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Schule und Digitalisierung: Das digitale Klassenzimmer

Whiteboard statt Tafel, Tablet statt Heft – die ­Digitalisierung der Schulen schreitet voran. Was gilt es zu beachten, damit Kinder und Jugendliche von den neuen Medien profitieren?
Digitales Klassenzimmer

Torben Schmidt wischt über das Display seines Smartphones und öffnet die »ChatClass«-App. Auf dem Bildschirm tauchen vier verschiedene Sciencefiction-Szenen auf, gefolgt von einer Sprachnachricht. Beim Berühren des Abspielknopfes ertönt eine helle Kinderstimme: »I see a reddish image with an airfield and E.T. looks at me!« Schmidt schaut sich die Abbildungen an und trifft seine Wahl: Die Aussage bezieht sich auf Bild 3. »Correct«, leuchtet auf dem Display die Bestätigung auf. »Now it's your turn. Look at the image below and record an audio that describes what you see.« Er drückt den Aufnahme-Button und spricht: »I see a strange-looking planet, and there's a spaceship flying around.«

Wenn er die App das nächste Mal startet, wird er sehen, ob er sich so ausgedrückt hat, dass seine Mitlerner seine Beschreibung korrekt zuordnen konnten. »Es motiviert, zu erfahren, dass man tatsächlich verstanden wurde«, erklärt Schmidt die Idee dahinter. Er ist Anglistikprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg und war an der Entwicklung der Sprach-App beteiligt. Sie soll zum Sprechen außerhalb des regulären Unterrichts anregen – ein Beispiel aus der wachsenden Anzahl an Anwendungssoftwares, die speziell für den Schulbereich programmiert wurden.

Computergestützte Lehrmethoden eröffnen viele neue Möglichkeiten. In Zeiten von Corona-Pandemie und Distanzunterricht stellt sich einmal mehr die Frage, wie Schülerinnen und Schüler künftig lernen sollten. Publikumszeitschriften künden schon von einer »digitalen Revolution im Klassenzimmer« (»Focus«) oder rufen das »Ende der Kreidezeit« aus (»Die Zeit«). Kritiker erfüllt diese Vorstellung mit Unbehagen: Sie befürchten, dass wir wichtige Kulturtechniken wie das Schreiben mit der Hand auf dem ­Altar einer neuen Mode opfern und dass uns diese Entwicklung langfristig eher dümmer als klüger macht.

Ist das der Beginn eines Kulturkampfes »digital gegen analog« an den Schulen? Wissenschaftliche Studien zeigen, dass digitale Lehrmittel durchaus zu einem größeren Lernerfolg führen können. Allerdings treten die positiven Effekte nur ein, wenn die Angebote pädagogisch sorgfältig entwickelt sind und an der richtigen Stelle eingesetzt werden. Experten sehen in ihnen daher nicht einen Ersatz für althergebrachte Unterrichtsmethoden, sondern eher eine Ergänzung des didaktischen Werkzeugkastens. Welches Tool im jeweiligen Lehrkontext am geeignetsten ist, hängt dabei vom konkreten Lernziel ab. So wie man mit einem Hammer kein Brett zuschneiden kann, eignet sich ein Programm oder eine App eben nur für bestimmte Zwecke.

Wie dieses Nebeneinander von analog und digital aussehen kann, lässt sich an der Integrierten Gesamtschule im niedersächsischen Lengede beobachten. Seit 2020 darf sie sich mit dem Titel »Smart School« schmücken. Der IT-Branchenverband Bitkom verleiht ihn an Bildungsstätten, die sich durch eine überdurchschnitt­liche digitale Infrastruktur und dazu passende didaktische Konzepte auszeichnen. Die 1050 Schülerinnen und Schüler der IGS packen morgens nicht nur Schulbücher und Stifte, sondern auch Tablet oder Laptop in ihren Ranzen. In allen Klassenzimmern steht ein großer Flachbildschirm, der sich drahtlos mit den Computern verbinden lässt.

