Selbstverurteilung: Kann ich mir das jemals verzeihen?

Der Weg zum Verzeihen ist nicht geradlinig, und für manche bleibt er jahrzehntelang versperrt – erst recht, wenn es darum geht, sich selbst zu vergeben. Das zeigt eine Studie, die Ende Juni 2025 in der Fachzeitschrift »Self and Identity« erschienen ist. Ein Team um die Psychologin Lydia Woodyatt von der Flinders University in Adelaide hat 80 Menschen aus den USA zu Taten aus ihrer Vergangenheit befragt, die sie bereuen. 39 der Teilnehmer machten sich inzwischen keine Vorwürfe mehr, 41 konnten sich jedoch bis heute nicht vergeben. Die Antworten der Untersuchten, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe hatten, offenbaren, wie sehr Schuldgefühle das Leben formen – und was Menschen helfen kann, sich davon zu befreien.
Die Forschenden werteten die sehr persönlichen Berichte qualitativ aus. Die geschilderten Verfehlungen reichten von versäumten Pflichten über zwischenmenschliche Verletzungen bis zu verschuldeten Unfällen. Manche Ereignisse lagen schon länger zurück, wirkten aber noch intensiv nach. Eine Frau, die ihre Tochter gern besser vor Mobbing in der Schule geschützt hätte, schrieb etwa: »Es ist ein Gefühl wie eine offene Wunde. Als wäre es gestern passiert – dabei ist es mehr als vier Jahre her.« Ein anderer Teilnehmer erzählte, wie sehr ihn ein großer finanzieller Fehltritt immer noch heimsucht: »Ich kann meiner Frau nicht all das bieten, was sie verdient.« Für viele blieb die Vergangenheit damit ein ständiger Begleiter. Sie spielten das Geschehen in Gedanken immer wieder durch, spürten Schuld und Scham so intensiv wie am ersten Tag.
Wem die Selbstvergebung gelungen war, der hatte hingegen gelernt, den Blick nach vorn zu richten. »Es war sehr befreiend, endlich in der Lage zu sein, die Situation objektiv zu betrachten. Ich habe erkannt, dass ich zwar einen Fehler gemacht habe, aber dass die Welt davon nicht untergeht und dass ich mich auf die Zukunft freuen kann«, gab eine 43-Jährige zu Protokoll. Ein Mann, der sich ebenfalls verziehen hatte, formulierte es so: »Ich kann meine Fehler und Schwächen sehen, ohne mich ewig dafür zu verurteilen.« Dabei verschwand die Reue nicht immer völlig – doch sie wurde offenbar leiser und weniger belastend.
Ein zentrales Hindernis für Selbstvergebung war die feste Überzeugung, für das, was passiert war, verantwortlich gewesen zu sein und es nicht wiedergutmachen zu können. Besonders quälte das laut der Studie Menschen in einer Fürsorgerolle, etwa Eltern für ihre Kinder, Junge für ältere Angehörige oder jene, die das Gefühl hatten, sie hätten jemanden in einem Moment der Schwäche schützen sollen. Wie ein 21-Jähriger, der gestand, er habe seinen betrunkenen Freund nach einer Party nicht vom Autofahren abgehalten. Der Freund verunglückte in der Nacht schwer. »Wenn ich nur ein bisschen hartnäckiger gewesen wäre …«, schrieb er. Ein anderer junger Mann meinte, er habe die Warnsignale vor dem Suizid seines krebskranken Vaters übersehen: »Es wäre so leicht gewesen, ihn an diesem Morgen noch auf einen Spaziergang mitzunehmen.«
Diejenigen, denen es gelungen war, sich zu vergeben, hatten eines gemeinsam: Sie akzeptierten ihren Teil der Verantwortung, erkannten allerdings auch die Grenzen der eigenen Macht. So schrieb eine Mutter, deren Tochter schwer depressiv war, über die Krankheit: »Ich musste verstehen, dass viele Faktoren eine Rolle spielten – und dass ich nicht allein schuld war.«
Auch das moralische Selbstbild spielte eine große Rolle. Für manche brach es in sich zusammen: »Ich hätte nie gedacht, dass ich die Art Mensch bin, die fremdgeht«, berichtete eine Frau nach einem alkoholgetriebenen Seitensprung. Einige derer, die sich nicht verziehen hatten, hielten an ihrer Selbstbestrafung fest – aus Angst, wenn sie zu nachsichtig mit sich seien, könnte sich ihr Fehler wiederholen.
