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Schlankheitskult: Das Ende der Body Positivity?

Body Positivity sollte eine Befreiung von gängigen Schönheitsidealen sein. Doch wo steht die Bewegung in Zeiten, in denen Essstörungen wieder zunehmen und Abnehmspritzen gehypt werden?
Eine Frau im Bikini steht lachend vor einem roten Hintergrund
Ursprünglich hatte die Body-Positivity-Bewegung politische Ziele: die gesellschaftliche Akzeptanz verschiedener Körperbilder und die Abschaffung unrealistischer und diskriminierender Schönheitsideale. Doch für viele steht #bodypositivity mittlerweile vor allem für Selbstliebe des eigenen Körpers.

Dünn, androgyn, kindlich: Die Britin Twiggy – das Zweiglein, die Bohnenstange – war zwischen 1966 und 1970 das meistfotografierte Model der Welt. Über Nacht verabschiedete sich mit der 16-Jährigen das vollbusige, kurvige Schönheitsideal einer Sophia Loren. Twiggy prägte ein neues: das der superschlanken Kindsfrau. Sie wurde zur Ikone für unzählige Mädchen und junge Frauen. Um so zierlich wie das Supermodel zu sein, hungerten sie, nahmen Abführmittel, banden sich den Busen ab. Bloß keine Kurven mehr.

Doch so schnell das magere Model Fans auf aller Welt fand, so unverzüglich kam es auch zur Gegenbewegung: Menschen gingen auf die Straße und verbrannten Diätbücher und Fotos von Twiggy, um gegen den Magertrend zu protestieren. 1969 gründete sich die National Association to Aid Fat Americans (NAAFA), die Nationale Vereinigung zur Unterstützung fetter Amerikaner. Sie kämpfte für mehr Teilhabe von Menschen mit mehr Gewicht und machte auf deren Diskriminierung in der Gesellschaft aufmerksam.

Twiggy | Twiggy war das erste Supermodel im Teenageralter. Ihr sehr schlanker Körper mit dünnen Waden und Beinen galt als perfekte Figur in den »Swinging Sixties«. In den folgenden Jahrzehnten waren trainierte Körper in Mode wie etwa die von Cindy Crawford oder Elle Macpherson. In den 1990er Jahren verkörperte Kate Moss mit ihren androgynen Zügen und eingefallenen Wangen den »Heroin Chic«.

Die NAAFA gilt als Vorreiter der heutigen Body-Positivity-Bewegung, die dafür steht, keinem Schönheitsideal nachzueifern und den Körper so zu akzeptieren, wie er ist: dünn oder dick, mit oder ohne Rundungen, hell- oder dunkelhäutig, mit Schwangerschaftsstreifen oder Dellen – eine Bewegung für die Vielfalt von menschlichen Körpern, vor allem gegen Diätkultur und Fat-Shaming. Prominentes Vorbild ist die Sängerin Lizzo. Sie hat starkes Mehrgewicht (siehe »Mehrgewicht vs. Übergewicht«), präsentiert sich und ihren Körper selbstbewusst auf der Bühne und ruft Menschen in ihren Songs zu Selbstliebe auf. In Deutschland sind unter anderem Frauen wie die Autorinnen und Fat-Aktivistinnen Melodie Michelberger oder Magda Albrecht Gesichter der Bewegung.

Themenwoche »Mein Körper, mein Gewicht«

Jedes Jahr das Gleiche: Nach der Schlemmerei in der Adventszeit nehmen sich viele Menschen zu Jahresbeginn vor, weniger zu essen und Kilos zu verlieren. Doch warum definieren sich Menschen so oft über ihre Körperform und ihr Gewicht? Von den psychologischen Motiven hinter dem Neujahrsvorsatz »Abnehmen« über die strauchelnde Body-Positivity-Bewegung bis hin zu Ansätzen wie intuitivem Essen und den neuesten Entwicklungen in der Adipositasmedizin: In dieser Themenwoche laden wir dazu ein, die Körperwahrnehmung und das eigene Gewicht aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