Das bedeutet aber nicht, dass jede Schulstunde mit einem »Jetzt holt einmal die Laptops raus« beginnt. »Ob und wann die Geräte genutzt werden, hängt vom Unterrichtsgegenstand ab«, betont die didaktische Leiterin Kerstin Jasper. »Es kann beispielsweise sein, dass wir ganz klassisch auf Papier das Finden und Wiedergeben wesentlicher Informationen aus Texten üben und ich dann irgendwann sage: Jetzt wiederholen wir noch einmal die Groß- und Kleinschreibung; nehmt dazu euren Computer und ruft die ›Anton‹-App auf.«

Individualisierung leicht gemacht

Sie könnte jetzt natürlich auch Aufgabenblätter verteilen und bearbeiten lassen. Die App bietet aber einen Vorteil: Sie meldet dem Übenden direkt zurück, ob die Eingabe richtig oder falsch ist. Der Aufruf erfolgt über einen Link, den die Lehrerin in »itslearning« eingestellt hat, das von der Gesamtschule genutzte computer­gestützte Lernmanagementsystem. Darüber haben die Schülerinnen und Schüler stets Zugriff auf die Materialien zum momentan behandelten Thema. Jasper nutzt die Plattform außerdem, um Aufgaben individuell nach Leistungsstand zu vergeben. Wenn sie etwa bemerkt, dass sich eines der Kinder mit bestimmten Rechtschreibregeln schwertut, passt sie den Link zur Anton-App so an, dass das Programm genau diese Schwächen trainiert. »Wir setzen digitale Werkzeuge immer dann ein, wenn sie einen Mehrwert bieten«, betont der Leiter der Schule, Jan-Peter Braun. Bleibt die Frage: Wann tun sie das?

Zunächst einmal gilt für digitale Lehrmittel dieselbe Grundregel wie für analoge: Sie dürfen nicht kognitiv überlasten. So weiß man bereits seit Jahrzehnten, dass Bilder im Zusammenspiel mit dem Text das Verständnis eines Sachverhalts erleichtern. Dazu sollten sie aber an der passenden Stelle stehen – beim Hin-und-her-Blättern müssten die Nutzer sonst zu viele Infor­mationen im Gedächtnis behalten. »Gut gestaltete Unterrichtsmaterialien berücksichtigen solche Kriterien«, erklärt Katharina Scheiter, Professorin für Empirische Lehr-Lernforschung in Tübingen.

Feedback stellte sich als einer der wichtigsten lernförder­lichen Faktoren heraus. Ein schlichtes ­»richtig« oder »falsch« nützt allerdings relativ wenig

Die Wissenschaftlerin hat zusammen mit Kolleginnen der Universität Hannover und dem Schulbuchverlag Schroedel-Westermann ein digitales Lehrbuch für den Chemieunterricht entwickelt. Das »eChemBook« orientiert sich an aktuellen Erkenntnissen zur schulischen Wissensvermittlung. »Das beginnt etwa bei der Frage, wie ein Text formuliert sein sollte, damit er für die Schülerinnen und Schüler möglichst leicht verständlich ist«, sagt sie. Die Beschreibungen in dem ­elektronischen Lehrwerk bestehen aus kurzen Sätzen. Passivformulierungen sind selten; zentrale Informa­tionen sind fett hervorgehoben. Aber das sind alles ­Dinge, die auch bei neueren gedruckten Chemieschulbüchern Beachtung finden.

An anderen Punkten bietet das eChemBook Mög­lich­keiten, die über die seines analogen Pendants hi­n­aus­­gehen. So können sich die Schüler Filme von Ex­pe­rimen­ten ansehen und werden aufgefordert, das Gesehene zu beschreiben und zu interpretieren. Zu beiden Aufgaben gibt es per Mausklick abgestufte Hilfsangebote. Dort werden die Jugendlichen etwa darauf hingewiesen, auf welche Phänomene sie achten sollten, oder sie erhalten Denkanstöße, die ihnen die Deutung erleichtern. Ein Vorteil ist das individuelle Lerntempo: Man kann im ­Video beliebig oft vor- und zurückspringen und sich auch zu Hause noch einmal mit dem Experiment beschäftigen. Diese Bausteine ersetzen zwar keine ­»echten« Schülerversuche, begleiten sie aber sinnvoll.