Und schließlich machte es einen Unterschied, wie mit den belastenden Gefühlen umgegangen wurde. Wer sich in die Vermeidung flüchtete, sich ablenkte, mehr arbeitete, den Gedanken verdrängte, blieb oft in der Selbstverurteilung stecken. Wer dagegen bereit war, die eigenen Emotionen auszuhalten, darüber zu sprechen und die Lehren daraus zu ziehen, fand eher Frieden. Eine Frau beschrieb, wie sie stunden- und tagelang alles durchdacht habe, bis sie begriff: »Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Es war schwer, aber jetzt bin ich erleichtert und kann weitergehen.«
Die Ergebnisse von Woodyatt und ihren Kollegen zeigen: Selbstvergebung heißt nicht, sich von jeder Verantwortung freizusprechen. Für jene Befragten, denen sie gelungen ist, hieß es vielmehr, für das eigene Handeln geradezustehen und Werte neu zu bekräftigen, allerdings auch, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.
Schuldgefühle nutzen
Scham und Schuld – die emotionalen Leitmotive der Selbstverurteilung – fühlen sich oft lähmend an, haben aber durchaus einen Sinn: Sie sind soziale Gefühle und fördern Rücksicht und Fürsorge. Sie können der Motor sein für verantwortungsvolles Handeln. Das unterstreicht eine Metaanalyse des Sozialpsychologen Colin Wayne Leach von der Columbia University, die 2015 im Fachblatt »Personality and Social Psychology Bulletin« erschienen ist. Das Team um Leach wertete 90 Studien mit mehr als 12 000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus und fand heraus: Wer Schuld oder Scham empfindet, neigt eher dazu, eine Sache wiedergutmachen zu wollen. Ob die Gefühle zu Rückzug führen oder zu konstruktivem Handeln, hängt demnach stark davon ab, ob man den Fehltritt als reparabel ansieht. Wer etwa noch die Chance hat, sich zu entschuldigen oder etwas nachzuholen, nutzt beschämende Emotionen häufiger als Antrieb, Gutes zu tun. Scheint der Schaden hingegen endgültig – etwa weil die betroffene Person nicht mehr erreichbar ist oder die Gelegenheit unwiederbringlich verpasst wurde –, schlägt vor allem Scham oft in Vermeidung um.
Für den Alltag heißt das: Wer sich für sein Handeln schämt, sollte prüfen, was sich noch wiedergutmachen lässt. Und wenn wirklich nichts mehr zu ändern ist, kann es helfen, den Blick auf die Lehre für die Zukunft zu richten, statt in endlosen Selbstvorwürfen zu verharren. Entscheidend ist, ob man den Fehler als unumstößlichen Beweis für einen inneren Defekt sieht – oder als Anlass, daraus zu lernen und etwas Wertvolles daraus erwachsen zu lassen.
Übung: Das Plädoyer
Viele Menschen leiden unter Schuldgefühlen – laut einer 2021 erschienenen Studie jeder Zehnte in Deutschland. Besonders betroffen sind jene mit Depressionen, von ihnen sind es fast 40 Prozent. In der Psychotherapie gibt es daher Techniken, die genau an diesen Selbstvorwürfen ansetzen. Eine davon geht so: Versetzen Sie sich in die Rolle Ihrer eigenen Anwältin und verfassen Sie ein überzeugendes Plädoyer für Ihre Unschuld. Gehen Sie dabei auf folgende Fragen ein.
- Tragen Sie wirklich allein die Verantwortung für die Geschehnisse?
- Gab es nicht noch weitere Einflüsse – etwa andere Akteure, die Umstände, den Zufall?
- Mit wie viel Prozent würden Sie Ihren Anteil am Geschehen beziffern?
- Konnten Sie wissen, dass es so kommen würde, oder scheint das erst in der Rückschau glasklar?
- Haben Sie in böser Absicht gehandelt oder nur achtlos?
- Oder hatten Sie sogar ein hehres Ziel?
Mit dieser Übung lassen sich häufig auch irrationale Schuldgefühle gezielt hinterfragen. Sie bietet einen strukturierten, konstruktiven Rahmen, der es leichter macht, aus dem endlosen Grübeln auszusteigen und eine neue Perspektive zu gewinnen.
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