  1. Neujahrsvorsätze: Dieses Jahr nehme ich wirklich ab!
  2. Schlankheitskult: Das Ende der Body Positivity?
  3. Fettleibigkeit: Warum der Body-Mass-Index in die Irre führt
  4. Intuitives Essen: Spüren, was der Magen sagt
  5. Adipositasmedikamente: Hype ums neue Abnehmen
  6. Abnehmen: »Medikamente wie Wegovy sind keine Lifestyle-Drogen«

Dass es vor allem Frauen sind, die sich für Body Positivity stark machen, ist nur folgerichtig: Historisch gesehen sind sie es, die unter den gängigen Schönheitsnormen der Gesellschaft besonders leiden. Während im Barock füllige Formen als Ideal galten, gehört zu den Schönheitstrends seit dem 19. Jahrhundert fast immer die schlanke Taille – ob nun durch Korsetts eingeschnürt, von Natur aus schlank oder heruntergehungert. Body Positivity schien da vor ein paar Jahren wie ein Befreiungsschlag.

Zwischen politischen Zielen und »Fat Washing«

Es ist nun rund zehn Jahre her, dass der Begriff Body Positivity erstmals in den sozialen Netzwerken auftauchte, mittlerweile ist er allgegenwärtig. Zudem finden Leserinnen und Leser in Frauenzeitschriften eine immer größere Körpervielfalt, denn neben »curvy« Models bilden immer mehr Modefirmen teils auch deutlich mehrgewichtige Frauen ab. Doch sind dies wirklich entscheidende Schritte zu einer größeren Akzeptanz der Vielfalt menschlicher Körper? Wie passt das zusammen mit den Meldungen, dass Essstörungen wieder zunehmen und neuartige Abnehmmedikamente wie Wegovy so sehr gehypt werden, dass sie vergriffen sind?

Natalie Rosenke, Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung in Berlin, steht der Body-Positivity-Bewegung in ihrer jetzigen Form kritisch gegenüber, sieht sie gar teils als gescheitert: »Über die Jahre wurde die Bewegung immer mehr kommerzialisiert und individualisiert«, sagt sie. Modefirmen würden Mehrgewichtige rein auf Grund kommerzieller Interessen auf ihren Plakaten abbilden, weil der Begriff Body Positivity im Trend liege. Manche sprechen – angelehnt an den Begriff »Greenwashing« – bereits vom »Fat Washing« in der Modeindustrie.

»Body Positivity ist keine Selbstliebe-Bewegung, sondern politisch«Melodie Michelberger, Fat-Aktivistin und Autorin

Auch dass in den sozialen Netzwerken #bodypositivity so viel geteilt wird, sieht die Aktivistin nicht nur positiv: Mit dem Hashtag tauschen sich Menschen über unterschiedliche Körperbilder und Bücher zum Thema Selbstliebe aus, sie teilen Tipps für ein positives Mindset und folgen Influencern und Influencerinnen, die es vermeintlich schon geschafft haben, mit ihrem Körper rundum zufrieden zu sein. Doch Body Positivity habe sich mittlerweile zu einer Wohlfühlbewegung entwickelt, so Rosenke. »Sie strahlt aus, dass wir alle schön sein können – darum geht es aber nicht«, sagt sie. Der politische Grundgedanke, mit dem Body Positivity ins Leben gerufen wurde, rücke immer weiter in den Hintergrund. Es sei wichtig, sich nun wieder auf die politischen Ziele zu fokussieren.

»Body Positivity ist keine Selbstliebe-Bewegung, sondern politisch«, findet auch die ehemalige Moderedakteurin und Fat-Aktivistin Melodie Michelberger, die gerade das Buch »Body Politics« veröffentlicht hat. In Deutschland werde das allerdings oft verwechselt. Die Botschaft, die vornehmlich transportiert wird: Menschen mit Mehrgewicht können lernen, sich und ihren Körper selbst zu lieben. Die Verantwortung, eine Veränderung anzustoßen, liegt bei dieser Herangehensweise beim Individuum, nicht bei der Gesellschaft. Laut Michelberger setze dieses Signal Menschen mit mehr Gewicht zusätzlich unter Druck und führe dazu, dass sich langfristig immer mehr Menschen von der Bewegung distanzieren.