Ein anderes Beispiel sind interaktive Grafiken, mit denen sich Zusammenhänge simulieren lassen. In der Lerneinheit »Gasdruck« können die Jugendlichen etwa mit Hilfe zweier Schieberegler die Größe eines Behältnisses und die Anzahl der in ihm enthaltenen Teilchen einstellen. Auf einem virtuellen Messinstrument erkennen sie, wie durch diese Änderungen der Druck im Gefäß steigt oder sinkt.

Lernen nach dem Entdeckerprinzip

Derartige Simulationen ermöglichen ein »entdeckendes Lernen«. Die Schüler erarbeiten sich die Regeln dabei selbstständig, indem sie ausprobieren und etwa erkennen: Je mehr Teilchen ich hineingebe, desto größer wird der Druck. Das Entdeckerprinzip kann einen Lernvorteil bringen, wie bereits 2010 eine Auswertung von 164 Studien ergab, in denen allerdings großteils noch analog gelernt wurde. Der Vorteil zeigt sich aber nur, wenn die Kinder oder Jugendlichen beim Entdecken geführt oder unterstützt werden, wie die US-amerikanischen Kognitionspsychologen Louis Alfieri und Patricia Brooks betonen. Bei der Verwendung des eChemBook etwa brauchen die Schülerinnen und Schüler mindestens den Hinweis, immer nur einen Regler zu verstellen, bevor sie das Ergebnis der Messung notieren. »Völlig ohne Anleitung sind viele überfordert«, meint Katharina Scheiter. Woher sollen sie auch wissen, wie man eine Hypothese entwickelt und überprüft? Wegen des erhöhten geistigen Anspruchs kommen im eChemBook virtuelle Experimente daher nur zum Einsatz, wenn sie einen deutlichen Vorteil gegenüber statischen Bildern liefern.

Sprechtraining per Smartphone | Apps bieten die Möglichkeit, interaktiv zu lernen, was vor allem beim Üben außerhalb des Klassenzimmers einen Mehrwert darstellt. Das Englisch-Programm »ChatClass« schlägt im Beispiel vor, welche Wendung zu benutzen ist und welche Vokabeln eingesetzt werden können (linkes Bild). Der Chatbot analysiert die Sprachaufnahme des Lernenden, etwa die verwendeten Wörter und die Verständlichkeit der Aussprache. Sind die Kriterien erfüllt, gibt es entsprechendes Feedback (rechtes Bild).

Neu erfunden wird die Didaktik durch den technologischen Fortschritt nicht. »Viele Dinge, die guten Unterricht ausmachen, sind aber mit digitalen Medien einfacher umsetzbar«, meint Scheiter. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, bei der Lösung von Aufgaben direkt Rückmeldung zu geben, wie es auch bei der Anton-App geschieht. Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat 2009 die Ergebnisse von über 50 000 Einzelstudien zum Einfluss verschiedener Kriterien auf den Lernerfolg zusammengefasst. Feedback stellte sich dabei als einer der wichtigsten lernförderlichen Faktoren heraus. In der analogen Welt kommt dieses meist von der Lehrkraft. Doch die hat in der Regel nicht die Zeit, jeden einzelnen Schüler dranzunehmen. Hier kann der Computer einspringen. Wenn es etwa darum geht, chemische Fachbegriffe abzufragen, hilft ein automatisch ausgewerteter Lückentext. Allerdings nützt ein schlichtes »richtig« oder »falsch« relativ wenig. Gute Lehrer versuchen zu erkennen, wo es mit dem Verständnis hapert: Wieso macht jemand genau diesen Fehler? Was hat er nicht verstanden? Wie helfe ich ihm auf die Sprünge? Eine Software stößt hier schnell an ihre Grenzen.

