenschaftler in der Vergangenheit optimistisch simplifizierend taten – blende jedenfalls einen Gutteil der BDNF-Wirkungen aus. Affektive Störungen seien in jedem Fall zu vielfältig, um zu einfache Antworten auf sie zu geben.

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