Mehrgewicht vs. Übergewicht

Wie Menschen über die Welt sprechen, spiegelt oft, wie sie darüber denken. Begriffe, Bezeichnungen und Benennungen tragen daher stets eine kulturelle sowie soziale Geschichte in sich und sind damit keineswegs neutral. Medizinische Fachbegriffe wie »Übergewicht« und »Adipositas« empfinden Betroffene daher teilweise als pathologisierend und stigmatisierend. Ähnliches gilt für Umschreibungen wie »kurvig«, »füllig« oder »vollschlank«. Deshalb bevorzugen Fat-Aktivisten und -Aktivistinnen Begriffe wie »fett« oder »dick«. Wie bei der queeren Community handelt es sich dabei um eine selbstbewusste Wiederaneignung ursprünglich negativ besetzter Bezeichnungen. Statt »Übergewicht« nutzen sie außerdem Bezeichnungen wie »Hochgewicht« oder »Mehrgewicht«. Diese sind deskriptiver und weniger bewertend.

Dass die #bodypositivity anders als etwa #metoo keinen größeren, nachhaltigen Effekt in der Gesellschaft erzeugt, mag auch daran liegen, dass sich mittlerweile ganz andere Gruppen den Begriff zu eigen machen als die, die ihn erschaffen haben: Für eine Studie aus 2022 analysierten die Autorinnen und Autoren hunderte Posts auf Instagram, die #bodypositivity enthielten. Es zeigte sich, dass dieser Hashtag inzwischen vor allem von weißen, schlanken Menschen genutzt wird – oft im Zusammenhang mit der Frage, wie man abnehmen oder mehr Muskelmasse aufbauen kann. Eine große Rolle spielen bei den meisten Posts die körperliche Leistungsfähigkeit und Fitness. People of Color, dicke oder alte Menschen sowie Personen mit Behinderungen waren stark unterrepräsentiert. Auch auffällig: Rund ein Viertel der untersuchten Instagram-Posts waren mit einem direkten oder indirekten Link zu einem Produkt oder einer Dienstleistung verknüpft. Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass diese Aneignung des Begriffs im Rahmen von Fitness- und Diätbeiträgen die Ursprünge der Bewegung auslösche. Paradoxerweise scheinen gerade diejenigen, die den Begriff Body Positivity am meisten verwenden, ihn ausgerechnet mit ihrem Idealbild eines wohlgeformten, fitten, hellhäutigen Körpers zu verknüpfen.

Die Abwertung von dicken Menschen ist weiterhin Alltag

Auch heute noch werden schlanke Körper idealisiert, dicke Körper diskriminiert. Wie, hat unter anderem ein Positionspapier des Kompetenznetzes Adipositas zusammengefasst: Es zeigt, dass Mehrgewichtige etwa für dieselbe Tätigkeit oft weniger Lohn als schlanke Kolleginnen und Kollegen erhalten, sie häufiger die weniger angesehenen Aufgaben bearbeiten müssen und seltener befördert werden. Laut einer Untersuchung im Auftrag der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2016 finden 71 Prozent der Befragten dicke Menschen unästhetisch. 15 Prozent vermeiden sogar bewusst den Kontakt zu ihnen. Wie tief die Abwertung dicker Körper geht, offenbarte auch eine Studie um den Sportwissenschaftler Ansgar Thiel aus dem Jahr 2008. Er und sein Team zeigten 454 Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 15 Jahren sechs Fotografien. Zu sehen waren normalgewichtige Mädchen und Jungen, stark übergewichtige Kinder sowie Normalgewichtige mit Querschnittslähmung. Auf die Frage, mit wem die Schülerinnen und Schüler am liebsten spielen würden, wurden die Dicken als Letztes genannt. Dazu wurden sie am häufigsten als unsympathisch, faul, weniger intelligent und unattraktiv eingeschätzt.