Peerfeedback erwünscht

Noch schwieriger wird es bei Aufgaben, für die es viele richtige Lösungen gibt – wie bei einer Sprechaufgabe im Englischunterricht. Die eingangs erwähnte »ChatClass«-App soll an solchen Stellen unter anderem auf Peerfeedback setzen: Die Lernenden bewerten sich gegenseitig, weniger mit Fokus auf sprachliche Korrektheit, sondern nach Verständlichkeit. Daneben hat das Programm eine automatische Auswertung integriert. »Der Algorithmus analysiert zum Beispiel, ob die Jugendlichen in ihren Antworten die von der App vorgeschlagenen Formu­lierungen verwendet haben«, erklärt der Lüneburger Didaktiker Torben Schmidt (siehe »Sprechtraining per Smartphone«). Dass solche Ansätze beim Erlernen einer Fremdsprache Früchte tragen können, zeigt eine Studie des Tübinger Computerlinguisten ­Det­mar Meurers. Er hat zusammen mit Kolleginnen und Kol­legen sowie dem Diesterweg-Verlag ein inter­net­­ba­sier­tes Arbeitsheft für den Englischunterricht entwickelt. Die Übungen darin stammen aus dem Schulbuch »Camden Town«, das in Baden-Württemberg die 7. Klas­­sen an Gymnasien verwenden.

Anders als sein analoges Pendant gibt das »FeedBook« Schülerinnen und Schülern bei der Bearbeitung der Aufgaben direkt ein individuelles Feedback – und zwar in ähnlicher Form, wie es die Lehrkraft tun würde. Bildet der Nutzer beispielsweise die erste Steigerungsform von »expensive« (»teuer«), indem er einfach ein »r« anhängt, dann belehrt ihn die Software, dass drei­silbige Adjektive im Englischen mit »more« und »most« gesteigert werden. Sogar freie Texte kann der Algorithmus interpretieren. Bei Leseverständnis-Aufgaben meldet er etwa zurück, dass in der Antwort wichtige Informationen fehlen und in welchem Absatz der Vorlage sie zu finden sind. Pädagogen bezeichnen diese Form der Hilfestellung als »Scaffolding«: Die Hinweise bilden eine Art Gerüst (englisch: scaffold), das die Lernenden je nach Kenntnisstand stützt, ohne ihnen die fertige Lösung auf dem Tablet(t) zu präsentieren.

Gute Apps beschleunigen den Lernfortschritt

Zur Evaluierung führten die Wissenschaftler in den Jahren 2018 und 2019 einen Feldversuch durch. Zehn Klassen an vier Gymnasien nahmen daran teil, insgesamt mehr als 200 Siebtklässler. Jene, die durch das FeedBook qualifizierte Rückmeldungen und Hilfestellungen bekamen, zeigten einen erheblich schnelleren Lernfortschritt. Das passt zu einer Metaanalyse der Technischen Universität München von 2020: Sie bescheinigte Angeboten mit automatisiertem individuellem Feedback auch in Mathematik und Naturwissenschaft Vorteile gegenüber analogen Lehrmitteln. Das Forscherteam hatte darin 92 Studien ausgewertet, in denen der Lernerfolg beim Einsatz digitaler Tools im Vergleich zu herkömmlichem Unterricht erhoben worden war.

»Natürlich ersetzen diese Algorithmen keine Lehrkraft«, betont Andreas Lachner, der an der Universität Tübingen eine Professur mit dem Schwerpunkt »Lehren und Lernen mit digitalen Medien« bekleidet. »Sie können zum Beispiel nicht die höheren Qualitäten eines Textes analysieren. Gerade in Selbstlernphasen haben sie aber ein großes Potenzial.« »FeedBook« und »eChemBook« sind zwei Beispiele für Lehrmaterialien, die dieses zumindest an einigen Stellen konsequent nutzen. Sie zu entwickeln, war allerdings enorm aufwändig. So wird »eChemBook« momentan nicht mehr um weitere Lern­einheiten ergänzt.

»Natürlich können ­Algorithmen keine Lehrkraft ersetzen. Gerade in ­Selbstlernphasen haben sie aber ein großes Potenzial«
Andreas Lachner, Professor »Lehren und Lernen mit digitalen Medien« an der Universität Tübingen

»Der Verlag war erstaunt, wie lange es dauert, Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen«, sagt Ka­tha­rina Scheiter. »Dabei sind die Elemente, die wir integriert haben, aus technischer Sicht nicht einmal besonders fancy – da könnte man sich noch ganz andere Dinge ausdenken.« Auch die Arbeit an »FeedBook« habe viel mehr Zeit verschlungen als ursprünglich geplant, schreibt Meurers in seiner Veröffentlichung der Schulstudie.

Zurzeit seien die digitalen Angebote der Verlage oft kaum mehr als ein Eins-zu-eins-Abklatsch dessen, was ohnehin in analoger Form schon existiere, beklagt Torben Schmidt. Andreas Lachner betont hingegen die positive Entwicklung: »Es gibt immer mehr gut gemachte digi­tale Materialien. Ich glaube, da ändert sich momentan etwas.« Dass dies zu begrüßen wäre, darüber sind sich Lernforscher und Didaktiker einig. Denn Lehrwerke nur im PDF-Format anzubieten und vielleicht um ein paar Hyperlinks zu ergänzen, ist mit Sicherheit keine befriedigende Lösung.

In diese Richtung deutet auch die Metastudie der Technischen Universität München: Am schlechtesten kamen in ihr so genannte Hypermedia-Systeme weg – das sind Dokumente, die sich von den analogen Medien hauptsächlich darin unterscheiden, dass man (ähnlich wie bei Wikipedia) über Links in ihnen hin- und herspringen kann.

ABC auf dem Schirm | Das Schreiben mit dem Stift auf rutschigem Tablet ist schwieriger und will geübt sein. Ob der »Pencil« daher schon in der Grundschule den Füller ersetzen kann, ist unter Bildungsforschern noch umstritten.

Digitale Schulbücher mögen den Ranzen etwas ­leichter machen. Wenn sie die technologischen Zusatzmöglichkeiten nicht nutzen, haben sie aber wohl mehr Nachteile als Vorteile. Es gibt inzwischen zahlreiche Hinweise darauf, dass wir komplexe Informationen weniger gut verstehen, wenn wir sie auf einem Bildschirm gelesen haben statt auf Papier. Eine Auswertung von 33 wissenschaftlichen Untersuchungen hat dies 2019 wieder bestätigt. Vor allem bei Sachtexten zeigen sich physische Bücher oder Hefte demnach überlegen. Zum einen prägen wir uns die Inhalte auf Papier besser ein. Zum anderen fällt es bei gedruckten Texten leichter, ­Zusammenhänge herzustellen, wie eine Schulstudie aus Norwegen ergab. Die Zehntklässler lasen hierbei einen längeren Artikel. Anschließend sollten sie dazu Fragen beantworten, während ihnen der Beitrag weiterhin vorlag; sie konnten Details also nochmals nachlesen. Dennoch schnitt die Computergruppe deutlich schlechter ab als die der Printleser.

Mögliche Erklärungen dafür gibt es viele. So scheinen wir uns auf Papier besser orientieren zu können – wir speichern nicht nur die gelesene Information ab, sondern auch, wo sie gestanden hat, oben oder ­unten auf der Seite, weiter vorne oder hinten im Buch. Auf dem Computerbildschirm ändert sich die Position eines Wortes auf dem Display beim Scrollen und auf dem E-Book mit jeder Änderung der Schriftgröße. Während des Blätterns fühlen wir nicht den dicken Stoß an Seiten, die wir schon gelesen haben, oder den dünneren Teil, der noch vor uns liegt. Möglicherweise helfen uns diese visuellen und haptischen Informationen dabei, ­Inhalte in einen Zusammenhang zu bringen. Dazu kommen vermutlich noch andere Effekte, spekulieren die Autoren der Studie. So assoziieren viele einen Ausdruck ­vielleicht eher mit Arbeit und lesen ihn daher konzen­trierter.