Die Body-Positivity-Bewegung scheint diese Einstellung kaum geändert zu haben. Darauf weist unter anderem eine Untersuchung des sächsischen Justizministeriums aus dem Jahr 2022 hin. Um herauszufinden, welche Personen im Freistaat am stärksten von Diskriminierung betroffen sind, wurden mehr als 4000 Menschen online zu ihren Erfahrungen befragt. Dabei berichteten zahlreiche Personen von Benachteiligungen; etwa wegen eines Migrationshintergrunds, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung. Fast die Hälfte der Befragten nannte jedoch als Diskriminierungsgrund die »äußere Erscheinung« – davon wiederum 64 Prozent ihr Körpergewicht.

Lizzo | Die Grammy-Gewinnerin Lizzo ist die bekannteste Unterstützerin der Body-Positivity-Bewegung. Ihre Texte behandeln Themen wie Diversität, Körperlichkeit, Sexualität, Hautfarbe und Selbstbewusstsein.

Wie verändern Wegovy & Co das Körperbild?

Neuartige Medikamente könnten diese Ansichten und die Diskriminierung von Personen mit hohem Gewicht nochmals verstärken: Abnehmspritzen wie Wegovy oder Zepbound reduzieren vermeintlich so leicht wie nie den Hunger. So haben stark Mehrgewichtige in Studien mit Zepbound bis zu 21 Prozent an Körpergewicht verloren, mit Wegovy immerhin bis zu 16 Prozent. Ursprünglich wurden die in ihnen enthaltenen Wirkstoffe entwickelt, um Diabetes zu behandeln. Wegovy ist deshalb vor allem unter seinem zur Diabetesbehandlung zugelassenen Namen Ozempic bekannt. Seitdem ersichtlich wurde, dass die Mittel helfen können, abzunehmen, sollen sie nun Menschen mit Adipositas dabei unterstützen, ihr Gewicht zu reduzieren.

»Medikamente wie Ozempic können dazu führen, dass sich die Abwertung und Diskriminierung hochgewichtiger Menschen weiter verstärkt«Natalie Rosenke, Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung in Berlin

Doch vor allem bei Prominenten sind die neuen Diätmittel längst zum Lifestyleprodukt aufgestiegen. Tech-Milliardär Elon Musk gab offen zu, dass sein Abnehmerfolg auf Ozempic beruht. Spekuliert wird, ob Kim Kardashian – lange Zeit für ihre Sanduhr-Silhouette bekannt – ebenfalls damit einige Kilos verloren hat. Mittlerweile hat sich der Hashtag #myozempicjourney in den sozialen Medien etabliert. Mit ihm dokumentieren zahlreiche Menschen ihre Abnehmreise mit dem Mittel öffentlich, auch in Deutschland. Und hier zu Lande sind es nicht zuletzt einige Journalisten und Journalistinnen, die ihre Ozempic-Diät als Selbstversuch aufzeichnen und so den Hype aufrechterhalten.

Auf Grund der hohen Nachfrage sind Ozempic und Co in der Zwischenzeit kaum noch zu bekommen. Die derzeit mangelnde Verfügbarkeit wird die langfristige Entwicklung aber nicht aufhalten: Bald kommen noch wirksamere Medikamente auf den Markt, die Preise werden vermutlich sinken – ist damit das Ende der weit verbreiteten Adipositas nahe? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn Schlankheit bald für jeden verfügbar ist?

»Medikamente wie Ozempic können dazu führen, dass sich die Abwertung und Diskriminierung hochgewichtiger Menschen weiter verstärkt«, befürchtet Natalie Rosenke. Denn durch solche neuartigen Mittel zum Abnehmen steige der Druck auf hochgewichtige Personen, sie einzunehmen. »Der dicke Körper wird dadurch immer mehr als Unwille zur Anpassung verstanden«, erklärt sie. Diese Dynamik sei bereits aus der Debatte um gesunde Ernährung bekannt. »Ausgangspunkt ist der Glaube, dass nur der schlanke Körper ein gesunder Körper ist«, so die Aktivistin. Daraus werde dann geschlossen, dass eine gesunde Ernährung automatisch zu einem schlanken Körper führen müsse. »Dicke Menschen werden in der Folge so gelesen, dass sie sich nicht gut ernähren würden und ihnen der Wille, wenn nicht gar das Wissen fehlt, eine ausgewogene Ernährung umzusetzen«, so Rosenke. »Es wird also ein Bildungsdefizit unterstellt.«

»Das Gewicht allein sagt nichts über die Gesundheit eines Menschen aus«Stephan Zipfel, Arzt und Psychotherapeut

In Deutschland haben rund 60 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen Übergewicht oder Adipositas. Medizinerinnen und Mediziner sind sich einig, dass Menschen, die stark fettleibig, also adipös sind, zahlreiche Gesundheitsrisiken haben. Adipositasexperten überzeugt an den Abnehmspritzen, dass die Gewichtsreduktion bei Patienten und Patientinnen das Risiko für zahlreiche Krankheiten reduziert – nicht nur für Gelenkbeschwerden und Diabetes, sondern auch für Schlaganfälle und kardiovaskuläre Erkrankungen. Es ist jedoch ebenfalls bekannt, dass leicht mehrgewichtige Personen, die sich ausreichend bewegen, ein geringeres Krankheitsrisiko haben als schlanke und träge Menschen. Im Alter scheint leichtes Mehrgewicht sogar vor Herzerkrankungen zu schützen, wie die Framingham Heart Study (FHS) nahelegt. Die Diskriminierung dicker Menschen hat hingegen gravierende Folgen: So zeigt eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2008, dass die Differenz zwischen dem tatsächlichen Gewicht und dem wahrgenommenen Idealgewicht ein besserer Indikator für die geistige und körperliche Gesundheit ist als etwa der Body-Mass-Index, eine Messgröße, die das Körpergewicht einer Person in unter-, normal- und übergewichtig einteilt. Das Gefühl, dick zu sein, hat demnach einen größeren Einfluss auf die Gesundheit, als es tatsächlich zu sein.

»Das Gewicht allein sagt nichts über die Gesundheit eines Menschen aus«, sagt auch Stephan Zipfel, Arzt und Psychotherapeut vom Kompetenzzentrum für Essstörungen Tübingen. Als Arzt begrüßt Zipfel hingegen, dass es mit Ozempic nun neben Operationen wie einer Magenverkleinerung eine weitere Behandlungsmöglichkeit für Menschen mit Adipositas gibt. Denn viele Betroffenen haben teilweise nicht nur körperliche Krankheiten, die mit dem Gewicht zusammenhängen, sondern auch psychische Probleme, berichtet er: »Sie fühlen sich mit ihrem Körper nicht wohl, schämen sich, in Anwesenheit anderer zu essen, und ziehen sich von Freundinnen und Freunden zurück.«

Wichtig sei jedoch, dass solche medizinischen Behandlungen zur Gewichtsreduktion Menschen vorbehalten bleiben, die durch ihr Gewicht tatsächlich gesundheitliche Einschränkungen haben. Dadurch, dass aktuell immer mehr Menschen Abnehmspritzen als neue Diätmethode feiern, könnte sich hier schnell ein neuer Lifestyle entwickeln, und zwar einer, den sich nur besser verdienende Menschen leisten können. Eine dreimonatige Anwendung mit Ozempic, das eigentlich Diabeteserkrankten vorbehalten sein sollte, kostet um die 220 Euro. Bei Wegovy, das für Menschen mit Adipositas entwickelt wurde, belaufen sich die Kosten der Anfangsdosis für vier Wochen auf rund 170 Euro, die der höher dosierten Erhaltungsdosis auf etwa 300 Euro – und die Einnahme erfolgt in der Regel ein Leben lang: Denn wenn das Medikament abgesetzt wird, kommt der Hunger zurück. »Als Diät für Menschen, die einfach nur Gewicht verlieren wollen, ist das Medikament nicht geeignet«, findet Zipfel daher. Wie Rosenke sieht auch er die Gefahr, dass dann die Diskriminierung dicker Personen zunimmt.