Wann handschriftliche Notizen besser sind

Auch beim Schreiben ist Papier dem Computer möglicherweise überlegen: Eine viel zitierte Studie, die das nahelegt, stammt von der US-amerikanischen Psychologin Pam Mueller und ihrem Kollegen Daniel Oppenheimer. Sie spielten Studierenden einen aufgezeichneten Vortrag vor. Die Probanden durften sich während des Videos Notizen machen – einige auf dem Laptop, andere per Hand. Letzteren fiel es danach leichter, Verständnisfragen zum Inhalt korrekt zu beantworten. Das hing aber wohl weniger mit dem Medium zusammen als mit der Schreibgeschwindigkeit: Etwas handschriftlich zu Papier zu bringen, dauert länger. Daher neigt man dazu, das Gehörte stärker zusammenzufassen und nicht einfach wortwörtlich zu protokollieren. Die Stift-Gruppe setzte sich also schon beim Schreiben intensiver mit dem Redeinhalt auseinander.

Eine im Mai 2020 erschienene Metaanalyse bescheinigte den von Hand verfassten Notizen ebenfalls Vorteile. Allerdings stammen die darin analysierten Daten wiede­rum sämtlich von Studierenden. Ob sich die Resultate auf Kinder übertragen lassen, ist nicht sicher. Im Vergleich zum Tippen verlangt die exakte Bewegung des Stifts auf dem Papier gute feinmotorische Fähigkeiten. Grundschulkinder, die damit große Probleme haben, sind oft überfordert, wenn sie sich zugleich noch auf Formulierung und Satzbau konzentrieren sollen. Gerade ihnen könnte der Laptop also durchaus dabei helfen, schon früh eigene Texte zu verfassen.

Dem gegenüber steht jedoch die These, dass sich beim Schreibenlernen mit Stift und Papier die Buchstabenformen besser einprägen. Sie hinterlassen eine »motorische Spur« im Gedächtnis, die für das geschriebene Zeichen spezifisch ist (siehe auch »Embodiment und Digitalisierung – ein Widerspruch?«). Beim Tippen ist dagegen die Handbewegung für jeden einzelnen Buchstaben mehr oder weniger identisch. Aber wirkt sich das wirklich messbar aus? Eine Studie der Universität Ulm aus dem Jahr 2020 kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Darin untersuchte der Psychologe Markus Kiefer zusammen mit seiner Kollegin Petra Arndt den Einfluss des Schreibwerkzeugs bei Vorschulkindern. Zwar war die Bleistiftgruppe nach dem siebenwöchigen Training flotter darin, Buchstaben korrekt zu erkennen. Bei Lese- oder Schreibübungen schnitt sie jedoch nicht besser ab als jene, die hauptsächlich an der Tastatur geübt hatte.

Embodiment und Digitalisierung – ein Widerspruch?

Lernen ist nicht ausschließlich Kopfsache. Schon seit den 1980er Jahren mehren sich Hinweise darauf, wie eng geistige und körperliche Zustände miteinander verknüpft sind. Kognitionspsychologen haben dafür das Wort »Embodiment« geprägt, zu Deutsch »Verkörperung«. Beispielsweise sollen Kinder sich während des Schreibens mit der Hand nicht nur die Form der Buchstaben besser einprägen, sondern auch die Laute, für welche diese stehen. Später, beim Erlernen einer Fremdsprache, ist es leichter, sich Vokabeln zu merken, wenn man diese mit bestimmten Gesten verknüpft.

Selbst viele mathematische Konzepte werden durch körperliche Erfahrungen besser nachvollziehbar. Zudem spielt der Körpereinsatz in der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden eine wichtige Rolle: Wer beim Reden gestikuliert, unterstützt das Verständnis bei den Zuhörern und ordnet zugleich seine eigenen Gedanken.