Anstieg der Essstörungen

Der Ozempic-Hype fällt in eine Zeit, in der Essstörungen – vor allem bei jungen Menschen – wieder zunehmen. Seit Beginn der Corona-Pandemie steigt die Zahl der Betroffenen weltweit an, berichtet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Auch in Deutschland haben große Krankenkassen wie die DAK und die KKH erfasst, dass die Zahl der Krankenhausbehandlungen auf Grund von Essstörungen seit 2020 deutlich gestiegen ist. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2021 9622 Fälle von Anorexie in deutschen Krankenhäusern diagnostiziert. Das ist ein neuer, deutlicher Höchststand, nachdem die Zahlen zuvor einige Jahre sanken.

»Could thin be in again?«, lautet die Überschrift eines Artikels der Autorin Michelle Santiago Cortés auf der Website »The Cut« vom Oktober 2022. Ihr zufolge gehören Personen, die schlank sind, zu einer »geschützten Klasse«. Denn wer fit und gesund aussieht, bietet niemandem eine Angriffsfläche. Die sei der Grund, warum viele den Wunsch entwickeln, dünn zu werden. »Es ist ein Streben nach Schlankheit aus der Angst heraus, von anderen abgelehnt zu werden, von Ärzten bis hin zu potenziellen Partnern«, schlussfolgert Santiago Cortés: »Ich glaube, es ist ein noch verzweifelteres Streben, als wir es bisher erlebt haben.« Und Body Positivity könnte dort nicht gegenhalten. »Es ist offensichtlich, dass die Body-Positivity-Bewegung der 2010er Jahre nicht die weit reichende Wirkung hatte, die man sich erhofft hatte.«

Die American Medical Association (AMA), die größte Standesvertretung von Ärztinnen und Ärzten sowie Studierenden der Medizin in den USA, warnt in einem 2023 erschienenen Report daher vor einer »Überbetonung der körperlichen Schlankheit für die körperliche und geistige Gesundheit«. Stattdessen sollten Patienten und Patientinnen darin unterstützt werden, das für sie persönlich beste Körpergewicht zu finden und Diätbesessenheit zu vermeiden.

Dieser Ansicht ist auch Mediziner Zipfel. »Immer mehr Menschen machen ihr Wohlbefinden von ihrem Aussehen abhängig«, sagt er: Bei Personen mit Essstörungen sei das in der Regel besonders ausgeprägt. In der Therapie geht es ihm und seinem Team deshalb unter anderem darum, die Aufmerksamkeit vom Körper wegzulenken. Etwa durch eine Konfrontation mit dem eigenen Körperbild, bei der die neutrale Beschreibung der Körperform im Vordergrund steht und nicht das Bewerten, oder auch durch gezieltes Genusstraining. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit könnte ebenfalls vielen anderen Menschen guttun, ist der Psychotherapeut überzeugt.