Wissenschaftler wie Korbinian Moeller, Professor für mathematische Kognition an der britischen Loughborough University, versuchen inzwischen, solche Embodiment-Überlegungen auch beim digitalen Lernen zu berücksichtigen. So hat sein Team beispielsweise eine App für Kinder entwickelt, die spielerisch das Zählen und Rechnen mit den Fingern anregt und das Zahlenverständnis der Kleinen verbessern soll. Auch fürs Vokabellernen gibt es mittlerweile Softwareprogramme, die Fingergesten integrieren. An junge Englisch- und Französisch-Übende richtet sich etwa die App »Cabuu«, die 2019 mit dem Comenius-Siegel ausgezeichnet wurde.

Eine weitere Beobachtung überraschte das Forscherteam: Kinder, die wochenlang mit einem Eingabestift auf dem Touchscreen geschrieben hatten, waren der Tastaturgruppe sowohl beim Lesen als auch im Schriftlichen unterlegen. Möglicherweise benötigt das Buchstabenmalen auf der rutschigen Glasoberfläche einfach zu viel motorische Kontrolle, spekulieren Arndt und Kiefer. Ihr Fazit: »Zumindest beim aktuellen Stand der Technologie scheint das Schreiben mit dem digitalen Stift auf dem Touchscreen am ungünstigsten zu sein.«

Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein

An der IGS Lengede nutzen die Schüler Füller und ­Tastatur abwechselnd. Winkel konstruieren sie mal mit Bleistift und Geodreieck, mal mit der Geometrie-Software GeoGebra. »Ich frage mich bei der Stunden­planung immer, wann der Einsatz eines digitalen Tools den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nutzt und wann nicht«, sagt Kerstin Jasper. »Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein!« Grundsätzlich sieht sie in ihr jedoch ­viele Vorzüge: So haben die Kinder jederzeit Zugriff auf die behandelten Unterrichtseinheiten, selbst wenn sie krank waren. Zudem erleichtern viele Tools die gemeinsame Bearbeitung von Aufgaben in Kleingruppen. Außerdem erlauben sie oft eine differenzier­tere Einschätzung des individuellen Leistungsstands und machen es der Lehrkraft einfacher, auf Leistungs­unterschiede zu reagieren.

Motivierender sind die digitalen Lehrmittel dagegen wohl nur kurzfristig. »Das ist ein Mythos«, konstatiert der Tübinger Erziehungswissenschaftler Andreas Lachner. »Es gibt zwar einen Neuigkeitseffekt; der verpufft aber schnell.« Jasper bestätigt dies: »Lernen ist harte ­Arbeit, auch auf digitalen Geräten.« Dass Computer ­ablenken und zum Herumspielen verlocken, will sie nicht leugnen: »Das lässt sich nicht ganz vermeiden. Dann liegt es an mir zu sagen: Jetzt macht eure Laptops zu, oder legt die Tablets umgedreht auf den Tisch.«

Wünschen würde sich die didaktische Leiterin manchmal einen größeren Lehrmittel-Pool erprobter Digitalangebote. Allerdings entwickle sich der Markt mit rasender Geschwindigkeit weiter. Sie hält sich über Facebook und auf Twitter auf dem Laufenden. »Die sozialen Medien sind oft schneller, aktueller und direkter als manche analoge Fortbildung.«

Andreas Lachner dagegen fordert systematische Schulungen für sämtliche Lehrkräfte. So werden Lehrende im Digitalzeitalter zunächst selbst wieder zu Lernenden. »Momentan gibt es vor allem reine Technikfortbildungen, die die Arbeit mit dem Whiteboard oder einer bestimmten App erklären«, legt der Erziehungswissenschaftlern dar. »Wir brauchen mehr Angebote, die zeigen, wie sich diese neuen technologischen Möglichkeiten aus fachdidaktischer Perspektive sinnvoll mit dem Unterricht verzahnen lassen.« Denn bei aller Digitalisierung sollte nicht vergessen werden: Auch in Zukunft spielen die Lehrkraft und ihre Gestaltung der Schulstunde die entscheidende Rolle bei der Wissensvermittlung.

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