Für Fat-Aktivisten bleibt jedoch die Frage, wie es auch innerhalb der Gesellschaft gelingen kann, Normen oder Strukturen zu hinterfragen oder zu verändern, die die Diskriminierung von dicken Menschen unterstützen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben bereits unterschiedliche Interventionen getestet, die sich bislang bei anderen Formen von Stigmatisierung bewährt hatten, wie die American Psychological Association (APA) in einem kürzlich erschienenen Artikel berichtet. So gab es beispielsweise Versuche, das Mitgefühl für Menschen mit Mehrgewicht zu fördern oder über die vielen Faktoren aufzuklären, die das Körpergewicht beeinflussen. Forschende um die Psychologin Angela Incollingo Rodriguez forderten die Teilnehmenden einer Studie dazu auf, einen Körperanzug anzuziehen, der die Form eines dicken Menschen imitiert. Eine Meile liefen die Probanden und Probandinnen dann in diesem »fat suit« herum. Anschließend berichteten sie von den Gefühlen, die sie währenddessen empfanden: Wut, Angst, Traurigkeit und Ablehnung wurden häufig genannt. Trotzdem änderte der Perspektivwechsel nicht die Einstellung der Personen gegenüber Mehrgewichtigen, im Gegenteil: Die Fat-suit-Träger waren dicken Menschen gegenüber sogar noch negativer eingestellt als vor dem Experiment. »Dies unterstreicht, wie weit verbreitet und tief verwurzelt das Stigma des Übergewichts ist«, so die Autoren.

Das könnte unter anderem daran liegen, dass die Diskriminierung mehrgewichtiger Körper in den USA weitestgehend legal ist, mutmaßt die APA. Auch in Deutschland kommt Mehrgewicht als verbotenes Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bislang nicht vor. »Um Menschen mit Hochgewicht vor Diskriminierung zu schützen, brauchen wir eine rechtliche Grundlage«, sagt Natalie Rosenke. Und diese könnte es tatsächlich bald geben: Die Ampelkoalition hat zumindest eine Reform des AGG angekündigt, und die Antidiskriminierungsstelle empfiehlt, die Liste unter anderem um »körperliche Merkmale« zu ergänzen. In Hessen hat die Partei Die Linke bereits einen Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz vorgelegt, der auch das äußere Erscheinungsbild beinhaltet. Das Körpergewicht ist laut dem Antrag eindeutig mitgemeint. »Rechtlich wäre das der erste Schutz vor Gewichtsdiskriminierung auf Landesebene, der für jedes Gewicht greift und Gewicht als Teil der menschlichen Vielfalt versteht«, sagt Rosenke. Entwicklungen wie diese geben ihr Hoffnung, dass sich langfristig doch etwas bewegt. »Wir müssen endlich akzeptieren, dass Körper unterschiedlich sind«, wünscht sich Natalie Rosenke. Dicke Menschen seien genauso wertvoll wie dünne, und Körpergewicht sollte nicht zur moralischen Größe erhoben werden, um andere zu verurteilen.

Die Gene bestimmen das Körpergewicht mit

Die Körperform eines Menschen hängt von zahlreichen Faktoren ab. Dazu gehören nicht nur Ernährung und Bewegung, sondern zu einem großen Teil auch die Gene, wie eine Untersuchung um den Wissenschaftler Fernando Riveros-McKay aus dem Jahr 2019 zeigt. Die Forschenden verglichen DNA-Proben von 1600 gesunden, schlanken Menschen mit einem BMI von unter 18 mit jenen von 2000 schwer adipösen Menschen und 10 400 normalgewichtigen Personen. Auch Lebensstilfaktoren wurden mittels eines Fragebogens erhoben, etwa um den Einfluss von Essstörungen zu berücksichtigen. Die Berechnung bestätigte, dass mehrgewichtige Menschen eine Reihe von Genen besitzen, die mit einem höheren Körpergewicht zusammenhängen. Schlanke Studienteilnehmer besaßen hingegen weniger Gene, die mit Dicksein assoziiert werden. Zudem wiesen sie veränderte Stellen im Erbgut auf, die offenbar explizit mit Schlankheit in Verbindung stehen. Der Studienleiter Sadaf Farooqi appellierte daher an die Gesellschaft, Menschen nicht auf Grund ihres Gewichts zu verurteilen. Die Erhebung zeigt, dass gesunde, schlanke Menschen in der Regel schlank sind, weil sie eine geringere genetische Belastung haben, und nicht, weil sie moralisch überlegen sind, wie manche Leute das gerne behaupten, sagte er gegenüber der BBC. Mehrgewicht scheint zu gut 60 Prozent durch Erbanlagen bestimmt zu werden.

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